Sabine Devieilhe und Maxim Emelyanychev im Doppelporträt
Sabine Devieilhe (Foto: Parlophone Records Limited / Anna Dabrowska)
Sie sind ein Dreamteam im internationalen Konzertbetrieb: die französische Sopranistin Sabine Devieilhe und der russische Dirigent Maxim Emelyanychev. Ende Oktober debütieren sie bei den Berliner Philharmonikern und zeigen dabei, wie Mozart modern interpretiert klingen kann.
Bei kaum einem anderen Komponisten hat sich das Klangideal im letzten halben Jahrhundert so sehr gewandelt wie bei Wolfgang Amadeus Mozart. Noch in den 1960er-Jahren galten die gediegenen Interpretationen von Karl Böhm mit den Wiener Philharmonikern als das Nonplusultra, wenn es um den »wahren« Mozart ging. Dann aber kam die Originalklangbewegung um Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner und Christopher Hogwood und fegte mit bissigem Zugriff hinweg, was vorher gültig war. Dieser Mozart bot keine zierliche Rokokokunst, da erinnerte nichts mehr an Nymphenburger Porzellan. Nein, die Herren Pioniere verzichteten auf den bloßen Schönklang, ließen die Streicher ohne Vibrato spielen, zogen historische Blasinstrumente heran, Naturtrompeten und -hörner mit ihren charakteristischen Klangfarben. Und doch war damit kein Endpunkt erreicht, der Zeitgeist schreitet unaufhörlich voran. Wie der Mozart der jungen Generation klingt, das zeigen die Berliner Philharmoniker Ende Oktober, mit gleich zwei spektakulären Debüts auf einen Streich: Erstmals dirigiert dann der Russe Maxim Emelyanychev das Orchester, und die französische Wundersopranistin Sabine Devieilhe stellt sich mit Mozart-Arien vor.
»Je länger man in einem Museum herumwühlt, desto ärmer wird die Interpretation.«
Was den Spagat zwischen der korrekten historischen Aufführungspraxis und interpretatorischer Freiheit angeht, da sind sich die beiden ziemlich einig. Sabine Devieilhe weiß, dass sie der musikwissenschaftlichen Forschung viel zu verdanken hat: »Ich möchte die Werke gerne so vortragen, wie Mozart sie gedacht hat. Das will ich ergründen. Aber es geht mir nicht darum, mich um jeden Preis zu spezialisieren.« Und Maxim Emelyanychev bekennt: »Jeder muss für sich selbst entscheiden, in welchem Maß er sich in einen Archäologen verwandelt und wie tief er gräbt. Je länger man in einem Museum herumwühlt, desto ärmer wird die Interpretation.« Sich sklavisch an historisch verbürgte Vorgaben zu halten, lehnt er ab. »Wir wissen zum Beispiel, dass eine Symphonie von Mozart mit sechs ersten Violinen aufgeführt wurde, aber funktioniert das auch in einem großen Saal? Man muss beim Dirigieren offenbleiben, anstatt fertige Entwürfe mitzubringen.«
Offenheit haben Sabine Devieilhe und Maxim Emelyanychev in ihrem Werdegang beide immer wieder bewiesen. Devieilhe, die 1985 in der Normandie als eine von vier Töchtern einer musikliebenden Familie geboren wurde, begann ihre Ausbildung auf dem Violoncello und wurde als 12-Jährige ans Konservatorium von Caen aufgenommen. Nach dem Abitur aber studierte sie zunächst in Rennes Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Musikethnologie und verließ die Universität mit dem Diplom.
Allerdings entdeckte sie während dieser Zeit auch ihr Faible fürs Singen: Sie wirkte nebenbei im Opernchor mit, verblüffte dort alle mit ihrer schönen Stimme, erhielt sogleich erste Soloengagements, und entschied sich 2008 ganz folgerichtig für die professionelle Gesangslaufbahn. Nach nur drei Jahren in der Gesangsklasse von Pierre Mervant am Conservatoire de Paris hielt sie ihr Konzertexamen in den Händen, gekrönt mit dem Ersten Preis.
