Berliner Philharmoniker
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Autor*in: Nicole Restle
ca. 5 Minuten

Alte Philharmonie 1945 | Bild: Landesarchiv Berlin / Horst Stegmann

»Wir bleiben zu Hause« lautete Mitte März 2020 der Slogan für die Menschen in Deutschland. Im Angesicht der Corona-Pandemie galt es drastische Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen: Schließung der Geschäfte, Restaurants, Schulen, Museen, Theater-, Opern- und Konzerthäuser, strenge Kontaktverbote, die meisten von uns mussten im Home Office arbeiten – der plötzliche Lock-Down hat unsere gewohnte Lebenswelt stark verändert. Mittlerweile hat sich Vieles wieder gelockert, doch ein normaler Kulturbetrieb ist nach wie vor noch nicht möglich. Nach Vorgabe des Berliner Senats bleibt die Philharmonie Berlin bis 31. Juli geschlossen. Mehr als vier Monate durften die Berliner Philharmoniker bis dahin keine öffentlichen Konzerte geben. Ein in der Geschichte des Orchesters einzigartiges Ereignis.

Welt im Umbruch

Rund hundert Jahre ist es her, dass die Welt von einer ähnlich großen Pandemie heimgesucht wurde: der sogenannten »Spanischen Grippe«, die ihren Ursprung in den USA hatte und – so die Historiker - durch amerikanische Soldaten im Frühsommer 1918 nach Europa gebracht wurde. Dort waren die Menschen durch die Entbehrungen des Ersten Weltkriegs geschwächt, Soldaten wie Zivilisten. Der Kontinent befand sich gerade in einem politischen und gesellschaftlichen Umwälzungsprozess von bislang nie gekannten Ausmaß. Und trotzdem: Die Sehnsucht der Menschen nach Konzerten war groß. Während des ganzen Kriegs nahm die Konzerttätigkeit der Berliner Philharmoniker zu, da es neben den etablierten Konzertveranstaltungen viele Wohltätigkeitskonzerte gab, die u. a. zu Gunsten der Kriegswitwen und Waisen, der Kriegshilfe oder der Kriegsfürsorge stattfanden. 

Der Knappsche Rückversicherungsverband bestätigte noch im September 1917 dem philharmonischen Trompeter August Geulen, Vorsitzender der Witwen und Waisenkasse des Orchesters, dass die Lage des Fonds trotz Kursverlusten »glänzend« sei und man eine Zulage für die Witwen gewähren könne. Für die Zeit nach dem Krieg prognostizierte man einen Anstieg der Kurse und somit auch eine Erhöhung der Pensionen. Eine Fehleinschätzung! Das Orchester verlor in den Inflationsjahren 1924 das gesamte Vermögen seiner Pensionskasse. Doch im Winter 1918/19, als die zweite Welle der »Spanischen Grippe« auch in Berlin wütete, kämpften die Menschen mit ganz anderen Problemen: Der Krieg war verloren, das Deutsche Kaiserreich zerschlagen, verschiedene politische Parteien und Strömungen kämpften um eine neue Ordnung. Es gab die Novemberrevolution, den Spartakusaufstand, Generalstreiks, Lebensmittelknappheit und Kohlenot.

Schwierige Konzertbedingungen

Der neuartigen Influenza-Krankheit, die auch so viele junge Menschen dahinraffte, schenkte der Berliner Magistrat angesichts der anderen Herausforderungen eher wenig Beachtung. Während beispielsweise Dresden und Wien sogenannte »Grippeferien« verordneten und die Theater- und Konzerthäuser vorübergehend schließen ließen, griff man in Berlin nicht zu solchen Maßnahmen – zur großen Erleichterung der Konzertveranstalter. In den damaligen  Zeitungen wurde das Thema durchaus kontrovers diskutiert, beim Berichterstatter der Signale der musikalischen Welt überwog jedoch die Freude, dass »zu einer Zeit, wo wir die Tröstungen der Musik mehr nötig haben als zu irgend einer anderen, und diese letzte Zuflucht nicht auch noch durch eine polizeiliche Verfügung angesäuert wird. Freilich spüren die musikalischen Berliner noch genug von der hässlichen Grippe. Von drei Sängerinnen und Sängern sagen mindestens zwei ihr Konzert ab […] Sogar auf die Dirigenten greift die Grippe über…« (30. Oktober 1918). Auch die Konzerte der Berliner Philharmoniker waren von solchen Absagen betroffen. So musste der Dirigent Felix von Weingartner aufgrund seiner Grippeerkrankung das Eröffnungskonzert seiner siebenteiligen Konzertreihe mit dem Orchester absagen, für ihn sprang kurzfristig Arthur Nikisch, der damalige Chefdirigent der Philharmoniker, ein.

