Liveübertragung des Europakonzerts
Erleben Sie das Konzert live am 1. Mai 2022, ab 11 Uhr im Fernsehen, in der Digital Concert Hall oder im Radio:
Die Europakonzerte, die seit 1991 jedes Jahr am 1. Mai in wechselnden europäischen Metropolen zu Gast sind, sind eine Hommage an die Vielfalt der Länder und Kulturen dieses Kontinents. Das diesjährige Konzert sollte ursprünglich in der Odesa National Academic Opera stattfinden. Mit Entsetzen haben die Berliner Philharmoniker beobachtet, wie seit dem vergangenen Winter die Schlinge um die Ukraine immer enger gezogen wurde, bis der brutale russische Angriff begann. So lange wie möglich hatten die Pläne Bestand, doch nun ist eine Konzertreise nach Odesa auf absehbare Zeit unvorstellbar geworden.
Statt am Schwarzen Meer werden die Berliner Philharmoniker an der Ostsee zu Gast sein, im lettischen Liepāja. In einem der spektakulärsten Konzertsäle der Welt, der Great-Amber-Konzerthalle, erklingt nun Musik, die der Idee von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit eine Stimme gibt. Das Konzert wird live im Ersten, in der Digital Concert Hall und im rbb-Radio übertragen.
Erleben Sie das Konzert live am 1. Mai 2022, ab 11 Uhr im Fernsehen, in der Digital Concert Hall oder im Radio:
Das Programm und damit auch des Europakonzerts reflektiert das ursprüngliche Vorhaben ebenso wie die tiefgreifenden Ereignisse der jüngsten Zeit. Während Taras Bulba weiterhin für die ukrainische Unabhängigkeit steht, zeugt Musik eines lettischen und eines ukrainischen Komponisten von ihrer Herkunft ebenso wie von ihrer künstlerischen Individualität. Luciano Berios Folk Songs vereinen überlieferte Musik von einem guten Halbdutzend Völkern. Die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča wird an der Seite von Kirill Petrenko und den Berliner Philharmoniker den Liedzyklus interpretieren. Sibelius’ Finlandia, als Hymne für nationale Selbstbestimmung, bildet den aufrüttelnden Schluss des Konzerts.
Luciano Berio
Folk Songs
Die Liedersammlung Folk Songs schrieb Luciano Berio 1964 für seine damalige Frau Cathy Berberian in einer Version für Kammerensemble; 1973 erweiterte er sie zur Fassung für Gesang und orchestrale Begleitung mit solistischen Bläsern, Harfe, Schlagzeug und Streichern. »Immer wieder kehre ich zur Volksmusik zurück«, erklärte Berio: »Ich möchte mit meinen eigenen Mitteln von diesem Schatz Besitz ergreifen.« Amerika, Frankreich, die Auvergne, Sizilien, Sardinien, Italien, Armenien und Aserbaidschan – in den Vorlagen für den Zyklus Folk Songs und in seinen acht verschiedenen Sprachen spiegelt sich die multikulturelle Gesellschaft wider, der Berio und Berberian angehörten. Andererseits zielt die Auswahl der Lieder auch auf Kontraste zwischen den jeweils geografischen, stilistischen und expressiven Eigenarten der Gesänge, um das Gestaltungsvermögen der Solistin auszureizen. So gibt es hier ein Nebeneinander von archaisierendem Klagegesang und elegantem Virelai aus dem französischen Mittelalter, von swingendem Gospel, ausgelassenem Trällern und Belcanto.
