Der Begriff »Weltmusik« steht für die Vielfalt und Schönheit verschiedenster volksmusikalischer Traditionen – und für deren kreativen Dialog. Mit der Saison 2022/23 startet eine neue Serie, mit der Sie sich diesen Kosmos erschließen können. Freuen Sie sich auf spannende Exkursionen in faszinierende musikalische Gefilde.
Man mag es kaum glauben, aber der Begriff »Weltmusik« wurde bereits im Jahre 1906 verwendet, und zwar von dem deutschen Musiktheoretiker Georg Capellen. Er verstand darunter eine exotische Musik, die sowohl westliche als auch östliche Elemente enthält: »Durch diese Vermählung von Orient und Okzident gelangen wir zu dem neuen exotischen Musikstil, zur ›Weltmusik‹, die natürlich je nach der nationalen und individuellen Veranlagung des Schaffenden in den verschiedensten Nuancen schillern wird.« Capellen hoffte, dass die orientalischen Elemente die westliche Musik bereichern würden, denn er hegte »Zweifel an der Unerschöpflichkeit europäischer Melodik, Tonalität und Rhythmik«.
Mit unserer neuen Konzertreihe laden wir Stars der Szene ein, Ihnen die schönsten Formen und Spielarten des Genres zu präsentieren.
Entdecken Sie spannende Klangerlebnisse in einzelnen Konzerten oder als Abonnement
(Foto: Mlungisi Mlungwana)
Di, 8. November 2022: Abel Selaocoe
In eine ganz andere Welt führt die Musik von Abel Selaocoe. Der Südafrikaner ist Cellist, Sänger, Komponist und so etwas wie ein lebendes Gesamtkunstwerk. Nach seiner musikalischen Grundausbildung in Soweto studierte er mit einem Stipendium Cello am Royal Northern College of Music in Manchester und plante eigentlich eine Karriere als klassischer Solist. Doch nach und nach merkte er, dass ihn die Musik, mit der er aufgewachsen war, nicht losließ, und er beschloss mehrgleisig zu fahren. So bewegt sich der Südafrikaner zwischen den unterschiedlichsten musikalischen Genres und Stilen. Selaocoe verbindet virtuos klassisches Cellospiel mit Improvisation, Gesang und Body Percussion.
Er interpretiert Werke von Boccherini und Debussy, tritt mit Weltmusikerinnen und Beatboxern auf und begleitet seinen ausdrucksstarken Gesang auf dem Cello. Und auf seinem Debüt-Album Where is Home (Hae Ke Kae) kombiniert er einfach mal Bachs Cellosuiten mit Eigenkompositionen, die von der Musik seiner südafrikanischen Heimat inspiriert sind. Das kommt bei vielen Menschen gut an, die sonst mit klassischer Musik nicht viel am Hut haben, und so wächst seine internationale Fangemeinde stetig.
Was außereuropäische Musik häufig von westlicher Musik unterscheidet, ist die Dominanz des Rhythmus. Insbesondere im Orient gibt es eine Vielzahl von virtuosen Trommel- und Percussion-Ensembles, die mit sehr komplexen Rhythmen agieren. So auch im Iran. Einer der bedeutendsten iranischstämmigen Percussionisten ist Djamchid Chemirani. Der in Frankreich lebende Musiker beherrscht die klassische persische Bechertrommel Zarb wie kaum ein anderer auf der Welt.
Doch Chemirani ist nicht nur ein begnadeter Künstler, sondern auch ein engagierter Lehrer – und seine beiden Söhne Keyvan und Bijan gehören zu seinen besten Schülern. Allen dreien liegt es am Herzen, Brücken zwischen den verschiedenen Kulturen zu bauen. So sucht Chemirani senior den Kontakt zu Theater, Ballett sowie Jazz- und Mittelaltermusikern; sein Sohn Keyvan spielt regelmäßig mit renommierten Jazzern wie Didier Lockwood, Renaud Garcia Fons oder Louis Sclavis zusammen und ist an Projekten mit Ensembles für Alte Musik wie dem Ensemble Gilles Binchois beteiligt. 1988 riefen Vater und Söhne das Trio Chemirani ins Leben, sie geben Konzerte in aller Welt, oft mit Gastmusikern. Auch in Berlin ist das Trio mit zwei weiteren Schlagzeugern/Percussionisten, einem Cellisten, einem Lyra-Spieler sowie einem Bassklarinettisten zu erleben.
Das vierte und letzte Weltmusik-Konzert der Saison 2022/23 führt wieder zurück nach Europa, genauer gesagt nach Portugal, zu der Sängerin Maria do Carmo de Carvalho Rebelo de Andrade, die, ähnlich wie der Starfußballer Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro, unter ihrem Vornamen bekannt geworden ist: Carminho. Sie gehört zu den wichtigsten Neo-Fadistas, den Interpretinnen und Interpreten des modernen Fado für die Ohren des 21. Jahrhunderts. Carminho trat bereits als Teenager in den Fado-Lokalen der Lissaboner Altstadt Alfama auf und studierte später Werbung und Marketing, wandte sich aber dann ganz dem Fado zu.
Bald feierte man sie als würdige Nachfolgerin ihrer Mutter Teresa Siqueira, die sich ebenfalls als Fado-Sängerin einen Namen gemacht hatte. 2003 nahm Carminho vier Stücke für ein Album mit dem Titel Saudades do Fado auf, anschließend gab sie Konzerte in Argentinien und der Schweiz, außerdem sang sie auf Malta zum EU-Beitritt des Landes 2004. 2005 verlieh ihr die Stiftung Amália Rodrigues den Preis für die beste weibliche Neuentdeckung. Am liebsten tritt die Sängerin ganz puristisch mit einem reinen Zupfensemble auf: portugiesische Gitarre, akustische Gitarre, E-Gitarre, Hawaii-Gitarre und Bass. In dieser Besetzung kommt sie auch nach Berlin.
Eröffnet wird die Reihe von der Sängerin Aynur, die zu den bekanntesten kurdischen Musikerinnen zählt. Sie wurde 1975 in Ostanatolien geboren und zog Anfang der 1990er-Jahre nach Istanbul. Erst dort habe sie laut eigener Aussage Musik kennengelernt, »im Dorf, wo man mit Schafen und Lämmern aufwächst«, habe es keine gegeben. Auf Anraten von Freunden studierte sie Gesang und veröffentlichte 2001 ihr erstes Album. Aynurs Liedern liegen jahrhundertealte Melodien der kurdischen Volksmusik zugrunde, die sie behutsam aktualisiert und in einen neuen Kontext stellt. Sie trägt ihre Gesänge sowohl auf Kurdisch als auch auf Türkisch vor, häufig drehen sich diese um das Leben und Leiden der kurdischen Bevölkerung.
Auch Aynur selbst hat immer wieder unter Repressalien der Regierungspartei AKP zu leiden, wenn sie in der Türkei auftreten möchte. So werden ihre Konzerte manchmal plötzlich verboten, weil man sie nicht als Sängerin, sondern als »Terroristin« einstuft. Da sie selbst dem Nationalismus fernsteht, sucht sie regelmäßig die Verbindung zu anderen Musikkulturen. So veröffentlichte sie etwa 2014 zusammen mit dem hochdekorierten spanischen Flamenco-Gitarristen Javier Limón ein Album, das auf raffinierte Weise kurdische Volksmusik mit Elementen des Flamenco verknüpft.