Mehr als nur Sibelius

Eine kleine Musikgeschichte Finnlands

Seeblick in Finnland

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildete sich in Finnland eine nationale Musikszene heraus. Jean Sibelius avancierte mit seinen Symphonien und seiner Tondichtung Finlandia zum ersten Nationalkomponisten und Übervater der finnischen Musik. Zeitgenössische Musikschaffende wie Einojuhani Rautavaara, Kaija Saariaho und Esa-Pekka Salonen haben sich aus seinem Schatten gelöst und feiern mit ihrer jeweils ganz eigenen Musiksprache weltweit Erfolge.

Finnland ist in gewisser Weise ein Kunstprodukt. Zwar soll schon vor der Christianisierung des Nordens eine finnische Sprache existiert haben, aber von einer finnischen Nation oder einem finnischen Staat konnte keine Rede sein. Nur ein paar tausend Fischer und Bauern bedienten sich eines autochthonen Vokabulars, in den oberen Gesellschaftsklassen sprach man Schwedisch, und zwar bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Das gilt für Finnlands Nationaldichter Johan Ludvig Runeberg, der den Text der Nationalhymne Vårt Land schrieb, die vom Hamburger Fredrik Pacius vertont wurde, der 1852 auch die erste finnische Oper Kung Karls Jakt komponierte.

Der prägende Einfluss Schwedens, zu dem Finnland 600 Jahre lang gehörte, wird heute gern marginalisiert. Er ist nominell nur noch in Ansätzen erkennbar, da sich viele Künstler im 19. und 20. Jahrhundert umbenannt hatten: Aleksis Kivi, Autor des epischen Romans Seitsemän veljestä (Die sieben Brüder), der als Vater der modernen Literatur in finnischer Sprache gilt, kam als Alexis Stenvall zur Welt; Juhani Aho, der erste moderne Erzähler, hieß ursprünglich Brofeldt; Axel Waldemar Gallén, der bedeutendste Maler des Landes, fügte seinem Nachnamen ein typisch finnisches »Kallela« hinzu.

Die Vorkämpfer der nationalen Selbstbesinnung in dem seit 1809 von Russland beherrschten Land waren vielfach auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Die Verfassung und das Bildungssystem übernahm man aus Deutschland, der Berliner Baumeister Carl Ludwig Engel schuf das klassizistische Helsingfors, heute Helsinki, und der auf die Unabhängigkeit folgende Bürgerkrieg wurde 1918 durch ein deutsches Expeditionskorps zugunsten der Konterrevolution entschieden.

Unnötig zu sagen, dass in dem 1882 – im selben Jahr wie die Berliner Philharmoniker – gegründeten Helsingfors Stadsorkester fast nur Deutsche und Österreicher saßen. Der Chefdirigent aber war ein Finnlandschwede, Robert Kajanus, seines Zeichens der erste bedeutende Komponist des Landes und größte Förderer von Jean Sibelius.

Die »Joiks« genannten Jodler und das 5/4-Metrum sind typisch für finnische Musik.

Gab es vor Kajanus keine echte finnische Musik? Es gab Bernhard Crusell, einen europaweit erfolgreichen Klarinettenvirtuosen, der auch komponierte, und es gab Axel Gabriel Ingelius, der 1847 die erste finnische Symphonie geschrieben hatte und vier Jahre später den ersten Schauerroman Det gråa slottet (Das graue Schloss). Die interessanteste Gestalt war Erik Tulindberg, ein Finanzbeamter aus Österbotten.

Er hinterließ ein Violinkonzert und sechs Streichquartette, die erst 1925 entdeckt wurden und 2005 ihre Tonträgerpremiere erlebten. Bedeutend ist Tulindberg, weil er vermutlich als erster gebildeter Mensch überhaupt die Musik der Samen, des im äußersten Norden lebenden indigen Volkes, zur Kenntnis nahm. Diese Nomaden galten damals als die letzten Heiden Europas und wurden, nicht zuletzt wegen der bei ihnen gebräuchlichen Zaubertrommel, von Naturforschern wie Carl von Linné entsprechend verteufelt.

Tulindberg aber wies den Forschungsreisenden Giuseppe Acerbi, einen passionierten Klarinettisten, auf diesen Schatz hin. Der Italiener war schon bei seiner Nordkapexpedition 1799 über das seltsame 5/4-Metrum gestolpert, das im ländlichen Skandinavien und Russland durchaus verbreitet, in »zivilisierteren« Zonen hingegen kaum bekannt war. Niemand wusste, auf welchem Schlag man das aus einem 2/4- und 3/4-Takt gebildete Muster zu betonen hatte. Acerbi komponierte ein Klarinettenquartett und entledigte sich des rhythmischen Problems, indem er die darin enthaltene »Runa finnoise« mit einer zusätzlichen Viertelpause versah.

Die eigenartige Musik der Samen, insbesondere die »Joiks« genannten Jodler fanden Eingang in einige Werke finnischer und schwedischer Komponisten. Jean Sibelius vermied entschieden solche wie auch andere volksmusikalische Anleihen. Aber selbst er hat eine typisch samische Form der Melodiebildung übernommen, den langen Halteton, der plötzlich in einer Triolenbewegung abbricht. Die ersten Schallplatten mit seinen Symphonien erschienen bereits 1930 in England, dirigiert von Kajanus. Dort und in den USA genoss Sibelius, zum großen Kummer von Igor Strawinsky und Arnold Schönberg, lange Zeit den Nimbus des wichtigsten zeitgenössischen Komponisten.

