»Meine Erfindungskraft ist
ein Geschenk des Lebens«

Thomas Adès im Gespräch

Thomas Adès
(Foto: Marco Borggreve)

Thomas Adès ist derzeit wohl der bekannteste und erfolgreichste Komponist Englands. Auch bei den Berliner Philharmonikern gehören seine klangsinnlichen, zwischen Ironie und Melancholie changierenden Werke längst zum Repertoire. Nun kommt Thomas Adès erstmals als Dirigent zum Orchester. In unserem Interview erzählt er, was es mit dem Programm dieses Konzerts auf sich hat, welche Rolle die große Trommel spielt und warum seine Arbeit der eines Architekten gleicht.

Sie kennen das Konzertleben aus zwei Perspektiven: als Komponist und Dirigent. Was ist für Sie mit mehr Aufregung verbunden – ein Debüt als Dirigent bei den Berliner Philharmonikern oder die Uraufführung eines neuen Werks?
Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge – und jedes auf seine Weise aufregend. Ich kenne die Berliner Philharmoniker seit 20 Jahren, aber sie haben mich noch nie am Pult erlebt. Gemeinsam auf dem Podium zu stehen wird für beide Seiten spannend und es wird unsere Beziehung hoffentlich vertiefen. Ich freue mich auf die direkte Zusammenarbeit, weil sie mir die Möglichkeit gibt, zwei meiner Kompositionen und zwei Werke vorzustellen, die mir sehr am Herzen liegen.

Eines dieser »Herzenswerke« ist Hector Berlioz’ Les Francs-juges- Ouvertüre. Mit ihr eröffnen Sie das Konzert. Warum haben Sie gerade dieses Stück ausgesucht?
Das ist ein sehr brillantes und elektrisierendes Werk von Berlioz. Er hat es nicht nur dirigiert, sondern er saß auch gelegentlich an der großen Trommel. Ihr Part mit den komplexen, disruptiven Rhythmen steht konträr zum übrigen Orchester. Als Komponist, der dieses Stück dirigiert, fühle ich mich Berlioz sehr nahe. Ich stelle mir vor, wie er hinten im Orchester an der großen Trommel sitzt, total eingebunden in seine Musik. Für mich ist diese Ouvertüre ein sehr physisches, aufregendes, mitreißendes Stück.

Mit Chevaux-de-frise hören wir ein weiteres »Herzenswerk«. Es ist ein Stück Ihres Komponistenkollegen Gerald Barry. Was bewundern Sie an seiner Musik?
Chevaux-de-frise ist wie ein Vulkan. Ich war noch ein Kind, als ich das Werk zum ersten Mal hörte. Die Musik war so stark, so ganz anders, als alles, was ich bis dahin gehört hatte. Dieses Stück öffnete mir eine Tür zu neuen Möglichkeiten des musikalischen Denkens. Gerald Barry war also für meine Entwicklung als Komponist sehr wichtig.

Die beiden anderen Kompositionen, die wir heute hören, stammen von Ihnen selbst. Mit Concentric Paths haben Sie eines der meistgespielten zeitgenössischen Violinkonzerte geschrieben. Bei einem Konzert geht es ja immer darum, die Solistin oder den Solisten in ein Verhältnis zu einer größeren Gruppe von Musiker*innen zu bringen. Welche Rolle erfüllen in Ihren Werken die Geige und das Orchester?
In diesem Konzert steht die Sologeige zu Beginn des ersten Satzes ganz allein da. Aber sie sammelt sehr schnell im Orchester Gefährten um sich herum. Der zweite Satz, der sehr komplex ist, bringt einige Konflikte, die jedoch zum Schluss gelöst werden. Im Schlusssatz treffen sich alle zu einer Art Tanz, bis sie schließlich in die Unendlichkeit entschwinden.

Das zweite Werk von Ihnen basiert auf Ihrer Oper The Exterminating Angel. Darin treffen sich Menschen zu einer Abendgesellschaft und können plötzlich das Haus nicht mehr verlassen. Das ist ja eine sehr klaustrophobische Situation. Wie sehr haben Sie sich beim Komponieren des Werks damit identifiziert?
Sehr stark. Immer wenn ich eine Oper komponiere, muss ich durch die Emotionen und Erlebnisse der Protagonisten gehen – damit ich sie in meiner Musik real werden lassen kann.

