Vom Suchen und Sammeln
Thomas Larcher im Porträt

(Foto: Richard Haughton)
Thomas Larcher ist einer der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit. Im Dezember spielen die Berliner Philharmoniker die deutsche Erstaufführung seines Konzerts für Klavier und Orchester. Eine Annäherung an einen Künstler, der in keine Schublade passt.
Wenn die Sonne scheint, dann hält es ihn nicht im Haus. Dann muss Thomas Larcher raus ins Freie, zu Fuß oder auch auf dem Fahrrad. »Das Auslüften in der Natur finde ich sehr wichtig, weil ich sonst so viel sitze«, sagt der Komponist. Er wohnt allerdings auch in herrlicher Umgebung, im Tiroler Inntal, in der Gemeinde Schwaz am Fuß des 2300 Meter hohen Kellerjochs.
Larchers Hauptarbeitszeit ist der Abend, dann hat er die innere Ruhe, um die Klänge, die er bei seinen Ausflügen gesammelt hat, zu sichten, zu sortieren – und im Idealfall in Kompositionen zu verwandeln. So wie in seinem neuen Klavierkonzert, dessen deutsche Erstaufführung die Berliner Philharmoniker Anfang Dezember zusammen mit dem Dirigenten Semyon Bychkov und dem Pianisten Kirill Gerstein spielen werden.
Eine faszinierende, naturnahe Atmosphäre entfaltet sich da in den ersten Minuten, man meint Frösche im Schilf zu hören, Vogelstimmen. Gong, Glocken und Akkordeon mischen sich unter die traditionellen Instrumente des Symphonieorchesters, die Solovioline singt romantisch.
Vielfarbig und filigran ist dieser Beginn, der Solist bleibt zunächst ganz in die symphonische Naturstimmung eingebettet, bevor er sich nach acht Minuten zu seiner ersten virtuosen Passage aufschwingt. »Den Anfang wollte ich so gestalten, dass er formal gar nicht wie bei einem konventionellen Klavierkonzert gebaut ist«, erklärt der 58-jährige Österreicher. Wobei es ihm nicht um eine Provokation des Publikums geht, um einen absichtsvollen Verstoß gegen die bürgerlichen Hörgewohnheiten. Sondern allein darum, einen musikalischen Fluss entstehen zu lassen, der sich organisch entwickelt.
»Den Imperativ des Verstörenden, den zeitgenössische Kunst auslösen soll, habe ich komplett abgelegt«
In der Kontrastdramaturgie des klassischen Solistenkonzerts treten der Virtuose und das Orchester immer wieder in einen Wettstreit, bei Thomas Larcher dagegen sind sie Partner, über drei Sätze und 35 Minuten Spieldauer. »Den Imperativ des Verstörenden, den zeitgenössische Kunst auslösen soll, habe ich komplett abgelegt«, sagt er. »Das ist nicht mein Kriterium. Ich will die Leute erreichen, ich will, dass meine Musik gehört wird.«
Wenn es um die »Neue Musik« geht – die mit dem großgeschriebenen »N«, die bei den Avantgardefestivals gefeiert wird – geht Thomas Larcher in Opposition. »Durch den Zwang, immer neu zu sein, wird so viel unmöglich gemacht«, findet er. »Denn mit dieser Geisteshaltung verbaue ich mir die Möglichkeiten des Suchens im bereits Bestehenden, des Neu-Kombinierens, des Entdeckens der heutigen Welt durch vermeintlich veraltete Methoden.«
Larcher kommt aus der Praxis, seine musikalische Karriere hat er als Pianist begonnen, später konnte er als Gründer des Festivals »Klangspuren Schwaz« sein Talent als Kulturmanager unter Beweis stellen. Als Komponist plant er keine Revolutionen am grünen Tisch, er ist kein System-Umstürzler, der mal eben die gesamte Musikgeschichte wegfegt und sein eigenes Universum erschafft, in dessen Regelwerk sich die Zuhörer dann bitte einarbeiten sollen.
Sein Weg ist ein anderer: Er lässt sich inspirieren »von dem, was schon da war«, greift als »Sucher und Sammler« Anregungen auf, die er von Musikern bekommt, von Instrumentenbauern oder auch von Tontechnikern. »Ich bin ein Teil von Musikentstehung«, lautet Larchers Credo. »Und darum wecke ich die Spiegelneuronen auch eher bei Musikern, die im traditionellen Konzertbetrieb spielen und von einem Komponisten dort abgeholt werden wollen, wo sie sich auskennen.«
»Das ist tonale Musik.«
Diese Verwurzelung in der Tradition kann durchaus Irritationen hervorrufen. Immer wieder würden ihm Leute sagen: »Bei Ihnen gibt es ja dieses interessante Spiel mit angeblicher Tonalität«, berichtet er. Seine Antwort lautet dann immer: »Nein, tut mir leid, das ist keine Simulation. Das ist tonale Musik.« Der distanzierte Blick auf die Vergangenheit, das ironisch gemeinte Zitieren, bei dem die Überheblichkeit dessen mitschwingt, der es mittlerweile besser weiß, liegt ihm nicht: »Mit diesem Meta-Schmäh kann ich einfach nichts anfangen.«
Auch wenn es Thomas Larcher durchaus schmerzt, dass ihm die Zirkel der Neuen Musik verschlossen geblieben sind, kann er über mangelnden Erfolg nicht klagen. Sieben Auftraggeber aus sieben verschiedenen Ländern hatte er beispielsweise für sein Klavierkonzert. Die Initiative ging von zwei Klassikstars aus, eben Semyon Bychkov und Kirill Gerstein. Sie wünschten sich von Larcher ein Werk, das sie mit den Prager Philharmonikern in der tschechischen Hauptstadt sowie im Wiener Konzerthaus aus der Taufe heben wollten.
