
(Foto: Monika Rittershaus)
Peter Sellars und Sir Simon Rattle verbindet eine langjährige künstlerische und menschliche Freundschaft. Die beiden lernten sich in jungen Jahren bei einem Dinner kennen, das gemeinsame Freunde ausrichteten. Sogleich verstrickten sie sich in ein leidenschaftliches Gespräch über Musik. 15 Jahre nach diesem Treffen kam es zu einer ersten gemeinsamen Zusammenarbeit: der Neuproduktion von Claude Debussys Oper Pelléas et Mélisande in Amsterdam. Seither haben Regisseur und Dirigent eine Reihe von spektakulären Projekten realisiert. »Peter hat die Fähigkeit, aus den Akteuren ihre tiefsten Emotionen herausholen«, schwärmt Simon Rattle. Sellars hingegen bewundert an dem Dirigenten das Talent, den Sängern dabei zu helfen, selbst einen persönlichen Zugang zur Musik zu finden.
Peter Sellarsʼ wichtigstes Anliegen ist es, mit seinen Arbeiten dem Publikum Anstöße zu geben, sich den politischen und sozialen Themen unserer Zeit zu öffnen, über sie nachzudenken und sie unter anderen, neuen Blickwinkeln zu betrachten. Dabei schöpft der Regisseur aus seinen eigenen, persönlichen Erfahrungen. Als 21-Jähriger lernte Sellars die Kantaten Bachs kennen – in dem Gedanken gefangen, dass dessen Kompositionen sehr abstrakt seien. Erst zehn Jahre später erkannte er: »Bach erzählt tatsächlich vom Leben!« Diese Einsicht prädestinierte ihn als Regisseur für eines der wichtigsten Projekte, die Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker in den letzten Jahren realisiert haben: die szenischen Aufführungen der Passionen Johann Sebastian Bachs.
Die Zusammenarbeit zwischen Sellars und dem Orchester begann zunächst 2006 mit der Inszenierung von John Adamsʼ Oper The Flowering Tree, bei der der Regisseur auch am Libretto mitgewirkt hat. Es folgte im April 2010 die Matthäus-Passion, die von der Presse als das »ergreifendste Musikereignis der Saison« bejubelt wurde. Die Lesart des amerikanischen Regisseurs rückt nicht die Figur Jesus in den Vordergrund, sondern beleuchtet die Konflikte der Menschen seiner Umgebung. »Es gibt keine Gnade, keine Liebe, keine Einsicht unter den Menschen. Diesen bitteren Aspekt singt und spielt die Aufführung heraus« (Berliner Morgenpost). Nach einer Wiederaufnahme der Matthäus-Passion 2013 folgte 2014 die Johannes-Passion, die ebenfalls von Publikum und Presse gefeiert wurde. Die Intensität seiner Inszenierungen erreicht Peter Sellars, indem er jedem Detail Beachtung schenkt. Selbst die kleinsten Soli und minimale Gesten werden akribisch geprobt. »Für mich sind oft die winzigen Details der Schlüssel zum Geheimnis. Wie im Leben machen auch in der Kunst die kleinen Dinge den Unterschied«
Die Zusammenarbeit von Simon Rattle, Peter Sellars und den Berliner Philharmonikern hatte bislang viele Höhepunkte. Als Artist in Residence setzte der amerikanische Regisseur u. a. die rätselhaften, traumverlorenen Seelenlandschaften von Claude Debussys Oper Pelléas et Mélisande in Szene. Es folgten in der Saison 2016/2017 die Aufführung von John Adamsʼ Passionsoratorium The Gospel According to the Other Mary, einem Stück, zu dem der Regisseur das Libretto verfasste, und Sellarsʼ apokalyptische Deutung von György Ligetis Le Grand Macabre sowie im Oktober 2017 die halbszenische Aufführung von Leoš Janáčeks Oper Das schlaue Füchslein.
Zum ersten Mal seit dem Ende seiner Amtszeit als Chefdirigent des Orchesters kehrt Sir Simon Rattle zu den Berliner Philharmonikern zurück – mit Peter Sellars und Bachs Johannes-Passion. Das Stück ist für den Dirigenten und den Regisseur nach wie vor hochaktuell. Für Sir Simon Rattle ist es eines »der kämpferischsten und brutalsten Musikwerke aller Zeiten«. Ein Stück über Machtmissbrauch und fehlendes Verantwortungsbewusstsein. Jesus sei – so Peter Sellars – nicht die Hauptfigur, sondern diene lediglich als Folie für unsere eigene Geschichte: »Bach möchte den Zwiespalt von Menschen zeigen, deren Herz weiß, was richtig ist, die aber unter gesellschaftlichem Druck stehen oder um ihren Ruf fürchten.« Egal, ob Petrus oder Pilatus, beide Männer treffen falsche Entscheidungen und sie wissen darum. Sellarsʼ Fazit: »Das ist kein Stück für Leute, die alles zu wissen meinen, sondern für Suchende, für Menschen, die immer wieder von vorne anfangen.«