
(Foto: Nikolaj Lund)
Antonello Manacorda stammt aus der Schule von Claudio Abbado. Er war Konzertmeister des Gustav Mahler Jugendorchesters und Mitbegründer des Mahler Chamber Orchestra. Mittlerweile gehört er zu den gefragtesten Dirigenten seiner Generation. Im Mai gibt er sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Ein Gespräch über Partituren, Taktstöcke und die Schönheit der Melancholie.
Herr Manacorda, mit welchen Gefühlen sehen Sie Ihrem Debüt bei den Berliner Philharmonikern entgegen?
Mit enormer Vorfreude! Ich empfinde es als große Ehre. Der eigentliche Grund dafür, dass ich seit 22 Jahren in Berlin lebe und mich inzwischen als Berliner fühle, ist, dass Claudio Abbado Chefdirigent der Berliner Philharmoniker war. In den frühen Neunzigerjahren war ich Konzertmeister des Gustav Mahler Jugendorchesters und habe anschließend in gleicher Position das Mahler Chamber Orchestra mitgegründet. Weil Claudio in Berlin wohnte, haben wir uns entschieden, das Büro des Orchesters hier anzusiedeln. Ein Jahr später bin ich nach Berlin gekommen und habe Deutsch gelernt. Ich kenne viele Musikerinnen und Musiker der Philharmoniker, einige sogar noch aus meiner Zeit beim Gustav Mahler Jugendorchester. Als Tutoren in den Arbeitsphasen haben sie uns das Orchesterspiel beigebracht.
Wenn Sie viele Musikerinnen und Musiker kennen und das Orchester oft gehört haben – können Sie dann genau einschätzen, wie die gemeinsame Arbeit werden wird?
Das kann man nie voraussagen, mit keinem Orchester der Welt. Es ist immer eine Spannung da. Zwei Wesen treffen sich an diesen vier Tagen – zwei Tage Proben, zwei Konzerte – und treten in einen Dialog miteinander, später dann auch mit dem Publikum. Wir sind Menschen, da weiß man nie, wie es wird. Was ich tatsächlich schon im Voraus zum Gelingen der gemeinsamen Arbeit beitragen konnte, war die Programmauswahl: Musik, die mir am Herzen liegt und die für mich zum Wichtigsten im Repertoire überhaupt zählt. Mit diesen Stücken kann ich zeigen, wer ich bin, und das ist mir sehr wichtig. Das Orchester hat mich eingeladen – ob es mich dann mögen wird, entscheidet sich in dem Moment, da die Musik erklingt. Authentizität und Ehrlichkeit spielen hierbei sicherlich eine große Rolle.
Mit der Kammerakademie Potsdam haben Sie sämtliche Schubert-Symphonien aufgenommen. Ihren Einstand beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin gaben Sie mit Schuberts Großer C-Dur-Symphonie und jetzt debütieren Sie bei den Philharmonikern mit der Unvollendeten. Werden Sie da nicht auf die Rolle als Schubert-Spezialist festgelegt?
Es war der Wunsch der Philharmoniker, Schubert mit mir zu machen. Ich empfinde das als Kompliment, weil es zeigt, dass meine Schubert-Interpretationen geschätzt werden. Ob man einen Komponisten mit seinem eigenen Orchester über mehrere Jahre hinweg intensiv studiert und aufnimmt oder ob man als Gastdirigent eine Symphonie in vier Tagen erarbeitet, das sind, was die Arbeitsweise betrifft, zwei ganz verschiedene Dinge. Aber es stimmt: Schubert ist einer meiner Lieblingskomponisten.
Naiv gefragt: Was können Sie den Philharmonikern überhaupt Neues vermitteln bei Schuberts Unvollendeter, die die Musikerinnen und Musiker doch aus dem Effeff kennen?
So oft spielen die Philharmoniker Schubert ja gar nicht! Sie haben die Unvollendete mit Rattle und mit Abbado aufgeführt. Und Kirill Petrenko hat in dieser Saison die C-Dur-Symphonie dirigiert. Die Antwort auf Ihre Frage ist: Ein Stück klingt jedes Mal neu. Allein durch die Art, wie ich atme, wie ich phrasiere und Details gewichte, wird es anders klingen als in den Aufführungen zuvor.
Wie haben Sie die drei übrigen Stücke ausgewählt?
