Mit gleich zwei Werken wird zum Jahreswechsel Romeo und Julia gehuldigt – dem populärsten Liebespaar der Weltliteratur, das William Shakespeare unsterblich machte. Die Berliner Philharmoniker spielen einen Satz aus Sergej Prokofjews gleichnamiger Ballettsuite, Jonas Kaufmann hingegen bringt eine Arie aus Riccardo Zandonais Oper Giulietta e Romeo mit – eine Rarität der spezifisch italienischen Operngattung des Verismo, der das Leben schärfer, härter, unbarmherziger und gefühlvoller wiedergeben wollte, als es sich die vorangegangenen Komponistengenerationen getraut hatten.
Unter der Sonne Italiens
Das Programm des Silvesterkonzerts 2022

Ohne Italien wäre das Leben ein Irrtum: Das hat Friedrich Nietzsche zwar nicht ganz so gesagt; aber er liebte die Sonne des Südens und die Musik, die von ihr inspiriert ist. Das Land, das die Kunstform Oper hervorgebracht hat, in dem die berühmteste Liebesgeschichte der Welt spielt und das als Sehnsuchtsziel immer wieder die aus nördlicheren Gefilden stammenden Komponisten inspiriert hat, ist das Thema des Silvesterkonzerts 2022. Die Berliner Philharmoniker feiern den Jahreswechsel mit Musik aus und über Italien, geschrieben von fünf italienische Komponisten und von zwei russischen, deren Herz für das Land schlug, wo die Zitronen blühen.
Verdis »La forza del destino«
Am Anfang steht der Großmeister der italienischen Oper im mittleren und späten 19. Jahrhundert. Im selben Jahr wie Richard Wagner geboren und oft genug gegen den deutschen Antipoden ausgespielt, eint Giuseppe Verdi mit seinem Zeitgenossen das Gespür für politische Umwälzungen. Verdi war sich bewusst, dass drängende Probleme der Lösung harrten, vor allem die Befreiung Italiens von österreichischer und französischer Fremdherrschaft und die Einigung der zersplitterten Kleinstaaten.
Nach der Premiere von Un ballo in maschera (Ein Maskenball) 1858 erklärte Verdi sein Opernschaffen für beendet und wurde stattdessen Parlamentsabgeordneter. Als jedoch der Tenor Enrico Tamberlik ihm einen Kompositionsauftrag fürs kaiserliche Opernhaus von Sankt Petersburg antrug, konnte er nicht widerstehen. So entstand die Oper La forza del destino (Die Macht des Schicksals), in der die Liebe zwischen Donna Leonora, der Tochter eines spanischen Marchese, und dem als »Mestize« diffamierten Don Alvaro viele unwahrscheinliche Wendungen nimmt, wobei das Thema der Verblendung durch rassistische Vorurteile allgegenwärtig ist.
Die »Sinfonia« genannte Ouvertüre stellt die einprägsamsten Themen der Oper vor: das aus drei Noten bestehende »Schicksalsmotiv« ebenso wie eine vorantreibende Streicherfigur, die entscheidende Szenen der Oper prägt. Am Beginn des dritten Aktes hat die Handlung Alvaro als Hauptmann in spanischen Diensten nach Italien verschlagen, wo ihn die Gedanken an Leonora, die verlorene Liebe seines Lebens, verfolgen.
Zudem blickt er auf das Schicksal seiner Eltern zurück: eines spanisches Edelmanns und einer Tochter des letzten Inka-Königs. Durch ihre dynastische Verbindung wollten sie nicht zuletzt das Morden der Kolonialherrscher in Südamerika beenden – vergeblich. Im Feldlager in den Albaner Bergen bittet Alvaro Leonore, die er tot glaubt und sich als Engel vorstellt, ihn bald von den Leiden seines Daseins zu erlösen.
»Romeo und Julia« von Zandonai und Prokofjew

Zandonai war auf einem guten Weg, der rechtmäßige Nachfolger Giacomo Puccinis zu werden. Nach seinem Studium in Pesaro bei Pietro Mascagni, von dem am diesem Abend ebenfalls Werke erklingen, wurde sein 1908 uraufgeführter Opernerstling Il grillo del focolare (Das Heimchen am Herd) zu einem großen Erfolg. Auch als Dirigent war er vielbeschäftigt und fungierte einige Jahre als Konservatoriumsdirektor in Pesaro.