Maxim Emelyanychev (Foto: Andrej Grilc)
Für den drei Jahre jüngeren Maxim Emelyanychev war die klassische Musik schon seit den allerersten Kindheitstagen da. Denn sein Vater war Trompeter, seine Mutter Chorsängerin in Nischni Nowgorod. Als Dreijähriger begleitete er die Eltern bereits zu den Proben: »Noch bevor ich zur Schule ging, wusste ich, was ein Horn in F oder eine B-Klarinette ist«, erzählt er lächelnd. Selbst sang er früh im Knabenchor und erhielt Klavierunterricht, doch mit zwölf Jahren hatte er für sich entschieden: »Ich will Dirigent werden!« Tatsächlich erhielt Emelyanychev rasch Gelegenheit, sich am Pult zu erproben: Im Internet findet sich ein Video, auf dem der erst 13-Jährige entschlossen und souverän mit dem Taktstock vor einem Orchester zu Werke geht. Am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium konnte Emelyanychev beim berühmten Gennadi Rozhdestvensky studieren. Sich mit dem klassisch-romantischen Repertoire zu begnügen, kam für ihn aber nicht infrage. Warum auch – die Welt der Musik bot doch viel mehr! Weshalb er auch das Spiel historischer Instrumente erlernte, auf dem Cembalo und dem Hammerklavier brillierte und sich sogar auf dem Kornett ausbilden ließ.
Und auch das verbindet Sabine Devieilhe mit Maxim Emelyanychev: Beide wurden schnell mit Etiketten versehen, mit Vorbildern in Verbindung gebracht – und beide haben diese Fesseln ebenso rasch zu sprengen gewusst. Als Devieilhe die Bühnen der Welt eroberte, kamen die Melomanen so schnell nicht aus dem Staunen heraus: Was hat diese Frau nur für eine stupende Sopranhöhe! Die Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte, die in ihrer berüchtigten Rachearie das stratosphärische viergestrichene f erklimmen muss – ein Kinderspiel, wenn sie es singt. Ja, Devieilhe versteht es sogar, bei den Koloraturen in der extremsten Höhenlage noch dynamische Abstufungen vorzunehmen. Oder die schwerelos klingelnde Glöckchenarie der Lakmé aus der gleichnamigen Oper von Léo Delibes: Sabine Devieilhe intoniert sie so immateriell, als wäre sie selbst nicht aus Fleisch und Blut, sondern ein Glockenspiel oder eine Celesta. Und dann erst die Olympia aus Offenbachs Les Contes d’Hoffmann: Schon der originale Part dieser Automatenpuppe ist kaum zu meistern, aber Devieilhe setzt noch einen drauf und garniert ihn mit zusätzlichen Fiorituren – die Überwindung der Materie durch technische Perfektion.
Diese drei Paradepartien trugen Sabine Devieilhe nicht nur die Auszeichnung als Entdeckung und bald darauf als Sängerin des Jahres bei den »Victoires de la Musique« ein, sie führten auch dazu, dass man sie zur legitimen Erbin von französischen Diven wie Natalie Dessay oder Mady Mesplé ausrief. Aber Devieilhe ist viel mehr, man kann sie nicht bloß auf das Koloraturfach festnageln. Gerade bei Mozart hat sie ihre bemerkenswerte Vielseitigkeit unter Beweis gestellt, als sie 2016 gemeinsam mit ihrem Ehemann Raphaël Pichon und dessen Ensemble Pygmalion ein Album mit Arien vorlegte, die Mozart für die drei Schwestern Josepha, Aloisia und Constanze Weber komponiert hatte, und damit für drei verschiedene Stimmfächer. Hier verzaubert Devieilhe nicht nur mit halsbrecherischen Koloraturen und irrwitzigen Intervallsprüngen; sie zeigt auch, was für eine ausgesprochen schöne, runde, lyrische Stimme sie besitzt. Da platzt kein Ton raus, alles wird delikat und wohltemperiert ausgestaltet, nichts gerät kitschig oder plakativ. Ganz abgesehen davon, dass sie auch hinreißende humoristische Akzente zu setzen vermag. Wie weit sich Sabine Devieilhe mittlerweile vom Typus der »Nachtigall« entfernt hat, zeigt auch die Tatsache, dass sie eine Rolle wie Debussys Mélisande in ihr Repertoire aufgenommen hat und in Mozarts Entführung aus dem Serail von der soubrettenhaften Blonde zur dramatischeren Partie der Konstanze gewechselt ist.