Mein zweiter großer Wunsch war Mahler. Ich habe große Teile seines Werks unter Abbados Leitung mit dem Lucerne Festival Orchestra aufgeführt, ich habe, wie erwähnt, im Gustav Mahler Jugendorchester gespielt, habe das Mahler Chamber Orchestra mitbegründet – Mahler ist ein ganz wichtiger Komponist für mich. Die Rückert-Lieder, die ich oft mit Abbado erlebt habe, sind mir besonders nahe. Sie hier jetzt dirigieren zu dürfen, hat eine starke emotionale Bedeutung für mich. Mit Christian Gerhaher als Solisten ist es das Nonplusultra! Im nächsten Schritt kam dann Schönberg hinzu. Seine Zweite Kammersymphonie, 1906 begonnen, aber erst 1939 in den USA vollendet, wird selten aufgeführt. Der sehr tiefe, tragische Expressionismus des ersten Satzes trifft auf den beinahe kubistischen Neoklassizismus des zweiten.
Diese Doppelgesichtigkeit wiederum stellt die Verbindung zu Mahler und Schubert her – aber auch zu Beethovens Coriolan-Ouvertüre, die das Programm eröffnet. Erst als die Werkfolge verabschiedet war, habe ich festgestellt, dass abgesehen von Schönberg jedes Stück mit einem Diminuendo endet. Das ist merkwürdig und war mir vorher nicht bewusst. Ich denke, die vier Kompositionen spiegeln, wie ich bin und was mir wichtig ist. Es gibt da viel Moll, viel Melancholisches. Es geht mir nicht um den großen explodierenden Applaus nach dem letzten Ton – es geht einfach um großartige Musik!
Warum sind Sie überhaupt von der Geige ans Dirigentenpult gewechselt?
Ich habe das weniger als Wechsel empfunden denn als organische Entwicklung. Ich identifizierte mich mit der Rolle des Konzertmeisters, fühlte mich aber nie im eigentlichen Sinne als Geiger. Die Funktion im Orchester hat mich viel mehr interessiert als das Instrument als solches oder die Frage, wie ich die Hände bewege. Auch an der Gründung des Lucerne Festival Orchestra mit Claudio Abbado war ich ja beteiligt. Wie man einen herausragenden Klangkörper von Null auf die Beine stellt – diese Aufgabe hat mich fasziniert. Und irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich als spielender Musiker an Grenzen stieß.
Wenn ich das Mahler Chamber Orchestra vom Konzertmeisterpult aus leitete, fühlte ich mich durch das Instrument in der Hand in meinen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt. Eines Tages wurde ich dann eingeladen, eine Tourneeoper in Italien zu dirigieren. Ich hielt die für verrückt! Als ich Simon Rattle fragte, ob ich zusagen sollte, meinte er: »Ich habe schon immer gedacht, dass du dirigieren müsstest. Probiere es einfach!« Also habe ich es versucht – und vermutlich ziemlich schlecht gemacht. Obwohl ich sofort Feuer gefangen habe, war mir gleich klar, dass ich das ganz ernsthaft würde erlernen müssen. Deshalb bin ich zu Jorma Panula zum Studium nach Helsinki gegangen.
Jorma Panula spricht ja kaum über die Musik, er lehrt vor allem die Technik, die Organisation und wie man mit einem Orchester kommuniziert. Sind das nicht Dinge, die man nur in der Praxis lernt?
Ganz ehrlich: Mit ihm spricht man so gut wie überhaupt nicht. Aber Jorma ist der größte Pädagoge, den ich je erlebt habe. Er hat fast allen Dirigenten meiner Generation und mir natürlich auch Instrumente an die Hand gegeben, mit deren Hilfe wir von uns selber lernen können. Als Dirigent ist man sein eigener Lehrer.
Dirigieren zu studieren, ist also sinnvoll?
Ich finde es sehr wichtig, aber die Frage ist, bei wem? Es ist sehr schwer, eine Dirigier-Didaktik zu entwickeln. Jorma hat eine sehr erfolgreiche und sehr gute entwickelt, finde ich. Und natürlich – man braucht die Praxis. In Finnland gehört es dazu, dass man als Student wirklich mit einem Orchester arbeitet. Man kann Studenten für wenig Geld engagieren und mit ihnen proben. Es ist sehr wichtig, dass man Erfahrungen sammelt im Umgang mit Musikern. Meine Jahre als Konzertmeister haben mir sehr geholfen. Aber es ist doch etwas ganz anderes, wenn man vor einem Orchester steht. Es ist unbeschreiblich schwierig, das zu lernen.