Wie spiegelt sich das in Ihrer Exterminating Angel Symphony? Nach welchen Aspekten haben Sie die Musik zusammengestellt?
Im ersten Satz kommen die Menschen in froher Erwartung zusammen, sich auf einen schönen Abend freuend. Dann passiert etwas Seltsames: Sie treten zweimal durch die gleiche Tür ein – ein erstes Zeichen, dass sie die Realität verlassen. Das hört man in der Musik. Was passiert, wenn die Leute merken, sie können nicht mehr aus dem Haus? Sie gehen einfach schlafen und es erklingt ein Militärmarsch, der für den Exterminating Angel, den Würgeengel, steht. Der dritte Satz ist dem Liebespaar gewidmet, das sich in diesem magischen Gefängnis entschließt, gemeinsam zu sterben. Im letzten Satz habe ich Walzer-Fragmente aus der ganzen Oper zu einem großen Walzer zusammengesetzt.

Wie nützlich ist es für Sie als Komponist, auch Dirigent zu sein?
Das ist sehr hilfreich! Als Dirigent kann ich mich – egal, ob ich meine Werke oder die eines anderen aufführe – dem Orchester gegenüber direkt ausdrücken. Als Komponist kann ich mich nur über die Partitur mitteilen. Beim Dirigieren entdecke ich gelegentlich auch noch Dinge, die ich an meinen Werken verbessern kann.

Mit den Berliner Philharmonikern sind sie als Komponist bereits seit 20 Jahren verbunden: Im September 2002 spielte das Orchester beim Antrittskonzert von Sir Simon Rattle als Chefdirigent mit Asyla erstmals ein Werk von Ihnen. Was hat diese Aufführung damals für Sie bedeutet?
Das war ein außergewöhnliches Ereignis in meinem Leben. Ich fühlte mich mitten im Zentrum eines nationalen Events, Simon war in Berlin auf Plakaten an jeder Bushaltestelle präsent. Ich war stolz und glücklich, dass er sich entschieden hat, mir dieses außerordentliche Vertrauen zu schenken: ein neues Werk von einem jungen Komponisten – ein vom Sujet, im Klang und musikalischen Ausdruck radikales Werk. Er war dem Stück gegenüber ganz furchtlos. Eine sehr starke Geste. Für mich war sie sehr wichtig.

Wie haben Sie sich seit dieser Zeit als Komponist entwickelt?
Da müssten Sie eigentlich andere fragen (lacht). Aber eines kann ich sagen: Ich bin meinem Instinkt auf vielen verschiedenen Wegen gefolgt und durfte viele neue Orte entdecken. Darüber bin ich sehr glücklich.

Sie haben schon so unglaublich viel und vielseitige Musik komponiert. Wie halten Sie Ihre Erfindungskraft lebendig?
Ich vertraue auf meine Erfindungskraft. Sie ist ein Geschenk des Lebens. Ich kann mit einem Stück nie alles sagen. Ich liebe es, neue Möglichkeiten in den musikalischen Strukturen zu sehen. Ich empfinde mich diesbezüglich als Architekt, der neue Durchgänge findet. Wenn ein Stück fertig ist, denke ich: »Da ist jetzt nur ein Bild, aber da hätte auch eine Tür sein können.« Und schon habe ich die Idee zu einem neuen Stück.


Und noch ein Debüt:

Pekka Kuusisto erstmals bei den Berliner Philharmonikern – als Solist von Adès' Violinkonzert

Laut der britischen Zeitung The Telegraph hat Pekka Kuusisto »den persönlichsten Klang aller klassischen Geiger der Gegenwart « – gleichzeitig ist er ein musikalischer Grenzgänger, der mühelos zwischen Stilen wie Folk, Jazz und Elektro hin- und herwechselt: »Je mehr ich mich mit ganz unterschiedlichen Genres beschäftige, desto tiefer kann ich wiederum in die klassische Musik eintauchen.« Außerdem schätzt der charismatische Finne die Kunst der Improvisation, bei der es viele Aspekte gebe, »die äußerst nützlich für uns als klassisch ausgebildete Musiker sind. Bei Bach spürst du in jeder Note, dass er ein begnadeter Improvisator war.« Grundsätzlich, sagt Kuusisto, bestehe seine Arbeit darin, »Geschichten zu erzählen. Storytelling ist die Essenz meines Tuns. Manchmal erzähle ich meine eigenen Geschichten, manchmal die von anderen. Ich bin wie ein Schauspieler ohne Worte, aber mit einem Instrument.« Der Geiger, Dirigent und Komponist, der an der finnischen Sibelius-Akademie und an der Indiana University Jacobs School of Music in Bloomington studierte, ist heute künstlerischer Leiter des Norwegischen Kammerorchesters und ab der Saison 2023/24 Erster Gastdirigent und künstlerischer Co-Direktor des Philharmonischen Orchesters Helsinki. Als begeisterter Fürsprecher zeitgenössischer Musik arbeitet er mit Komponisten wie Bryce Dessner, Daníel Bjarnason und Thomas Adès zusammen, dessen Violinkonzert Concentric Paths Kuusisto als »berührende und tief emotionale Musik« bezeichnet.

Pekka Kuusisto
(Foto: Kaapo Kamu)