
(Foto: Holger Kettner)
Für Herbert von Karajan waren es die beiden letzten Konzerte, die er mit den Philharmonikern in Berlin realisierte, für Jewgenij Kissin hingegen seine ersten: In den Silvesterkonzerten 1988 gab der Pianist unter der Stabführung des 80-jährigen Dirigenten mit Tschaikowskys Erstem Klavierkonzert sein Debüt beim Orchester. Der gebürtige Russe war damals gerade 17 Jahre alt und galt als vielversprechendes Wunderkind. Nach seinem Auftritt überschlug sich die Presse vor Lob: Die Kritiker waren beeindruckt von seinem hohen technischen Können, seiner Musikalität und der Ernsthaftigkeit seines Vortrags. Und man war sich einig: Hier spielt bereits ein reifer Künstler. Das gleiche Programm wiederholten die Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan und Jewgenij Kissin nur wenige Monate später bei den Salzburger Osterfestspielen.
1991 kam Jewgenij Kissin zum zweiten Mal zu den Berliner Philharmonikern, wieder wirkte er bei dem Silvesterprogramm des Orchesters mit. Doch Karajan war mittlerweile gestorben und ein neuer Chef stand am Pult: Claudio Abbado, der ihn für Beethovens Fantasie für Klavier, Chor und Orchester engagiert hatte. »Zum interpretatorischen Erlebnis wurde hier insbesondere der mächtig ausgreifende Klavierpart mit dem 20-jährigen Jewgenij Kissin, der nicht nur als Pianist symphonischer oder virtuoser Klangcharaktere faszinierte, sondern auch als sensibler Begleiter instrumentaler und zuletzt vokaler Gruppen«, hieß es hinterher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Während der 1990er-Jahre konnte das Berliner Publikum Kissin mehrfach mit monumentalen Konzerten des Repertoires erleben: Sergej Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3, Johannes Brahms’ Klavierkonzert Nr. 1 und Sergej Prokofjews Klavierkonzert Nr. 3. Mit der Aufführung von letzterem erinnerte er an den 50. Todestag von Karlrobert Kreiten, der – ein Wunderkind wie Kissin – dieses Konzert oft gespielt hat und der wegen seiner kritischen Äußerungen gegenüber dem nationalsozialistischen Regime 1943 hingerichtet wurde.
Nach der Millenniumswende dauerte es mehr als zehn Jahre, ehe der Pianist zu den Berliner Philharmonikern zurückkehrte: Sir Simon Rattle und das Orchester luden ihn 2011 ein, bei den Silvesterkonzerten den Solopart von Edvard Griegs Klavierkonzert zu interpretieren. Kissin beeindruckte durch seine nachdenkliche, unprätentiöse Deutung des Werks: »Mit seiner wunderbaren Anschlagskultur kann er singen, es glitzern lassen …«, hieß es in der Kritik des rbb Kulturradio. In dieser Saison ist der Künstler unter der Leitung von Mariss Jansons mit dem Ersten Klavierkonzert von Franz Liszt zu erleben, einem Werk, in dem der Komponist auf glückliche Weise seine Ideen der Symphonischen Dichtung mit der Konzertform verschmolzen hat und der Pianist sämtliche Facetten seines technischen und musikalischen Könnens zeigen kann.