Sie haben bei Kammerorchestern und kleinen Operntruppen angefangen, wurden Chefdirigent der Kammerakademie Potsdam und haben einige Jahre Het Gelders Orkest in Arnheim geleitet. Nun dirigieren Sie an den Staatsopern von Berlin, München und Wien, an Covent Garden in London und an der Met, bei der Dresdner Staatskapelle und der Tonhalle Zürich. Fühlt es sich an, als seien Sie im Olymp angekommen?
Die Arbeit verändert sich, weil das Niveau der Musiker, mit denen ich inzwischen arbeite, extrem hoch ist. Jorma Panula hat immer gesagt: »Störe das Orchester nicht! Hilf ihm!« Das ist sein Kernsatz. So banal das klingt: Es ist extrem wichtig, dass man die Arbeit des Dirigenten als Hilfe versteht. Orchester spielen auch alleine schon ziemlich gut. Wer da vorn steht, ist nur dazu da, ein besseres gegenseitiges Verständnis, ein intensiveres Zuhören zu ermöglichen und eine gemeinsame Richtung finden zu helfen. Natürlich brauche ich Autorität, anders geht es nicht, aber nicht im despotischen Sinne. Bei weniger guten Orchestern muss man viel mehr helfen. Wenn man immer häufiger sehr gute Orchester dirigiert, wird man zusehends befreit von den technischen Schwierigkeiten des Zusammenspielens. Man darf einfach nur Musik machen! Und das ist ein großer Genuss.
Haben Sie sich nicht schon lange gefragt: Wann kommt endlich der Anruf der Philharmoniker? Sie debütieren jetzt im stolzen Alter von 51 Jahren!
Im Grunde bin ich ein junger Dirigent! Ich dirigiere ja erst seit 17 Jahren. Obwohl ich glücklich bin, dass ich die Chance bekomme, noch bessere Musik machen zu dürfen, mit noch besseren Musikern. Mein explizites Ziel war dies nie. Musik zu machen ist meine Berufung. Mit diesen Orchestern zu arbeiten, ist einfach die reine Freude.
Und dann kommen Sie aus den Musikmetropolen der Welt immer wieder zurück zur Kammerakademie Potsdam!
Sie ist nicht so bekannt wie die Berliner Philharmoniker, das stimmt. Aber als Kammerorchester gehört sie in die gleiche Liga. Die Kammerakademie ist eines der besten Kammerorchester der Welt! Das ist meine Familie nach inzwischen zehn Jahren. Wir verstehen uns fast blind.
Stimmt es, dass Sie zu Hause kein Instrument mehr haben?
Ich habe eine Mandoline – aber keine Geige und kein Klavier mehr. Das Spielen mit den Händen am Instrument fehlt mir überhaupt nicht. Als Dirigent mache ich auf andere Art mit den Händen Musik. Und auch beim Musiklesen und -lernen fehlt es mir nicht; ich lese meine Partituren wie Bücher.
Eine letzte Frage noch: Sie haben von Claudio Abbado Partituren bekommen und einen Dirigierstab. Werden Sie den bei den Konzerten im Mai benutzen?
Nein, der alte Taktstock von Claudio ist in meinem Etui und wird nicht angefasst. Der wäre auch viel zu lang für mich – er ist sehr lang. Aber er kommt im Mai in die Philharmonie mit. Ich habe immer drei Taktstöcke dabei: den, den ich benutze, einen Ersatzstock, falls der eine mal bricht, und den von Claudio. Das ist eine schöne, sentimentale Erinnerung. Aber um die ganze Geschichte zu erzählen: Als ich nach Berlin kam, lief Claudios letzte Saison bei den Philharmonikern. Und einmal hat er mich zu sich eingeladen und gesagt: »Ich brauche das alles nicht mehr. Hier, diesen Stapel Partituren – Werke von Nono, Schönbergs Gurre-Lieder und anderes – willst du den nicht haben?« Und dann holte er noch einen Frack aus dem Schrank, den er mal von Giorgio Armani geschenkt bekommen hatte. »Nimm den doch mit«, sagte er. Das war absurd. Ich habe damals noch überhaupt nicht daran gedacht, jemals selbst zu dirigieren – und bin dann mit Partituren, Taktstock und Frack aus Claudios Wohnung gekommen. [lacht] Aber ich glaube, das hatte keine tiefere Bedeutung.
Die Fragen stellte Arnt Cobbers