Von seinen rund zehn Opern gilt vor allem Francesca da Rimini auf ein Libretto von Gabriele d’Annunzio als ein Geheimtipp unter den späten Blüten des Verismo. Giulietta e Romeo spiegelt das archaische Flair der Handlung auf musikalisch fantasievolle Weise wider und ist durch Verwendung des örtlichen Dialektes spezifisch auf Verona zugeschnitten. Jonas Kaufmann hegt ein besonderes Faible für die vor hundert Jahren uraufgeführte Oper. In der Arie »Giulietta! Son io« aus dem dritten Akt findet Romeo die schlafende Julia in der vergitterten Familienkapelle, und da sie auf sein Rufen nicht reagiert, hält er sie schließlich für tot und nimmt Gift. Als sie endlich doch erwacht, ist es zu spät, denn ohne ihren Geliebten hat auch sie keine Lebenskraft mehr – beide sterben in einer letzten Umarmung.
Diesen doppelten Tod wollte Sergej Prokofjew in seinem Romeo und Julia-Ballett eigentlich vermeiden. 1934 nahm er die Arbeit an einer Szenenfolge mit Happy End auf: »Die Gründe«, so Prokofjew, »waren rein choreographischer Natur – Lebende können tanzen, nicht aber Gestorbene.« Schließlich verzichtete er jedoch auf diese Umdeutung. Insgesamt ging es Prokofjew weniger um die Darstellung der familiären Machtkämpfe als um die Konflikte, in denen die Liebenden wegen der überholten Ehrbegriffe der Familienclans verstrickt sind. Schon vor der Uraufführung im mährischen Brünn 1938 hatte Prokofjews Musik begonnen, über zwei Orchestersuiten die Konzertsäle zu erobern. Aus der ersten Suite entstammt die berühmte Nummer Tybalts Tod, die schildert, wie Romeo einen Cousin Julias im Duell ersticht.
Versimo-Arien von Giordano und Mascagni

(Foto: Universitätsbibliothek Leipzig, Germany - Public Domain.)
Die zwei weiteren Arien, die Jonas Kaufmann für dieses Programm ausgewählt hat, gehören ebenfalls dem Verismo an. In Umberto Giordanos Andrea Chénier – 1896 an der Mailänder Scala uraufgeführt – ist der Titelheld ein Dichter. Zu Zeiten der Französischen Revolution gerät er zwischen gesellschaftlichem Engagement fürs Volk und glühender Liebe zu einer Aristokratin in die Mühlen der Schreckensherrschaft Robespierres.
Schon im ersten Bild der Oper wird das deutlich: Auf einer Feier im Schloss der Gräfin Coigny wird Chénier von der schönen Tochter des Hauses gedrängt, eine Kostprobe seines lyrischen Könnens zu geben. Die Stegreifdichtung über das verabredete Thema »Liebe« gerät zum flammenden Appell für soziale Gerechtigkeit. Schon fürchtet die Festversammlung, dass der Fauxpas noch blutige Folgen haben wird. Und wirklich: Maddalena de Coigny und ihr revolutionärer Poet enden auf dem Schafott.
Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana war die Blaupause des Verismo. Sie gibt die Handlung quasi in Echtzeit wieder; die Vorgänge brauchen auf der Bühne annähernd so viel Zeit wie in Wirklichkeit. Auf das Orchester-Intermezzo, das den scheinbaren Osterfrieden in einem sizilianischen Bauerndorf repräsentiert, folgt der herzzerreißende Abschied Turiddus von seiner Mutter, das »Addio alla madre«: Der junge Mann, der seine Verlobte Santuzza mit der Frau eines anderen betrogen hat, ahnt, dass das unvermeidbare Duell für ihn tödlich ausgehen wird, und bittet die »Mamma«, sich Santuzzas anzunehmen, sollte er nicht zurückkehren.
