»Ein Stück, das bluten muss«

Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja im Gespräch

Im Video: Patricia Kopatchinskaja über Hartmanns »Concerto funebre«

Das Concerto funebre von Karl Amadeus Hartmann ist eine »dunkle, starke Musik«, in der »jeder Ton wie ein Wort aus einem Evangelium ist«. So Patricia Kopatchinskaja, die mit diesem Werk ihren Einstand als Artist in Residence der Berliner Philharmoniker in der Saison 2021/22 gibt. Im Gespräch erzählt sie, was ihr bei der Interpretation des Concerto funebre besonders wichtig ist. Wir erfahren, inwiefern ihre künstlerische Arbeit der mRNA-Forschung ähnelt und wie sie auf der Bühne ihrem Traum einer immerwährenden Kindheit nahekommt.

»Ich bin eine Dissonanz«, haben Sie einmal gesagt. Mit wem oder was dissonieren Sie?

Für mich besteht die ganze Welt aus Klang. Ich empfinde sogar Möbel oder Essen als Musik und Klang und Form. Oder als Musiktheater. Auch in meiner Seele gibt es immer eine Vibration. Die Dissonanz ist wahrscheinlich mein Klang. Etwas, das man auflösen muss. Wobei ich diese Auflösung noch nicht gefunden habe.

Hat diese Dissonanz mit ihrer Herkunft zu tun? Mit Ihrer Biographie als Emigrantin?

Sicherlich. Ich bin ein Flüchtlingskind und als 13-Jährige mit meiner Familie aus Moldawien nach Wien gekommen. Die erste Station war ein Flüchtlingslager. Aber das war für mich kein traumatisches Erlebnis, sondern wie ein Ticket in eine neue Welt. Das war großes Kino nach einem Leben in kleinen Bildern. Zumindest habe ich es damals so gesehen. Jetzt empfinde ich eher das Gegenteil. Ich glaube, meine Kindheit war das Allerschönste, was ich je erleben konnte. Und darauf basiert alles, aus dem ich jetzt schöpfe. Aus der sehr großen Liebe in meiner Familie und aus der moldawischen Erde, die anders ist als irgendwo sonst.

 

»Ich erlebe natürlich die Realität, wie sie ist. Aber viel interessanter ist der Traum.«

Wenn Sie sagen, dass Ihr Musizieren aus Ihren frühen Erfahrungen hervorgeht – was passiert da?

Es ist, als wenn ich immer weiter träumen darf. Als wenn ich Kind bleiben kann und nicht erwachsen werden muss. Ich erlebe natürlich die Realität, wie sie ist. Aber viel interessanter ist der Traum. Dort finde ich meine Wurzeln wieder, die für immer abgeschnitten sind. Die Heimat ist mit der Kindheit verschwunden und existiert nur noch im Hinterkopf. Was weiß ich schon, wer ich bin? Aber in den Stücken, die ich spiele, finde ich mich immer wieder. Die Bühne ist der Ort, an dem ich mich auf die Suche machen darf.

Gleichzeitig blicken Sie in Ihren Konzerten auch nach vorn. Sie spielen viel zeitgenössische Musik und scheinen im wahrsten Sinne des Wortes neugierig zu sein – gierig nach Neuem. Was treibt Sie an?

Wäre ich ein mRNA-Forscher, der an einem neuen Impfstoff arbeitet, würde sich diese Frage ja nicht stellen. Selbstverständlich sucht man nach dem Neuen. Die Frage ist doch eher: Warum spielt man die ganze Zeit altes Zeug? Das hat für mich mit Kunst wenig zu tun und ist eher eine archivarische oder museale Arbeit. Auch das kann spannend sein, aber es ist nicht meins. Ich bin wie ein Hund im Wald, der seiner Nase folgt. Der sich immer fragt: Was ist das für ein Geruch? Ist da vielleicht ein anderer Hund?

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Patricia Kopatchinskaja interpretiert das Concerto funebre mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Chefdirigent Kirill Petrenko.

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In der Saison 2021/22 gehen Sie solchen Fragen als Artist in Residence der Berliner Philharmoniker nach. Wie war Ihre erste Begegnung mit dem Orchester?

Das war 2014 bei einer Aufführung des Violinkonzerts von Peter Eötvös. Jeder einzelne im Orchester hat sich mit Liebe und Hingabe diesem Stück gewidmet – für mich eine große Freude. Mehr kann man sich als Solist nicht wünschen. Dass man nicht allein ist, sondern sich gemeinsam für die Musik einsetzt.

Ein weiteres Bindeglied zwischen Ihnen und den Berliner Philharmonikern ist Kirill Petrenko, den Sie sehr lange kennen, seit Ihrem Studium in Wien. Wie haben Sie ihn damals erlebt?

Kirill Petrenko war immer sehr auffallend. Durch seine Konzentration im Unterricht, durch seine Fragen, die oft interessanter waren als die Antworten der Professoren. Es war schon damals offensichtlich, dass er eine sehr tiefgründige Persönlichkeit ist. Gleichzeitig gab es da immer eine große Menschlichkeit, Warmherzigkeit und Bescheidenheit – gar nicht die typischen Allüren eines Dirigenten. Er ist mir ein treuer Freund.