Jean Sibelius war als erster Nationalkomponist auch der Übervater für die nachfolgenden Generationen.

In Finnland hingegen besaß er nicht nur Freunde. Sein Ruhm legte sich wie ein Schatten auf fast alle komponierenden Landsleute und verhinderte, dass sich Erkki Melartin und der an französischen Idealen orientierte Leevi Madetoja auf dem symphonischen Feld behaupten konnten.

Die Opernbühne, die Sibelius nur mit dem Einakter Jungfrun i tornet (Die Jungfrau im Turm) bedacht hatte, verschaffte Madetojas Pohjalaisia (Die Österbotten) 1924 einen bis dato unbekannten Erfolg, doch wurde gleichzeitig Aarre Merikantos moderner klingende Juha derart böswillig boykottiert, dass er die Handschrift vernichtete. Paavo Heininen rekonstruierte das Werk 1981.

Dieses sogenannte finnische Opernwunder, eng verbunden mit dem Savonlinna-Festival, lenkte in jenen Jahren die Aufmerksamkeit wieder auf Merikanto und überhaupt ältere finnische Musikdramatiker.

Neue Opern von Aulis Sallinen (Ratsumies / Der Reitersmann, 1975), Joonas Kokkonen (Viimeiset kiusaukset / Die letzten Versuchungen, 1975) und Einojuhani Rautavaara (Thomas, 1985) feierten bahnbrechende Erfolge, auch bei mehreren Gastspielen im Ausland.

Jean Sibelius spielt Klavier
(Foto: Jean Sibelius soittaa pianoa von Bonney, Thérèse - Finland - CC BY. europeana.com)

Finnische Komponisten wandten sich jetzt wieder verstärkt dem Nationalepos Kalevala zu, das Elias Lönnrot um die Mitte des 19. Jahrhundert zusammengestellt hatte, und zwar auf Grundlage der von ihm erforschten und aufgezeichneten Volkssagen. Erik Bergman hingegen wählte 1988 als Stoff für seine hochexpressive, avantgardistische Oper Det sjungande trädet (Der singende Baum) ein schwedisches Märchen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem sich Finnland gegen die übermächtige Sowjetunion behauptete, aber der Provinz Ostkarelien verlustig ging, erreichte auch die Symphonik eine neue Blüte. Einar Englunds nach seiner Rückkehr von der Front geschriebene Zweite Symphonie avancierte zum meistgespielten neueren finnischen Gattungsbeitrag, was ihn nicht davon abhielt, sich in seiner Autobiografie I skuggan av Sibelius (Im Schatten von Sibelius) über fehlende Anerkennung zu beschweren.

Pehr Henrik Nordgren schuf acht Symphonien, die teilweise auf archaische Instrumente und Runenmelodien zurückgreifen; genauso oft nutzte Aulis Sallinen das symphonische Genre, wobei sich seine dunkel glühende Tonsprache von der morphologischen Kompositionsmethode eines Sibelius absetzt, während Joonas Kokkonen in seinen Symphonien der introvertierten Welt von Sibelius’ Vierter am nächsten kommt. Einojuhani Rautavaara wiederum, der auch auswärts, vor allem in den USA, erfolgreichste Finne, folgte der Spur majestätisch gleißender Largamente-Passagen, wie sie die Finalsätze von Sibelius’ Zweiter und Fünfter prägen.

Die heute aktiven finnischen Komponistinnen und Komponisten sind längst aus Sibelius’ Schatten getreten.

Die jüngere Generation rebellierte unter dem Motto »Korvat auki!« (Ohren auf!) gegen die in mystischen Tiefen schürfenden Überväter, wobei Esa-Pekka Salonen, Magnus Lindberg und Kaija Saariaho sehr unterschiedlichen kompositorischen Konzepten anhängen. Finnlands wohl produktivster Gegenwartskomponist ist der 1949 geborene, genialische Kalevi Aho, ein Schüler Rautavaaras und Boris Blachers, der bislang fünf Opern, 17 Symphonien und 40 Solokonzerte schrieb.

Das Auftreten derart vieler origineller, moderner Komponisten, die beeindruckende Phalanx ausgezeichneter Dirigenten und die Orchestergründungen selbst in abgelegenen Orten wie Lahti oder Rovaniemi stehen in einem engen Zusammenhang. Finnlands Schulsystem galt seit der PISA-Studie 2000 als europaweit führend und wurde inzwischen nur von Estland überholt. Die Alphabetisierungsquote in dem einst rückständigen Land stieg schon vor dem Zweiten Weltkrieg bis weit über 99 Prozent. Was mit Lönnrots Kalevala und Jean Sibelius begonnen hatte, führte innerhalb weniger Jahrzehnte zur Geburt einer nationalen Hochkultur, die – gerade auf musikalischem Gebiet – Tradition und Innovation wirkungsmächtig zu verbinden weiß.

Volker Tarnow

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