Was sich dann allerdings nicht realisieren ließ, weil zum geplanten Zeitpunkt im April dieses Jahres die örtlichen Hygienekonzepte einen so großen Abstand zwischen den Musikern vorschrieben, dass die Besetzungsgröße auf der Bühne nicht unterzubringen war. Genauso war es bei den Londoner Proms.
Und so kam das Amsterdamer Concertgebouw zur Ehre der Uraufführung. Bei der Zaterdag-Matinee am 22. Mai durfte zwar kein Publikum im Saal anwesend sein, aber der Komponist war schon froh, dass nicht auch dieser Termin abgesagt wurde. Ihm steckte noch ein Erlebnis aus dem ersten Lockdown in den Knochen, als nur zwei Tage vor der Premiere seiner Oper Das Jagdgewehr in Amsterdam die Schließung aller Bühnen verfügt worden war.
Jetzt heißt es Daumen drücken für die geplanten Termine im norwegischen Bergen sowie in Kopenhagen. Ganz besonders fiebert der Komponist aber der deutschen Erstaufführung durch die Berliner Philharmoniker entgegen. »In meiner Zeit am Wissenschaftskolleg habe ich die Musiker des Orchesters sehr oft in Proben wie auch in Konzerten erleben können«, berichtet er.
»Ihr Arbeitsethos hat mir wahnsinnig imponiert, ihre unglaubliche Präzision, ihre Hingabe, in Verbindung mit diesem für mich so stimmigen Raum der Philharmonie, in dem die Musik im Zentrum steht, und in dem es so gar nicht um Repräsentation geht, wie in historischen Konzerthäusern.«
Bereits aus seiner Zeit als Pianist hat er viele Verbindungen zum Orchester, durch Kammermusikprojekte, unter anderem mit dem Soloflötisten Emmanuel Pahud oder auch mit dem Scharoun Ensemble. Und die Intendantin Andrea Zietzschmann kennt er seit ihren Berufsanfängen, vom damals frisch gegründeten Mahler Chamber Orchestra.
»Ich fungiere als mein eigener Katalysator.«
Wenn sich Thomas Larcher vor das leere Notenblatt setzt, beginnt die kreative Arbeit mit einem »Ausfilterungsprozess«. Einen Bauplan für das neue Stück zu entwerfen, ein Korsett, das er dann nur noch mit klingendem Inhalt füllen muss, das liegt ihm nicht: »Bei mir beruht sehr viel auf vorhandenen Ideen, auf hingekritzelten Notizen oder auch auf Elementen aus misslungenen Klavierstücken, die sich noch verwenden lassen. Ich fungiere als mein eigener Katalysator.«
Beim Komponieren verfährt er nach dem Trial-and-Error-Prinzip, versucht, gleichzeitig den Überblick zu bewahren und im Detail stimmig zu sein. Was zu ständigen Korrekturen führt – und einem enormen Verbrauch an Radiergummis. Denn Larcher arbeitet radikal analog, mit Bleistift und Papier.
Ist das Stück dann fertig, wirft er möglichst viel vom Skizzenmaterial weg – »sonst krame ich immer nur in den alten Sachen herum« – und übergibt das Manuskript an seinen Verlag. Dort erst, bei Schott in London, entsteht die digitale Form der Partitur, die für den Druck nötig ist.
Die »Stimmigkeit«, die für Thomas Larcher ein Schlüsselbegriff ist, bezieht sich auf drei Ebenen: Für ihn selbst muss es sich »richtig« anfühlen, aber er denkt immer auch ans Publikum und an die Ausführenden. »Ich will, dass die Musiker sich von mir ernstgenommen fühlen. Ich will sie ermutigen, ihre Kreativität einzubringen, sie spüren lassen, dass sie nicht als Maschinen benutzt werden, dass innerhalb der Partitur jeder einen wichtigen Teil hat, der eingewoben ist in den Kosmos des Werkes und darum nicht einfach anders gemacht werden kann.«
Eine neue Komposition freizugeben für die Uraufführung fällt Thomas Larcher übrigens fast immer leicht. »Es gibt eine Sehnsucht in mir, die Werke hinter mir zu lassen, um weitergehen zu können, ins Freie, ins Neue.«
Frederik Hanssen