Nino Rotas »La strada«
Zwei Orchesterwerke schließen das Konzert ab. Das erste stammt von Nino Rota – neben Erich Wolfgang Korngold vielleicht der einzige Komponist, der sowohl in der Film- wie in der Konzertmusik unbestritten Meisterwerke geschaffen hat. Von Koryphäen wie Ildebrando Pizzetti und Alfredo Casella in der klassischen Musik ausgebildet, war er viele Jahre lang selbst Kompositionsprofessor und Konservatoriumsdirektor, schrieb Solokonzerte ebenso wie Symphonien. Berühmt aber wurde er durch sein Filmschaffen, ob für Francis Ford Coppolas Der Pate, für Luchino Viscontis Der Leopard oder Franco Zeffirellis Romeo und Julia. Eine besonders fruchtbare Zusammenarbeit verband ihn mit Federico Fellini, der in seinen Filmen ein ungeschöntes und dafür umso wahrhaftigeres Italien schildert. Ihre dritte gemeinsame Arbeit war Fellinis frühes Meisterwerk La strada (1954): die herzzerreißende Geschichte eines grobschlächtigen Schaustellers – dem sprichwörtlich gewordenen »großen Zampanò« – und der kleingewachsenen, eigenwilligen Gelsomina. Zehn Jahre später wurde Rota von der Mailänder Scala beauftragt, eine Ballettsuite über dasselbe Sujet zu schreiben. Natürlich benutzte der Komponist dabei die Filmmusik aus La strada, griff aber auch auf andere seiner Soundtracks zurück und schrieb zusätzlich neue Musik. Dazu gehören die beiden Sätze, die heute erklingen.
Tschaikowskys »Capriccio italien«
Für Peter Tschaikowsky war Italien eine Liebe auf den zweiten Blick. Ob Venedig, Florenz, Neapel oder Rom: Alle diese Städte fand er bei seinen ersten Besuchen furchtbar. Als er dann den Winter 1879/80 in Rom verbrachte, sah das schon anders aus, da bewunderte er die Kunst Michelangelos und Raffaels und freute sich an der italienischen Mentalität. In einem Brief an seine Gönnerin Nadeschda von Meck schrieb er: »Wir stecken jetzt mitten im Karneval […]. Beobachtet man die tobende Menge auf dem Corso aufmerksamer, so stellt man […] die Echtheit und Natürlichkeit dieser Fröhlichkeit fest. Ich glaube, die Menschen atmen sie mit der zärtlichen Wärme dieser Luft ein […]. Ich bin immer noch gereizt und nervös […]. Trotzdem habe ich in den letzten Tagen erfolgreich gearbeitet und den Entwurf einer italienischen Fantasie über Volksthemen beendet, der ich eine erfolgreiche Zukunft vorauszusagen wage. Sie wird wirksam sein, denn die verarbeiteten Melodien, die ich Sammelwerken entnommen und auf der Straße gehört habe, sind reizend.«
Die italienische Fantasie, Capriccio (zu deutsch: Laune, Einfall) betitelt, hatte zwar die musikalische Unterhaltung des Publikums zum Ziel, aber Tschaikowsky verwendete trotzdem viel Sorgfalt auf einen wirkungsvollen Spannungsbogen mit Steigerungen an Tempo, Lautstärke und Klangfülle. Das Werk beginnt mit einem Militärsignal; über vibrierenden Begleitakkorden entspinnt sich anschließend ein Lied voller Sehnsucht und Pathos, das zurück zur Anfangsfanfare führt. Auf diesen dramatischen Einstieg folgt eine populäre Kanzone »alla napolitana«, von zwei Oboen intoniert, die durchs ganze Orchester wandert. Immer munterer wird es, mit einem zügigen Volkstanz und einer wirbelnden Tarantella. Weitere Musikanten gesellen sich hinzu, auch das schmissige Schlagwerk mit Trommel, Becken und Tamburin. Kaum sind sie alle beisammen, wird aus vollem Halse die neapolitanische Kanzone geschmettert und dann zum Schlussspurt angesetzt. Der eigentlich so heimatverbundene Tschaikowsky lässt sich hier fröhlich auf folkloristische Themen eines anderen Landes ein – und beweist damit seinen offenen Geist und sein weites Herz.
Malte Krasting