Das künstlerische Leben war damals von verschiedenen Seiten bedroht: Die Künstler kamen nicht zu ihren Auftrittsorten, weil der Reiseverkehr in den Wirren der Nachkriegszeit zusammenbrach. Es mangelte an Lokomotiven und Kohle. Einige Mutige entdeckten das Flugzeug als Fortbewegungsmittel. Durch die Kohlenot konnten die Veranstaltungsstätten nicht beheizt werden, während der Generalstreiks gab es kein elektrisches Licht und die öffentlichen Verkehrsmittel fielen aus. Nicht zuletzt stand in dieser politischen Unruhezeit das gesamte bürgerliche Konzertwesen zur Disposition. Doch wie man andererseits aus der Berichterstattung erfährt, gingen die Berlinerinnen und Berliner weiterhin gerne in Konzerte. »So verzweifelt es einen auch zuweilen, besonders nach der Lektüre der Tageszeitungen, Deutschlands und Österreichs politische Lage vorkommen mag, eins steht fest: der musikalischen Unternehmungslust hat selbst die Revolution mit ihrem fürchterlichen Spartacus-Unfug noch nicht den Todesstoss versetzen können« (Signale vom Jan 1919. Und so ging auch das Konzertleben im Krisenwinter 1918/19 für die Berliner Philharmoniker weiter – wenn auch unter erschwerten Bedingungen.

Totale Zerstörung

Die Berliner Philharmoniker waren in ihrer Stadt gut vernetzt. Sie kooperierten mit verschiedenen kulturellen Institutionen, gaben Konzerte in der Sing-Akademie und in der Volksbühne. Ihr Stammhaus war jedoch die Alte Philharmonie in der Bernburger Straße, eine frühere Rollschuhbahn, die schon bald nach der Gründung des Orchesters zu einem prachtvollen Konzertsaal umgebaut wurde. Auch während des Zweiten Weltkriegs waren die Konzerte des Orchesters nachgefragt und gut besucht. Sie boten den Berlinerinnen und Berlinern eine Auszeit von der Tristesse des Kriegsalltags. Die immer stärker werdende Bombardierung von Berlin beeinträchtigte die Konzertveranstaltungen immer mehr. 1943 wurde die Staatsoper teilweise beschädigt und die Staatskapelle, die eigentlich mit den Philharmonikern konkurrierte, fand in der Philharmonie ein neues Podium für ihre Konzerte. 

Im August 1943 berichtet Gerhardt von Westermann, Intendant der Berliner Philharmoniker, dass acht Musiker des Orchesters komplett ausgebombt waren. Immer wieder störten Fliegerangriffe die Proben und Konzerte. Letztere fanden nicht mehr abends, sondern am Nachmittag statt. Am Vormittag des 30. Januars 1944 gab es – laut Dienstbuch eines Orchestermitglieds – eine Verständigungsprobe für Beethovens Violinkonzert, später, um 16 Uhr den Konzertauftritt, zwischen 20 und 21 Uhr wurde die Philharmonie durch einen Bombenangriff komplett zerstört. »Am 31. Januar kein Dienst mehr«, schrieb der Musiker. Die Pause dauerte allerdings nur kurz: Bereits am 5. Februar spielten die Philharmoniker in Potsdam. Es folgten Konzerte in der Staatsoper, im Berliner Dom, im Beethoven-Saal. Das Frühjahr und der Sommer 1944 bescherten den Musikern eine rege Reisetätigkeit: Norwegen, Spanien, Portugal, Paris, Baden-Baden. Im Dezember 1944 kam der von der Tobis-Filmkunst produzierte Film Philharmoniker in der Regie von Paul Verhoeven raus, der eine fiktive Liebesgeschichte vor dem relativ realen Alltag der Berliner Philharmoniker erzählt und bei dem das Orchester und einige seiner Dirigenten mitgewirkt haben.

Zusammenbruch und Neuanfang

Deutschland steuerte auf eine katastrophale Niederlage zu. Konzerte in Berlin zu geben, wurde immer schwieriger. Das Orchester gab noch regelmäßig Konzerte für die Rüstungsindustrie und die Wehrmacht. Doch den Musikern drohte, noch in den letzten Kriegstagen zum Volkssturm eingezogen zu werden. Nahezu in letzter Minute erhielten die Mitglieder der Philharmoniker die Bescheinigung, dass sie unabkömmlich seien. Albert Speer soll sich laut dessen Memoiren dafür eingesetzt haben.  Am 16. April 1945 traten die Berliner Philharmoniker vor der Eroberung Berlins durch die Russen zum letzten Mal auf. Sechs Wochen später ging es unter neuen Vorzeichen weiter: Am 26. Mai, 18 Tage nach Kriegsende, gab das Orchester sein erstes Konzert in Friedenszeiten. Es fand im Titania-Palast mit Leo Borchard am Pult statt, der vom Magistrat der Stadt Berlin als Künstlerischer Leiter benannt worden war und im August 1945 versehentlich von einem amerikanischen Soldaten erschossen wurde. Wie nach dem Ersten Weltkrieg hungerten die Menschen nach Kultur. Hunderte standen vor dem ausverkauften Haus, in der Hoffnung noch eine zurückgegebene Karte zu ergattern.

Anders als heute standen den meisten Menschen abgesehen vom Radio oder eventuell dem Grammofon zu Hause keine technischen Unterhaltungsmedien zur Verfügung: kein Fernsehen, kein Internet, kein Live-Streaming. All die modernen Angebote, die das »Zuhausebleiben« in diesen Wochen erheblich erleichterten, fehlten damals. Dank ihrer Digital Concert Hall konnten die Berliner Philharmoniker während der Corona-Pause mit ihrem Publikum in Kontakt bleiben. Ein wunderbarer, aber auch notwendiger Ersatz. Denn eine so lange konzertfreie Zeit vor öffentlichem Publikum wie jetzt gab es in der Geschichte des Orchesters noch nie.