Gestaltete Zukunft

Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko

24. August 2019: Beethovens Neunte Symphonie mit den Berliner Philharmonikern und Kirill Petrenko am Brandenburger Tor
(Foto: Monika Rittershaus)

Für die Berliner Philharmoniker und ihre Chefdirigenten ist ein Konzert zur Saisoneröffnung immer auch eine Standortbestimmung. Programmlinien der bisherigen ­Zusammenarbeit werden reflektiert, künftige Schwerpunkte zeichnen sich ab. So ist es auch in diesem Jahr, wenn Kirill Petrenko Werke von Brahms und Schönberg dirigiert – ein Repertoire, das in vielfältige Pläne und Konzepte eingebettet ist.

Vor genau einem Jahr eröffnete Kirill Petrenko seine erste Saison als Chefdirigent und künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker mit einem sprichwörtlichen Paukenschlag – Beethovens Neunte war zu erleben, die berühmteste aller Symphonien, erst in der Philharmonie und einen Tag später unter freiem Himmel vor dem Brandenburger Tor. »In der Neunten Symphonie«, schreibt der Dirigent im Vorwort zur jetzt erscheinenden CD-Edition, »steckt alles, was im menschlichen Wesen an Großartigem wie an Bedrohlichem wohnt. Wenn man einmal fernen Welten ein ehrliches Porträt des Menschen vermitteln wollte, müsste man ihnen dieses Werk schicken: Das Dämonische und das Kämpferische sind in ihr ebenso enthalten wie tief empfundene Liebe, sie umfasst die humanistische und die zerstörerische Natur des Menschen bis ins Äußerste. Es war mir völlig klar, dass ich meine Zeit als künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker nicht anders als mit diesem Stück beginnen könnte.«

Geschichtsbewusste Komponisten

Beethovens Neunte Symphonie als Nukleus des klassisch-romantischen Repertoires, wie es auch die legendären Chefdirigenten Hans von Bülow, Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan gepflegt hätten, werde – so Kirill Petrenko, als er das Programm seiner Antrittssaison ankündigte – »weiterhin eine wesentliche Achse unserer Arbeit bilden«: die Grundlage, auf der alles basiert und von der aus neugierige Streifzüge in die Musikwelt unternommen werden. In dieser Ankündigung nannte er im selben Atemzug Johannes Brahms und Felix Mendelssohn. Insofern ist diese Saisoneröffnung eine folgerichtige Fortführung des Begonnenen. Wurde die Neunte kombiniert mit den Symphonischen Stücken aus »Lulu« von Alban Berg, geht zum Auftakt der Saison 2020/21 der Vierten von Brahms ein frühes Werk des Berg-Lehrers Arnold Schönberg voraus. Und während zwischen Berg und Beethoven viele Bezüge auszumachen sind, baut Schönbergs Musik unmittelbar auf Brahms auf und verbindet dessen reflektiertes Formempfinden mit der Leitmotivtechnik Wagners.

Beide Komponisten des heutigen Konzerts verstanden ihr Schaffen in einem großen musikhistorischen Zusammenhang. Brahms verehrte Johann Sebastian Bach, konnte das Wohltemperierte Klavier auswendig und erwartete jeden neuen Band der Bach-Gesamtausgabe mit Ungeduld. Er begegnete Beethoven mit unermesslichem Respekt und setzte sich nachdrücklich für die Veröffentlichung von unbekannten Werken Franz Schuberts ein. Auch Schönberg dachte in solchen epochenübergreifenden Kontinuitäten, nicht zuletzt in seiner Hoffnung, mit der Erfindung der Zwölftontechnik der deutschen Musik »die Vorherrschaft für die nächsten 100 Jahre« gesichert zu haben.

Mendelssohn gehört ebenfalls in diese Linie geschichtsbewusster Komponisten, wie man schon an seiner (Wieder-)Entdeckung von Bachs Matthäuspassion und an seinen eigenen, von barocken Vorbildern inspirierten Oratorien erkennen kann. Seine Erste Symphonie steht Anfang September im Konzertkalender der Berliner Philharmoniker und ihres Chefdirigenten. Geschrieben von einem 15-Jährigen, ist sie ein veritabler Geniestreich, in dem die Vorbilder Mozart und Beethoven aufscheinen und der doch ganz nach Mendelssohn klingt.

Aber nicht nur historische Erwägungen sind es, die alle diese Werke programmatisch miteinander verbinden. Vor allem weisen sie über die bloßen Töne hinaus, drängen zu einem Ausdruck jenseits von Formmodellen und Harmonielehre, entfalten sich an der Grenze von Musik und Sprache: Beethoven und Berg schreiben symphonische Musik, die das gesungene Wort einbezieht, Schönbergs Verklärte Nacht ist inspiriert von einem Gedicht; allein Brahms verzichtet auf eine semantische Ebene.

