Zusammen(ge)hören

So haben Sie Musik noch nie gehört

Das Bundesjugendorchester initiierte das Projekt.
(Foto: Selina Pfruener)

Am 17. April gestaltet das Bundesjugendorchester eine akustische Entdeckungsreise unter anderem mit Beethovens »Eroica« und Werken, die für und mit Menschen mit Hörschädigung entstanden sind. Eine Einladung, einmal ganz anders hinzuhören und vertraute Hörgewohnheiten über Bord zu werfen.

»O ihr Menschen, die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet […], wie unrecht tut ihr mir, ihr kennt nicht die geheime Ursache […]. Doch war’s mir noch nicht möglich, den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub. Ach wie wär es möglich, dass ich die Schwäche eines Sinnes zugeben sollte, der bei mir in einem vollkommeneren Grade als bei andern sein sollte […]. O ich kann es nicht, drum verzeiht, wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gerne unter euch mischte.«

Mit nur 31 Jahren schrieb Ludwig van Beethoven diese Zeilen an seine Brüder, während er sich in dem Kurort Heiligenstadt aufhielt. Der Brief gibt Einblick in eine tiefe Verzweiflung des Komponisten über den fortschreitenden Verlust seines Gehörs und der damit einhergehenden Isolation. Eine Situation, die er mit niemandem teilen konnte – auch nicht mit seinen Geschwistern: Er schickte den Brief nie ab.

Ein multimediales Konzertprojekt

Das als Heiligenstädter Testament bezeichnete Dokument ist Ausgangspunkt für ein besonderes Projekt des Bundesjugendorchesters: Was bedeutet ein Hörverlust oder eine –einschränkung für Individuen? Wie unterschiedlich hören wir? Wie können wir trotzdem gemeinsame Hörerlebnisse teilen? Diese Fragen inspirierten das Bundesjugendorchester zu diesem multimedialen Konzertabend Zusammen(ge)hören – mit klassischer und neuer Musik, Lichtgestaltung und einer Performance.

Neben Beethovens »Eroica«, die um die Zeit des Heiligenstädter Testaments entstanden ist, wird unter anderem eine Uraufführung des Komponisten Mark Barden zu erleben sein: the weight of ash ist ein Stück, das für und mit Jugendlichen mit Hörschädigung entstanden ist.

Dirigent Christoph Altstaedt erzählt von der Entstehung des Werks: »Da es ein Auftragswerk für die Jugendlichen des Bildungs- und Beratungszentrums für Hörgeschädigte Stegen ist, war für uns schnell klar, dass wir erst einmal herausfinden mussten: Was hören die Jugendlichen, wie funktioniert ein Cochlea-Implantat?«

Christoph Altstaedt und Mark Barden fuhren zunächst in eine Klinik nach Essen, um mit Patienten mit unterschiedlicher Hörschädigung zu sprechen. Die Entwicklung von Cochlea-Implantaten, einer Gehörprothese, hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht und vielen Betroffenen das Hören und damit den Alltag erleichtert. Die Jugendlichen in Stegen können mithilfe dieser Hörschnecken-Prothese unterschiedlich gut Schall wahrnehmen.

Hören ohne Ballast

»In Stegen haben wir mit den Jugendlichen zusammen diskutiert und ausprobiert: Was ist Klang? Was empfindet ihr als anregend? Was würdet ihr gerne ausbauen«, berichtet Altstaedt. »Auf welchen Materialien kann man gut musizieren, wenn man gar kein Instrument im klassischen Sinne spielt?« Die zweite Besonderheit des Konzertprogrammes ist nämlich, dass die Jugendlichen selbst zu Musizierenden werden, ganz ohne klassische Musikausbildung. Mit Styroporplatten und Spachteln als Instrumente werden sie Teil des Orchesters.

Dirigent des Projekts: Christoph Altstaedt
(Foto: Peter Gwiazda)

Eine Uraufführung bietet dabei eine gute Gelegenheit, das Thema Hören neu erlebbar zu machen, findet Altstaedt: »Es ist eine sehr geräuschhafte Partitur. Auch ich kann mir momentan nur bedingt innerlich vorstellen, wie das am Schluss klingt. Das ist die große Chance einer Uraufführung: Für alle Beteiligten − unabhängig davon, wie gut Sie im anatomischen oder ideologischen Sinne hören – ist es eine neue Hörerfahrung. Man kann es nicht abgleichen und das ist ein sehr verbindendes Element.«

Doch auch bei dem bekannten Stück des Abends, Beethovens Eroica, möchte das Bundesjugendorchester das Publikum zur Neugierde animieren. Deshalb erklingt die Symphonie nicht wie üblich an einem Stück. Die Sätze werden von anderen Werken und einer Performance unterbrochen.

»Wir wollten auch hier ganz bewusst mit der Hörgewohnheit spielen und auch etwas von der historischen Aufführungspraxis einfließen lassen. Die Konzerte waren zu Beethovens Zeiten viel länger als heute und, was die Gattung betrifft, viel durchmischter. Da wurden durchaus mal drei Lieder neben eine Symphonie gestellt und dann kam noch eine Klaviersonate dazu. Wir wollten damit auch sagen: Wir müssen Werke nicht unbedingt am Stück oder in der richtigen chronologischen Reihenfolge spielen. Wir müssen auch nicht unbedingt innerhalb eines Genres bleiben.«

Video: Schülerinnen des Bildungs- und Beratungszentrums für Hörgeschädigte Stegen erzählen von den Proben

Noemi Gruttke, Maren Waldvogel und Marlene Ehrler berichten von der Zusammenarbeit mit dem Bundesjugendorchester für das Projekt »Zusammen(ge)hören«

Es gibt kein normales Hören

Zusammen(ge)hören verspricht eine akustische Entdeckungsreise und wirft gleichzeitig spannende Fragen über Rezeptionsgewohnheiten auf. Das unvoreingenommene Hörerlebnis, eine Befreiung von konventionellen Hörvorstellungen und die Erkenntnis, dass wir alle Musik unterschiedlich wahrnehmen – das sind die zentralen Aspekte dieses Abends.

»Uns ist wichtig«, fasst Dirigent Christoph Altstaedt zusammen, »dass am Ende alle aus dem Konzert gehen und das Gefühl haben, es gibt kein ›normales Hören‹. Was Menschen mit Hörschädigung akustisch wahrnehmen, das müssen wir nicht als defizitär empfinden, sondern es ist eine andere Art zu hören. Was emotional, inhaltlich oder metaphysisch bei Musik auch passiert, das können sie mindestens genauso gut, wenn nicht vielleicht sogar besser erfahren als wir.«

Saskia Dittrich