»Manchmal fühle ich mich wie ein Koch«
Ein Gespräch mit Oscar Jockel

Oscar Jockel lässt sich ungern festlegen. Er ist als Komponist und als Dirigent erfolgreich, er hat eine französische Handynummer, ein uraltes Haus in einem entlegenen österreichischen Bergdorf und seit neuestem eine Wohnung in Berlin. Bei den Berliner Philharmonikern assistiert er Chefdirigent Kirill Petrenko und ist für zwei Jahre Dirigierstipendiat der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, mit der er nun sein neues Werk paths in the sky uraufführt.
Herr Jockel, was sind Sie denn nun – komponierender Dirigent oder dirigierender Komponist?
Oh, das werde ich immer gefragt! Keins von beidem. Oder beides auf einmal. Ich könnte jedenfalls nicht nur Komponist oder nur Dirigent sein. Ich liebe es, mich in die Partituren großer Komponistinnen und Komponisten der letzten 500 Jahre zu versenken und sie zum Leben zu erwecken. Und dann wieder möchte ich sie alle vergessen, in mich hineinhören und versuchen, meine ganz eigenen Klänge zu finden. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in meiner Lebenssituation: Ich brauche die Einsamkeit in Bretstein, einem mittelalterlichen Bergdorf in der Steiermark mit gerade mal fünf Häusern, wo ich den Wolken über den Alpen hinterherschaue und mehrere Wochen am Stück von morgens bis abends komponiere. Kein Handynetz. Und dann zieht es mich wieder in die Stadt, in die Gesellschaft von Menschen, wo ich in Kultur baden kann.
Wie hat es Sie denn ausgerechnet in dieses Dorf verschlagen? Im Urlaub zufällig vorbeigekommen?
Da kommt man nicht zufällig vorbei! Bretstein liegt am Ende der Straße in einem Talkessel, mitten in den Bergen. Tatsächlich habe ich eine Anzeige auf dem französischen eBay-Pendant gesehen. Die Gemeinde hatte schon seit 30 Jahren versucht, das alte Pfarrhaus zu verkaufen. So konnte ich mir einen lang gehegten Traum erfüllen.
Zurück zur Musik: Beim Blick auf ihre Werkliste fallen die originellen, sprechenden Titel auf, oft kombiniert mit ungewöhnlichen Besetzungen. luft und fleisch für Musiker und Tänzer, dark wood für 21 Bassklarinetten, leuchtende erdbeere auf staubiger wiese. Wie kommen die zustande?
Also, erstmal sind mir poetische Titel wichtig. Nicht einfach nur Orchesterstück Nr. 5 oder so. Ich finde, sie wirken wie japanische Haikus: Obwohl sie auf den ersten Blick sehr konkret scheinen, enthalten sie mehrere Ebenen und öffnen so ungeahnte Assoziationsräume. Vor allem aber ergeben sie sich aus meiner Arbeitsweise. Denn ich fange nicht einfach an zu schreiben und schaue, was mir heute so einfällt. Zuerst ist da ein Klang im Kopf, daraus folgt eine konzeptuelle Idee, ein übergreifender Gedanke, der am Ende bis in jede einzelne Note hineinwirkt. Damit das funktioniert, verbringe ich sehr viel Zeit mit Vorüberlegungen, Strukturplänen, Skizzen. Das kann Jahre in Anspruch nehmen. Diese Grundidee versuche ich dann in einem Titel zu artikulieren, quasi wie in der Dichtung zu »verdichten«.
Wie ist es bei paths in the sky?
Das Orchester ist in fünf Gruppen aufgeteilt, die auf unterschiedlichen Emporen im Saal platziert sind. Alle Musikerinnen und Musiker gehen ihren ganz eigenen Pfad – durch das Stück, aber auch wortwörtlich durch die terrassenartigen ansteigenden Sitzreihen der Philharmonie. Man darf beim Titel aber auch an ganz andere Dinge denken, an spirituelle Lebenswege, an Kondensstreifen von Flugzeugen oder einfach an herabfallende Blätter. Total egal. So wie jede und jeder im Publikum durch die räumliche Bewegung ein äußerst individuelles Hörerlebnis hat, so ist auch die Bedeutung des Titels für jeden individuell.
Und wie würden Sie die Musik beschreiben?
Grundsätzlich bin ich an Klängen interessiert, weit mehr als an Rhythmen oder Melodien. Ich habe also die Vorstellung eines bestimmten Klanges, und den versuche ich, mit Noten nachzubauen. Manchmal fühle ich mich dabei wie ein Koch, der ein Endprodukt vor Augen, aber noch kein Rezept dafür hat. Ich muss erst die richtigen Zutaten auswählen – also das Klangmaterial, die Besetzung –, dann das Mischverhältnis und die Art der Zubereitung. Die Umsetzung, das heißt die Noten aufzuschreiben, geht dann meist ganz schnell.
Wie kann so ein musikalisches Rezept aussehen?
Oft versuche ich, mit einem sehr reduzierten musikalischen Material die größtmögliche Vielfalt zu erzeugen. So wie Giacinto Scelsi, der 1959 vier Stücke geschrieben hat, die mit nur einem einzigen Ton auskommen. Oder wie Josquin Desprez um 1500 mit seinen Proportions-Kanons, deren Einzelstimmen alle auf einem einzigen gregorianischen Choral basieren. Solche Kanon-Techniken nutze ich auch gern. Dabei wiederholen sich bestimmte Tonfolgen oder Pattern, allerdings sind die Stimmen versetzt und nicht unbedingt im selben Tempo. Dadurch entsteht eine sehr komplexe Klangtextur mit raffinierten Überlagerungen. Ich habe einfach Spaß an derartigen intellektuell konstruierten Regelwerken, die ein bestimmtes klangliches Erlebnis hervorbringen. Wie eine auf den ersten Blick undefinierbare, aber einzigartige Wolke, die vorbeischwebt.
Hilft es bei der Komposition, sich als Dirigent die Aufführungssituation vorstellen zu können?
Ja, natürlich. Und trotzdem versuche ich mich davon freizumachen. Denn ich möchte ja meiner jeweiligen Grundidee und meiner ureigenen Klangvorstellung folgen und nicht irgendwelche Floskeln hinschreiben, von denen ich weiß, dass sie gut funktionieren.
Apropos Dirigieren: Sie haben mit einigen der größten Dirigenten unserer Zeit gearbeitet – mit Kirill Petrenko, Sir Simon Rattle, Andris Nelsons, Paavo Järvi. Was war die wichtigste Erkenntnis?
Sie alle verbindet, dass sie einen sehr durchdachten und gleichzeitig sehr emotionalen Zugang zur Musik haben. Aber jeder ist ein anderer Typ, und das ist auch gut so. Denn weil wir in der Klassik ja immer wieder dieselben Stücke spielen, müssen sie jedes Mal neu und anders aufgeführt werden. Sonst stirbt die Klassik.
Die Fragen stellte Clemens Matuschek