»Ich will etwas erleben, wenn ich Musik höre«

Der Komponist und Dirigent Enno Poppe im Gespräch

Enno Poppe
(Foto: Harald Hoffmann)

In seinem Kopf läuft immer Musik: Enno Poppe ist einer der wichtigsten und spannendsten Komponisten unserer Zeit. Seine Musik erklingt bei den  Donaueschinger Musiktagen ebenso wie bei den Salzburger Festspielen, wird vom Ensemble intercontemporain ebenso wie vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks aufgeführt. Im Rahmen des Musikfest Berlin dirigiert er die Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker. In unserem Interview erzählt er, wie seine Musik entsteht und was er an seinen Kolleginnen Rebecca Saunders und Milica Djordjević schätzt, von denen er einige Werke mit den Akademisten vorstellt. Das Konzert wird live und kostenlos in der Digital Concert Hall übertragen.

Sie sind im Sauerland geboren und aufgewachsen, haben in Berlin und Karlsruhe studiert. Heute leben und arbeiten Sie in Berlin – ebenso wie Rebecca Saunders und Milica Djordjević. Was gibt Ihnen diese Stadt für Ihre künstlerische Arbeit?
Den Raum für Ideen! Die Stadt bietet einfach sehr viel Platz, für alles. Ich bin 1990 nach Berlin gekommen, das war eine Zeit voller unglaublicher Veränderungen.

Was treibt Sie als Komponist an?
Meine Lust auf Musik! Ich will etwas erleben, wenn ich Musik höre. Die Musik, die es schon gibt, reicht dafür manchmal nicht aus.

Also schaffen Sie ganz einfach ihre eigene Musik. Wie gehen Sie dabei vor? Gibt es Inspirationsquellen oder steht am Anfang eine Idee, die ihren Kompositionen zugrunde liegt?
Wenn es bei mir überhaupt eine Ausgangsidee gegeben haben sollte, darf man diese nie mit dem fertigen Musikstück verwechseln. Für mich ist Komponieren ein Prozess, bei dem ich von etwas ausgehe und am Ende ganz woanders lande. Bei mir existieren die Ideen nicht außerhalb der Musik, sondern in ihr und unterliegen deshalb den gleichen Prozessen des Wachstums, Steckenbleibens und Verschwindens wie alle anderen Bestandteile der Musik. Manche Stücke durchlaufen diesen Prozess und sind dann beendet. Andere Stücke bleiben auf dem Schreibtisch, weil die Ideen noch nicht abgeschlossen sind, sondern ein Potenzial haben, das ich zuerst nicht gesehen oder nicht ausgearbeitet habe.

Zusammen mit der Karajan-Akademie führen Sie auch Ihr Ensemblestück Koffer auf. Woher kommt dieser Titel?
Die Musik dieser Komposition basiert auf fünf Stücken, die alle aus meiner Oper IQ stammen. In dieser spielt der Testkoffer eine entscheidende Rolle. Zugleich dient ein Koffer als Aufbewahrungs- und Transportmittel. Nach meinen Kompositionen Schrank und Speicher ist Koffer ein drittes Stück, das sich mit Ordnungsideen beschäftigt. In ihm wird die Musik meiner Oper IQ weitergedacht, aufgefüllt, ausgedünnt und transformiert. In der Transformation ist plötzlich alles Klang, was vorher Szene war. Trotzdem ist das Opernhafte in der stark expressiven Musik immer noch enthalten.

Außerdem dirigieren Sie die Musik zweier Kolleginnen: Rebecca Saunders ist schon lange eine führende Persönlichkeit der zeitgenössischen Musik und hat im letzten Jahr den Ernst von Siemens Musikpreis erhalten. Milica Djordjević, Gewinnerin des Claudio-Abbado-Kompositionspreises, steht noch am Anfang ihrer Karriere. Was schätzen Sie an der Musik der beiden?
Ich kenne kaum jemanden, der so genau mit allen Klängen arbeitet wie Rebecca Saunders. In jedem Detail steckt Liebe und Arbeit. Das ist ein über Jahre gewachsener, ganz persönlicher Kosmos. Aber sie bleibt nicht beim Experimentieren stehen. Die Musik hat eine ungeheure Intensität, ist emotional und mitreißend. Cinnabar, das ich auch im Konzert mit der Karajan-Akademie dirigiere, war vor über zwanzig Jahren das erste Stück, das ich von Rebecca gehört habe. Ich war sofort überzeugt, dass es sich dabei um eine der originellsten und zugleich ausdrucksvollsten Stimmen der Musik der Gegenwart handelt. An Milica Djordjević, von der wir zwei Kompositionen uraufführen, bewundere ich, dass sie den Mut besitzt, Musik reine Energie sein zu lassen. Bei ihr gibt es nichts Künstliches, wenig Struktur. Die Musik springt einem direkt ins Gesicht.