Aus dem Windschatten von Teodor Currentzis
Maxim Emelyanychev wiederum wurde der westlichen Musikwelt zunächst im Windschatten von Teodor Currentzis ein Begriff – und zwar als Tastenvirtuose. Als Currentzis zwischen 2014 und 2016 seine Mozart-Da-Ponte-Trilogie auf CD vorlegte, fragten sich viele: Wer ist denn nur dieser Pianist, der die Rezitative auf dem Hammerklavier mit so viel Witz und Fantasie ausgestaltet? Es war Emelyanychev, der jedoch kurz danach selbst zur Pultkarriere ansetzte. 2016 übernahm er die Leitung beim Barockensemble Il pomo d’oro, im März 2018 gab er als Einspringer sein Debüt beim Scottish Chamber Orchestra – und begeisterte die Musikerinnen und Musiker so sehr, dass sie ihn prompt zu ihrem neuen Chef und Nachfolger von Robin Ticciati ernannten. Und das war nur der Anfang. Mittlerweile hat er auch schon das Royal Concertgebouw Orchestra dirigiert und das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, das London Philharmonic und das Orchestre de Paris. Als Emelyanychev im Januar 2022 seinen Einstand beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin gab, schwärmte der Tagesspiegel von seiner »elektrisierenden Ausstrahlung« und stellte fest: »Ohne Taktstock modellieren seine Hände Melodien, Bögen und kleinste Figurationen als zierliches Fingerwerk, um seine elementare Freude an Klangseligkeit zu vermitteln.«
Und tatsächlich: Wenn man Emelyanychev im Konzert erlebt, dann springt einen seine Lust auf Musik regelrecht an, auch beim Gespräch wird klar,es muss nur irgendein Tasteninstrument in der Nähe sein, schon spielt er etwas vor, mit geradezu kindlicher Begeisterung. Emelyanychev liebt flotte Tempi und knackige Rhythmen, er musiziert nicht mit dem breiten Pinsel, sondern setzt auf Transparenz, bringt dabei verborgene Gegenstimmen zum Vorschein, kostet die Dissonanzen genüsslich aus, lässt die Musik swingen. Alles flimmert und wieselt und wimmelt bei ihm nur so vor Leben. Sein Ideal ist die Kammermusik. Weshalb er auch das Orchester gerne mit einer Familie vergleicht, die gemeinsam etwas erreichen will. In diese Familie ordnet er sich ganz selbstverständlich ein und führt sich nicht als Maestro auf. »Ich bin mit den Musikern auf der Bühne«, beschreibt er seine Position, »und dabei entsteht geballte Energie, es liegt Elektrizität in der Luft.« Die überträgt sich dann zwangsläufig aufs Publikum. Dass der Funke auch bei seinem ersten Auftritt mit den Berliner Philharmonikern überspringt, das ist ihm zu wünschen. Mozart wird dabei als guter Stern über ihm leuchten. Denn mit diesem Spitznamen, »Mozart«, wurde Emelyanychev schon in der Schulzeit bedacht … Der Kreis rundet sich.