Lichtspiele im Weltall

Uraufführung von Erkki-Sven Tüür

Paavi Järvi spricht über die Uraufführung »Lux Stellarum«

In den 1980er Jahren spielten sie gemeinsam in einer Rockband. Im Mai 2022 leitete Paavo Järvi eine Uraufführung seines ehemaligen Bandkollegen Erkki-Sven Tüür. Das Auftragswerk Lux Stellarum für Flöte und Orchester vertont Lichtspiele des Universums. Solist des Abends war Emmanuel Pahud.

Erkki-Sven Tüür lebt auf Hiiumaa, einer großen Insel vor der Küste Estlands. Hier wähnt man sich fern von allem Weltgetümmel und diese Einsamkeit hat sicher auch seine Art zu komponieren beeinflusst: »Die Ideen zu vielen von meinen Werken sind während langer Strandspaziergänge entstanden «, so Tüür. »Das Meer sieht immer anders aus. Allein die Oberfläche zeigt so viele Komponenten: Die Wellen, die vom Wind bewegt werden, sich kreuzen, immer wieder neu vom Licht beschienen werden, sodass sie zu glänzen beginnen. Ganz ähnlich ist es in meiner Musik. Auch dort gibt es große, lange Wellenbewegungen, aber auch sehr kurze, energische Aktionen.«


Vom Rockmusiker zum klassischen Komponisten

Für sein am 26. Mai 2022 uraufgeführtes und Emmanuel Pahud gewidmetes Flötenkonzert Lux Stellarum wendete Tüür seinen Blick jedoch weit nach oben: Ins Weltall. Hier verwandelt er unterschiedliche astrale Ereignisse in Töne, wobei vorwiegend raffinierte Schlagzeug­effekte, aber auch der Einsatz von Glockenspiel, Vibrafon und Zimbeln die Lux stellarum, die Lichtspiele des Universums, akustisch abbilden. Auch Flüstergeräusche des Solisten und auf mehreren Tönen gleichzeitig auszuführende Triller werden als Effekte eingesetzt.

Die musikalischen Wurzeln von Tüür liegen eigentlich in der Rockmusik. Mit 17 Jahren gründete er die Rockgruppe »In spe«, in der er bis 1983 als Sänger, Flötist und Pianist mitwirkte. Am Schlagzeug saß damals Paavo Järvi, inzwischen selbst einer der gefragtesten Orchesterleiter. Bis heute verbindet Tüür und Järvi eine enge Freundschaft; viele Orchesterwerke des Komponisten hat Järvi uraufgeführt – so auch das Auftragswerk Lux Stellarum.

Komponist Erkki-Sven Tüür
(Foto: Kaupo Kikkas)

Intuition und Konstruktion

Es folgte ein reguläres Musikstudium an der Musikakademie in Tallinn und bei Lepo Sumera, einem der bekanntesten Komponisten Estlands. Seinen internationalen Durchbruch als »klassischer« Komponist markierte 1989 Insula deserta (Die verlassene Insel) für Streichorchester.

Das Stück, für Tüür auch eine Metapher für seine Heimatinsel Hiiumaa, wo unberührte Natur auf Spuren zivilisatorischen Verfalls trifft, zeigt eine unverwechselbare Klangwelt, die bald zu seinem Markenzeichen wird.

 

Um die Jahrtausendwende, spätestens mit seiner vierten Symphonie von 2002, entwickelte sich bei Tüür eine neue Art des Komponierens, ein Verfahren, das er »vektorielle Methode« nennt. Ein ganzes Werk wird dabei in einem Quellcode angelegt, einer Art »Gen«, das bei seinem Wachstum und bei seinen Mutationen verschiedene Punkte im Gewebe des Stücks miteinander verbindet. Tüür legt allerdings großen Wert auf die Feststellung, dass er diesem System nicht sklavisch folgt, sondern die Ergebnisse des mutierten und skalierten Gens bei Bedarf frei auslegt: »Ich entledige mich dann meiner eigenen Regeln, um wieder etwas intuitiver zu komponieren – in Stil und Sprache«, so Tüür. Intuition und Konstruktion sind die entscheidenden Kennzeichen der Musik Erkki-Sven Tüürs.
 

Lux Stellarum – eine kurze Werkeinführung

Im ruhigen ersten Satz wird Verblassender Sternenstaub vergegenwärtigt und zwar mittels aufgehäufter Teiltöne und harmonischer Störfelder, die einen Prozess der Auflösung schildern. Hier begegnen uns vorwiegend fallende Tonreihen, während im Scherzo, dem mit Tanzende Asteroiden überschriebenen zweiten Satz, aufsteigende Figurationen vorherrschen. Der Sternenstaub des Kopfsatzes zerfällt rhyth­misch geradezu, wir hören einkomponierte Rubati, also Tempoverlangsamungen, die eigentlich Sache des Dirigenten sind, und uns verwirren asynchrone, das Metrum durchbre­chende Schübe; die Asteroiden dagegen sind rhythmisch konzise.

Den Zusammenhang zwischen beiden Sätzen bestä­tigt die Solokadenz im Scherzo, indem sie Motivfetzen des Ersten Satzes zitiert. Die ein weit ausgreifendes, zerklüftetes Melos aufweisende Litanei der sterbenden Sterne ist misterioso e doloroso vorzutragen; sie führt uns in einen Klangweltraum ohne fühlbaren Puls; unbegrenzt frei und verloren schweben wir durch eine dem Menschen rätselhafte Leere.

Das Finale schließlich – mit Flutende Galaxien betitelt – wendet den Blick in makrokosmische Regionen. Nachdem bislang der artistisch agierende Virtuose die musikalische Szenerie dominierte, kommt es jetzt erstmals zu einem Dialog zwischen den einzel­nen Instrumentengruppen, wie überhaupt dieses Finale eine Art Synthese der vorhergehenden Sätze darstellt. In einer großen Steigerung treibt es mit starker rhythmischer wie tänzerischer Energie auf die wenigen, aber brillanten Schluss­takte zu.

 


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