Was Sie mit Kirill Petrenko gemeinsam haben, ist das Engagement für Werke, die zu Unrecht im Schatten stehen. In Ihrem ersten Konzert dieser Saison spielen Sie das Concerto funebre von Karl Amadeus Hartmann. Was hat es damit auf sich?

Es ist nicht einfach ein ästhetisches Werk, sondern es gibt hier eine gewichtige Aussage. Hartmann war ja selbst ein Widerstandsgeist, und seine Stücke muss man im geschichtlichen Kontext verstehen. Dieses Konzert ist Ausdruck seiner Empörung über die Invasion der Deutschen in die Tschechoslowakei. Es ist eine dunkle, starke Musik, jeder Ton ist wie ein Wort aus einem Evangelium. Es kommt hier nicht auf geigerische Perfektion an, sondern auf Kraft. Man muss selbst zu dieser Kraft werden, man muss sie aushalten. Solche Musik ist gar nicht leicht zu spielen. Es ist ein Stück, das bluten muss.

Patricia Kopatchinskaja und Kirill Petrenko während eines Konzerts 2019.
(Foto: Monika Rittershaus)

Macht ein solcher historischer Hintergrund die Interpretation leichter oder herausfordernder? Empfinden Sie einen Druck, der Größe des Themas gerecht zu werden?

Ich habe mich das zum ersten Mal gefragt, als ich Polyptyque von Frank Martin gespielt habe, wo die Geige die Stimme von Jesus Christus darstellen soll. Da dachte ich mir: Oje, wie soll das gehen? Hartmanns Concerto funebre ist in dieser Hinsicht eigentlich einfach. Man muss sich nur hineinfühlen. Dann erfährt man das Leid, das Hartmann selbst gesehen hat. Er war ein sehr wacher Bürger, der schon in den 1930er-Jahren verstanden hat, was politisch geschieht. Unter seinen Freunden waren Komponisten der so genannten Entarteten Musik, und er hat seine Musik in Deutschland nicht aufführen lassen, weshalb das Concerto funebre seine Uraufführung in St. Gallen erlebt hat. Er war eine Art Emigrant im eigenen Land. Das ist mir alles sehr nahe. Ich komme ja selbst aus einem Land, in dem die Menschen früher nur sehr leise über Politik gesprochen haben. Karl Amadeus Hartmann ist für mich ein Held. Ich sehe seine Musik als ein Ausdruck von Zivilcourage.

 

»Karl Amadeus Hartmann ist für mich ein Held. Ich sehe seine Musik als ein Ausdruck von Zivilcourage.«

Musik und Politik: Das ist ein wiederkehrendes Thema bei Ihnen. Sie haben einmal ein Projekt realisiert, das sich mit dem Klimawandel auseinandersetzt, in Ihrer Residency folgt nun das Projekt Les Adieux, wo es um das Verschwinden der Arten geht. Was kann Musik politisch und gesellschaftlich erreichen?

In den letzten Jahrzehnten haben wir Musiker vielleicht vergessen, welche Rolle wir spielen können, außer dass wir unsere hübschen Kleider und unsere Perfektion zur Schau stellen. Aber es gibt für uns noch andere Themen. Wir werden im Konzert oft zwei Stunden lang von 1800 Menschen angestarrt. Viele kommen einfach, um einen schönen Abend zu erleben. Was ich aber möchte, ist, dass sie sich Gedanken machen. Les Adieux ist ein Projekt, in dem wir Musik zu unserem eigenen Begräbnis spielen. Wir Menschen sind wie Parasiten. Wir kommen auf diese Erde und fressen sie auf. Wir fressen so viel, wie wir können. Kein anderer Parasit, kein Wurm würde jemals seinen Wirt auffressen. Bei uns hochentwickelten Menschen dagegen ist diese Art von Vernunft nicht vorprogrammiert. Was aber kann ich als Musiker tun? Ich kann mich nur auf die Bühne stellen mit einer Resonanz meiner Besorgnis, Ratlosigkeit und Verzweiflung.

Was erhoffen Sie sich insgesamt von dieser Residency? Gibt es für Sie einen Maßstab für Erfolg?

Ich weiß gar nicht, was Erfolg ist. Ich bin sehr glücklich, wenn ich das Gefühl habe, dass das Publikum elektrisiert ist. Das spüre ich sehr stark, dafür habe ich große Antennen. Ich brauche nicht mehr als diese Kommunikation. Wie Sie wissen, geschieht Kommunikation zwischen zwei Menschen nicht allein durch Worte. Es gibt da immer noch etwas anderes, eine Energie, die gerade in der Musik am stärksten ist und die manchmal in Liebe mündet. Dann ist es gut. Ich weiß nicht, was sein wird. Ich möchte mit meinem Publikum Dinge erleben. Ich möchte Wege gehen, die ich selbst noch nicht gegangen bin. Und ich hoffe, dass so viele wie möglich mitkommen.

 

Die Fragen stellte Tobias Möller.

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