
(Foto: Martin Walz)
Der Weltuntergang findet nicht statt, weil der Tod zu betrunken ist. Eine ebenso absurde, wie groteske Vorstellung, die den ungarischen Komponisten György Ligeti zu einem seiner großartigsten Werke inspiriert hat: der Oper Le Grand Macabre, die Mitte der 1970er-Jahre im Auftrag der Königlichen Oper Stockholm entstand. Die Vorlage bildete das Theaterstück Le Balade du Grand Macabre, das der belgische Dichter Michel de Ghelderode 1934, ein Jahr nach Hitlers Machtantritt, als satirische Tragikomödie gegen die Nationalsozialisten schrieb. »Ich habe etwas Allgemeineres daraus gemacht«, sagte Ligeti in einem Interview. »Todesangst und Pseudoüberwindung – das ist das große Thema des Stücks. Eigentlich nichts Besonderes, denn wir alle verdrängen, dass wir sterben müssen.«
Ghelderode beschwor in seinem Stück die skurrile Atmosphäre, die die flämischen Maler Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel der Jüngere in ihren Gemälden festgehalten haben: die verzweifelte, unmäßige Lebensgier der Menschen im Angesicht des Todes. Der Höllenfürst, der bei Ligeti Nekrotzar heißt, ist die Hauptfigur. Aus einem Grab steigend, droht er, die Welt zu vernichten. Doch sehr schnell wird deutlich: Dieser Tod ist ein lächerlicher Popanz. Mit dem Trunkenbold Piet vom Faß zieht er durch das Land, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Aber die Menschen, verstrickt in Macht- und Sexspiele, betäubt von Sauf- und Fressgelagen, nehmen ihn nicht ernst – weder der schwächliche Hofastrologe Astradamor, seine sadistische Gattin Mescalina, der debile Fürst Go-Go, dessen korrupte Minister und die Chefin der Geheimpolizei Gepopo noch das junge Liebespaar Amanda und Amando, das nur Augen füreinander hat und einen Platz für sein Schäferstündchen braucht.
Als der von Astradamor prophezeite Komet auf die Erde schlägt, ist Nekrotzar vom Wein betäubt. Er versäumt den Untergang der Welt und verschwindet wieder in sein Grab, in dem kurz zuvor die beiden Liebenden eine heiße Nacht verbracht haben. Dieses überdrehte Ensemble aus Knallchargen beflügelte Ligetis Kreativität. Er schuf eine Musik, die die Verderbtheit, Obszönität und Brutalität der einzelnen Szenen mit Ironie und Satire auf die Spitze treibt. Während der Entstehung schrieb Ligeti an seinen Librettisten: »Alles soll von Marionettisierung durchzogen sein, auch die lebendigen Sänger haben etwas Automatisch-Verfremdetes in sich. Du wirst das hören, sobald alles als Musik erklingt: Alles ist zwar hochemotionell, doch sind die Emotionen puppenhaft stilisiert und deep frozen.« Was Ligetis Musik außerdem auszeichnet: der lustvolle und spielerische Umgang mit musikalischen Traditionen, die geistreich und subtil transformiert werden – angefangen von der von Autohupen intonierten Ouvertüre, eine Anspielung an die Eröffnungsfanfare von Monteverdis Orfeo, über die Zitate aus Opern von Mozart, Rossini, Verdi, Wagner, Offenbach und Strauss bis hin zu Jazz- und Pop-Standards. Barocke Bassmodelle wie die Passacaglia und Chaconne sind ebenso vertreten wie moderne Tanzrhythmen. Sängern und Instrumentalisten verlangt Ligeti das Äußerste ab: aberwitzige Koloraturen, schrille Cluster, komplexe Rhythmik, oszillierende Klangflächen...
»Ligeti ist ein spielerischer Komponist«, meint der Regisseur Peter Sellars, der die Neufassung der Oper 1997 bei den Salzburger Festspielen inszenierte. Nun betreut er die szenische Realisation von Le Grand Macabre mit Sir Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern für die Aufführungen in Berlin, Dortmund und Essen. Die Partie des Nekrotzar singt Pavlo Hunka. Die spielerische Annäherung an ein sehr ernstes Thema – so Sellars – mache die Qualität des Stücks aus. Gerade die stark überarbeitete Neufassung beweise, dass Ligeti mit Le Grand Macabre nicht nur eine verrückte Collage, sondern eine klassische Oper geschaffen habe.