Musik und Menschen in Zeiten des Umbruchs

Die zurückliegende Saison 2019/20 musste aufgrund der Corona-Pandemie zunächst abgebrochen werden und ging dann ganz andere Pfade als geplant. Manche der von Kirill Petrenko vorgesehenen inhaltlichen Akzente waren bereits zum Vorschein gekommen. Neben der schon genannten Interpretation klassisch-romantischer Werke der deutsch-österreichischen Musiziertradition galt ein Augenmerk zu Unrecht vernachlässigten Komponisten wie Josef Suk. Weitere Schwerpunkte beleuchteten die russische Musik, das symphonische Schaffen Gustav Mahlers sowie die Musik der Moderne (kondensiert in einem Programm, das Stücke von drei Komponistengenerationen aus ein und demselben Jahrzehnt vereinte). Unvergesslich auch das Nachwuchsprojekt mit Puccinis Suor Angelica und das Silvesterkonzert mit Songs und Tänzen von Gershwin, Bernstein und Co.

Doch im März kam das große »Abgesagt«. Bei allem, was den Musikerinnen und Musikern am Herzen lag und von nun an nicht in der geplanten Form stattfinden konnte, war es besonders schmerzlich, auf Kirill Petrenkos erste Operneinstudierung mit den Berliner Philharmonikern verzichten zu müssen: Beethovens Fidelio, der szenisch bei den Osterfestspielen in Baden-Baden und konzertant in der Philharmonie Berlin aufgeführt werden sollte. In dieser Oper geht es um Zivilcourage, um ein Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit, um Widerstand selbst in vermeintlich aussichtsloser Lage, kurz gesagt: um ein »Trotzdem«. Trotzdem – das wurde für die Berliner Philharmoniker in den Wochen nach der Absage zum Leitmotiv ihres Tuns. Das Europakonzert wurde gespielt, wenn auch daheim statt in Tel Aviv und ohne Publikum im Saal – dafür mit Fernsehzuschauern auf der ganzen Welt und in der Digital Concert Hall, überall wahrgenommen als ein Signal weit über den Tag hinaus.

Wunsch nach Gemeinschaft

Viele weitere Konzerte in verschiedenen Formaten über die kreativ genutzten digitalen Kanäle folgten, darunter ein Easter@Philharmonie Festival und die Berlin Phil Series, ob mit Kammermusik, Ensemblewerken oder als Streichorchester. Für die drei von ihm geleiteten Konzerte ohne Saalpublikum wählte Kirill Petrenko Werke mit kleiner bzw. reduzierter Besetzung aus, die mit der besonderen Situation zu tun haben: Musik, in der die plötzliche Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen eine Rolle spielt, die aus Umbruchzeiten herrührt und die von Konflikten und Krisen erzählt. So ist der Aufruhr der 1920er-Jahre in Hindemiths Kammermusik Nr. 1 ebenso unüberhörbar wie in Ligetis Ramifications die titelgebenden Verästelungen eines so homogen scheinenden Ensembles in Einzelstimmen, die sich neu zu einem Geflecht zusammenfinden. In Pärts Fratres erwächst aus dem Hineinhören in kleinste Veränderungen eine besondere Kraft, in Mozarts Gran Partita äußert sich, weit über einen serenadenhaften Anlass hinaus, der Wunsch nach Gemeinschaft. Und Mahlers Vierte Symphonie schlägt ironische Töne an, um mit den Paradoxien der Welt zurande zu kommen.

Musik über das Menschsein

Aus alledem wird klar, dass die Musik mehr ist als Klänge und Rhythmus, dass bedeutende Komponisten, von sich ausgehend, über das Menschsein an sich schreiben. Das gilt für alle gute Musik, ob sie nun mit Text und Programmen versehen ist oder nicht. Exemplarisch ist das bei einem weiteren Komponisten der Fall, der in der Saison 2020/21 im Fokus stehen wird: Peter Tschaikowsky, der – wie Kirill Petrenko betont – »in seiner Musik die Gespaltenheit seiner Persönlichkeit ausgedrückt hat, seine Ängste und Wünsche Klang werden lässt und die ganze Unmöglichkeit, gegen das als übermächtig empfundene Schicksal ein glückliches Leben zu verwirklichen«. Nach der Fünften und Sechsten Symphonie ist in dieser Saison Tschaikowskys selten gespielte Oper Mazeppa vorgesehen – »ein überwältigendes Werk, das in seiner Handlung aktueller denn je ist« – und vorher noch seine Fantasie-Ouvertüre Romeo und Julia: als grandioses Beispiel für die kreative Übertragung eines Stoffes der Weltliteratur in die Weltsymphonik. So steht das Saisoneröffnungskonzert mit Schönbergs Verklärter Nacht und Brahms’ Vierter Symphonie auch sinnstiftend für das, was Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker in der Zukunft gemeinsam gestalten wollen.

Der Text ist ein Originalbeitrag von Malte Krasting für das Programmheft zum Saisoneröffnungskonzert am 28. August 2020.