Zwischen Heimatfilm und Avantgarde

Die Künste im Deutschland der 50er- und 60er-Jahre

Philharmonie Berlin 1963
(Foto: Landesarchiv Berlin, Bernd Sass)

Die Biennale 2023 der Berliner Philharmoniker geht auf eine Zeitreise in die 1950er- und 60er-Jahre, eine Zeit voller Widersprüche, zwischen Aufbruchstimmung und Nachkriegskrise. Das spiegelt sich auch in den verschiedenen Kunstgattungen dieser Zeit wider.

»Unhistorische Simplizität aus dem Geist der Opfer« forderte ein Aufruf namhafter deutscher Architekten 1947. Es galt, dem Neoklassizismus der Nazi-Zeit neue Bauten entgegenzusetzen: in klaren Formen, ohne Dekor, ganz wie es das Bauhaus in den 20er-Jahren vorgemacht und seine Meister und Schüler im Exil fortgeführt hatten.

Die »Stunde Null« verlief ganz unterschiedlich für die verschiedenen Künste in Deutschland. Für die Musik und die Architektur bedeutete sie einen echten Neubeginn. Und auch in den anderen Gattungen war die Nachkriegszeit zumindest für die jungen Künstler eine Zeit des Aufbruchs, des Vertrauens in die Zukunft und die Möglichkeiten der Kunst.

Die Kunst jener Zeit auf das Neue zu verengen, wäre allerdings sehr einseitig – wie überhaupt alles Denken in Epochen und klaren Stilabfolgen, um nicht zu sagen: in Schubladen. Im Film zum Beispiel dominierte »Opas Kino«, unter lauter Heimatfilmen und seichten Musikkomödien gingen und gehen die vielen ambitionierten deutschen Filme der 50er- und 60er-Jahre völlig unter.

Literatur: die Form war das Neue, nicht das Vokabular

Und auch in der Literatur blieben Konsalik, Simmel und all die anderen »klassischen« Erzähler wesentlich erfolgreicher als die Autoren der Gruppe 47, Böll, Grass oder Enzensberger, und erst recht als die Avantgardisten wie Arno Schmidt oder Ernst Jandl. Wie überhaupt in der Literatur der Inhalt, die Form – etwa der Kurzgeschichte oder des Doku-Dramas – das neue war, nicht das Vokabular.

Das war in der Musik anders, und auch in der Bildenden Kunst: Die realistische, ja generell die gegenständliche Malerei war desavouiert durch die Nazikunst, und Skulpturen zu schaffen wie Arno Breker verbot sich ebenfalls von selbst. In Malerei und Bildhauerei wurde es in den 50er-Jahren abstrakt – bis hin zu Yves Kleins monochrom blauen oder Lucio Fontanas geschlitzten Leinwänden als Extrempositionen.

Spatial Conception von Lucio Fontana
(Foto: The Israel Museum, Jerusalem, Israel )

Der Wiederaufbau der deutschen Städte erfolgte unter dem Leitgedanken der autogerechten Stadt – man glaubte noch unbedingt an den Fortschritt durch Technologie. Alte Stadtgrundrisse wurden radikal überschrieben mit Bauten, die einen eklatanten Bruch mit der Architekturgeschichte bis etwa 1920 bedeuteten. Fort mit Dekor, Ornament und klassischer Gliederung, her mit klaren Formen und reinen Farben!

Neue Musikwelten

Ähnlich lautete der Schlachtruf der jungen Komponisten. Doch wo sich die jungen Architekten auf eine immerhin jahrzehntealte Tradition des Bauhauses und Altmeister wie Gropius oder Mies van der Rohe berufen konnte, setzten Stockhausen und Boulez, Maderna, Xenakis und Ligeti fast bei Null an. Das große Vorbild Anton Webern war tot. Und die aus der inneren oder äußeren Emigration zurückgekehrten Komponisten wie Hindemith, Blacher oder Hartmann wurden zwar geehrt und geachtet, aber immer weniger gespielt.

Stattdessen entwickelten die jungen Wilden Schönbergs Zwölftontechnik zu einer atemberaubend radikalen, »seriellen« Musik weiter und schufen aus den Basiselementen Tonhöhe, Rhythmus, Dynamik, Klang völlig neue Musikwelten. Dass diese Avantgarde feuilletonbestimmend war, aber nicht breitenwirksam, soll nicht verschwiegen werden. Bach, Mozart und Beethoven blieben die Platzhirsche in den deutschen Konzertsälen, und von der »E-Musik« driftete in rasantem Tempo die (tonale) »Unterhaltungsmusik« fort: Schlager für die Älteren, Jazz und Rock’n’Roll für die Jüngeren.

Iannis Xenakis: Shaar für großes Streichorchester / Peter Eötvös, Dirigent - Berliner Philharmoniker / Aufgenommen in der Philharmonie Berlin, 8. September 2019


Eine Zeit konträrer Bilder

So kommt es, dass man, denkt man an die 50er-Jahre in Deutschland, ganz konträre Bilder im Kopf hat: Innenstädte voller moderner Bauten, aber auch Wohnungen mit Nierentischen und viel Plüsch, auf den Leinwänden abstrakte Malerei im Museum und im Kino das Schwarzwaldmädel, im Opernhaus Wieland Wagners kahle Bühnen, im Sprechtheater Bertolt Brechts Verfremdungseffekt, aber auf dem Nachttisch »Ich denke oft an Piroschka«, der erfolgreichste deutsche Roman der 50er-Jahre. Und dazu als Soundtrack eine Mischung aus Stockhausen und Ligeti, Peter Alexander und Elvis Presley. 

Dennoch bleibt festzuhalten: In allen Kunstbereichen gingen vor allem junge Künstler in den 50ern und 60ern spannende neue Wege, entstanden hochinteressante Werke, die eines verbindet: die Suche nach einer »moralischen« Reinheit und Kraft. Nicht jeder eingeschlagene Pfad war wirklich gangbar, doch auch künstlerische Sackgassen können ungemein anregend sein. Und viele Werke aus der deutschen Nachkriegszeit haben tatsächlich Wege in die Zukunft gebahnt und beeindrucken auch uns heute noch.

Arnt Cobbers

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