Auf der Flucht

Sergej Rachmaninows Zweite Symphonie

Sergej Rachmaninow auf dem Landsitz Iwanowka, 1910
(Foto: Staatlicher Musikverlag, Moskau)

Moskau war kein guter Ort zum Komponieren. Sergej Rachmaninow hatte sich 1904 als Kapellmeister am Bolschoitheater verdingt, er fand rasch Anerkennung und Bewunderung mit seinen Operndirigaten, aber auch im symphonischen Repertoire, gerühmt für die unnachgiebige rhythmische Strenge seiner Interpretationen, seine Akkuratesse bei der Erarbeitung der Partituren, seine suggestive Ausstrahlung auf das Orchester und das Publikum. Gewiss wäre ihm eine große Dirigentenkarriere möglich gewesen, aber Rachmaninow verstand sich nicht als Interpret, zumindest nicht in erster Linie, sondern als schöpferischer Künstler. Muße für die kreative Arbeit, die ihm zeitlebens nicht leicht von der Hand ging, konnte er neben seinen Pultverpflichtungen aber nicht hinreichend finden. Zumal ihn obendrein die politische Lage im Russland jener Jahre belastete: Bauern und Arbeiter, Bürgerliche und selbst liberale Adelige begehrten gegen die autoritäre Herrschaft von Zar Nikolaus II. auf, die Bevölkerung litt Hunger, in den Industriezentren stieg die Arbeitslosigkeit. Doch auch die Russische Revolution von 1905, die immerhin erste Reformen ermöglichte, brachte keine einschneidende Besserung. Der sensible Rachmaninow, der mehrere Resolutionen zugunsten bürgerlicher Grundrechte mitunterzeichnet hatte, fühlte sich durch diese Entwicklungen tief beunruhigt. Im Juni 1906 fasste er den Entschluss, seine Position am Bolschoi aufzugeben und nach Dresden zu ziehen.

Dresdner Idylle

In der Sidonienstraße hatte er für seine Frau, seine Tochter und sich ein Haus gemietet, sechs Zimmer, Garten mit altem Baumbestand – die besten Bedingungen, um zur Ruhe zu finden, unbehelligt und inkognito. »Wir leben hier still und bescheiden«, berichtete er seinen Freunden in der Heimat. »Wir sehen keinen und kennen niemand. Und auch selbst lassen wir uns nirgends sehen und wollen auch niemanden kennenlernen.« Nur dann und wann zog es ihn in die Staatsoper, wo er »in größter Aufregung« die Salome von Richard Strauss hörte: Die Instrumentierung dieser Oper sei unglaublich, urteilte Rachmaninow. (Der so gelobte Kollege zeigte sich dagegen weniger generös, wenn es um Rachmaninows Werke ging; Strauss’ Schmähwort von der »gefühlvollen Jauche« haftete der Musik des Russen jahrzehntelang wie ein Stigma an.) Zur Schaffenskraft aber konnte Rachmaninow auch in Dresden nicht leicht zurückkehren, zumal er sich ausgerechnet vorgenommen hatte, eine neue Symphonie zu komponieren. Dabei musste er zunächst das Trauma überwinden, das er mit seinem Gattungserstling erlitten hatte: Damals, im März 1897, war die Uraufführung seiner Ersten zu einem Debakel sondergleichen geraten; das Werk war unzulänglich einstudiert worden, die Hörer lachten über den jungen Komponisten, der daraufhin fluchtartig den Konzertsaal verließ, und die Granden der Musikkritik bezichtigten ihn der Talentlosigkeit. Jahrelang konnte Rachmaninow nicht mehr arbeiten, bis eine psychotherapeutische Behandlung mit Hypnose-Sitzungen ihm Besserung brachte.

Kampf gegen die Angst

All das mochte ihm nun wieder durch den Kopf gehen, als er in Dresden Notenpapier und Bleistift zur Hand nahm: Er beklagte »ein Gefühl der Ängstlichkeit, Apathie und des Widerwillens gegenüber dem, was ich in meiner Arbeit getan habe«. Dennoch gelang es Rachmaninow, das Particell der Zweiten Symphonie bis zum April 1907 abzuschließen. Die Instrumentierung nahm er dann größtenteils in den Sommermonaten vor, die er mit der Familie auf dem Landgut Iwanowka in der Oka-Don-Ebene verbrachte, einer weiten Steppenlandschaft, die er liebte und die entspannend auf ihn wirkte. Am 8. Februar 1908 (26. Januar) konnte Rachmaninow in St. Petersburg das Werk selbst aus der Taufe heben. Und diesmal fielen die Rezensionen durchweg positiv aus, das Glinka-Komitee belobigte ihn gar mit dem Ersten Preis für die beste Novität der Saison: vor Alexander Skrjabin und seinem Poème de l’extase! Gerühmt wurde vor allem der melodische Reichtum der e-Moll-Symphonie op. 27, deren Kantilenen in weiten Bögen gespannt sind, sich unendlich aussingen, immer wieder neu beatmet und beseelt, und sich schließlich zu monumentalen Steigerungen auftürmen.

Erfolg als Symphoniker

Nicht das gattungsspezifische Kontrastprinzip bestimmt den Verlauf, sondern der Gedanke der Ableitung, Aufspaltung und Fortentwicklung des thematischen Materials. Elegisch ist der Charakter des Kopfsatzes und vor allem des Adagios mit seinem schwermütigen Klarinettensolo, wobei der satte Streicherklang, der durchgängig vorherrscht, diesen Eindruck zusätzlich verstärkt. Während sich im Finale ein gewisser theatralischer Pomp bemerkbar macht, eine Vorliebe für den Effekt, die an entsprechende Vorbilder bei Tschaikowsky erinnert, ist Rachmaninow mit dem russisch inspirierten Scherzo an zweiter Stelle der Satzfolge ein veritabler Wurf gelungen: Ganz aus der Bewegungsenergie erfunden, offenbart es einen Hang zum Grotesken, der für das Spätwerk stilbildend wirken sollte. Rachmaninow hatte den Bannfluch, der auf ihm als Symphoniker lastete, endgültig gebrochen.

Susanne Stähr

 

1909: Die erste Seite des Programmheftes zum Konzert, in dem die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Arthur Nikisch erstmals Sergej Rachmaninows Zweite Symphonie aufführten. Das königliche Schloss in Dresden zur Zeit der Entstehung von Rachmaninows Zweiter Symphonie
(Foto: Wikimedia Commons/Brück&Sohn Kunstverlag)