Pēteris Vasks
Musica dolorosa
Der gegenwärtig wohl berühmteste Komponist Lettlands steht am Beginn des Programms: Pēteris Vasks, 1946 geboren, hat als Kind noch die stalinistischen Säuberungen miterlebt, kannte Opfer von Vertreibung und Verbannung ins sibirische Straflager. Seine musikalische Laufbahn begann er als Kontrabassist. Dabei hat man dem Pfarrerssohn, der partout »kein Sowjetmensch« sein wollte, viele Steine in den Weg gelegt. Vasks gewinnt seine Inspiration aus Empathie: »Das Mitleiden mit den Schmerzen der Welt empfinde ich als den Ausgangspunkt meines Schaffens.« Seine Kunst existiert nicht um ihrer selbst willen, es gibt hier kein »l’art pour l’art«, sondern eine »art pour l’homme«, die sich an den Menschen richtet. »Ich habe immer davon geträumt, dass meine Musik – tröstend und fragend – dort zu hören wäre, wo sich unglückliche Menschen aufhalten. [...] Meine Musik ist für sehr viele Menschen gedacht, nicht nur für das Publikum der Konzertsäle.« Die Musica dolorosa entstand als eine Art instrumentales Requiem nach dem Tod von Vasks’ Schwester Marta, deren Erinnerung das Werk gewidmet ist.
Valentin Silvestrov
Elegie für Streichorchester
Am 8. März dieses Jahres kam Valentin Silvestrov in Berlin an, mit ihm seine Tochter und seine Enkelin. 1937 in Kiew geboren, hatte der Komponist auf Drängen seiner Familie und seiner Freunde seine Heimatstadt verlassen, in der er zuvor praktisch ununterbrochen lebte. Sein Enkel blieb in Kiew, um als Freiwilliger sein Land gegen den Einmarsch der russischen Armee zu verteidigen. Silvestrov ist schon lange kein Unbekannter im Westen. Seine Musik hat hierzulande – auch dank der Hilfe profilierter Interpreten wie Gidon Kremer, Alexei Lubimov oder Hélène Grimaud – eine große Anhängerschaft gewonnen. Sein OEuvre ist groß, und auch in Zeiten der Flucht ist sein Schaffensdrang ungebrochen. »Es ist sehr wichtig, dass eine Komposition mit einem Anstoß beginnt«, meint Silvestrov. »Egal, ob er kräftig oder zart ist, soll er Resultat einer schon existierenden Energie sein, die die Komposition in Bewegung bringt.« Hier ist dieser Anstoß ein kraftvoller Fortissimo-Akkord, teils gestrichen, teils gezupft. Nach diesem Akzent erscheint eine melodische Geste, die das ganze Stück über durch die Stimmen wandert, ihre klangliche Gestalt ändert, aber in Umrissen immer deutlich erkennbar bleibt. Der Eindruck eines »Erstarrens der Zeit« (Silvestrov) entsteht, auch wenn es keine statische Wiederholung gibt. Das Stück verklingt in fast unendlicher Stille.
Leoš Janáček
Taras Bulba
Die Figur Taras Bulba ist eine literarische Fiktion. Nikolai Gogol hat die Geschichte um den Kosakenhauptmann, der Züge mehrerer historischer Gestalten vereint, erstmals 1835 als Teil einer Kurzgeschichtensammlung publiziert und 1842 um einige Abschnitte erweitert. Gogols Taras Bulba kämpft mit fast unbarmherziger Härte für die Befreiung der Ukraine von der polnischen Herrschaft – und wurde so zu einer Art Nationalheld, dem mehrere Denkmäler gewidmet sind. Leoš Janáček bewunderte die russische Literatur. Neben seinen mährischen, böhmischen und slowakischen Landsleuten waren vor allem Alexander Ostrowski und Fjodor Dostojewski Verbündete für sein künstlerisches Ringen um die Identität seiner Heimat. Im mehrheitlich deutschsprachigen Brünn lebend, begründete Janáček 1898 einen »Russischen Zirkel«; 1905 las er wohl dort auch erstmals Gogols Erzählung Taras Bulba. Janáček war von der Geschichte des Kosakenführers und seiner Söhne gefesselt. Im Zentrum der Handlung stehen neben Taras Bulba dessen Söhne Andrij und Ostap. Beide sollen zu tapferen Kosaken heranwachsen, doch der jüngere Andrij verliebt sich während eines Aufenthaltes in Kiew in eine Polin. Für sie verrät er die Kosaken, worauf er von Taras zum Tode verurteilt wird.
Jean Sibelius
Finlandia
Finlandia ist ohne Zweifel das bekannteste Werk von Jean Sibelius. Es wurde vor gut 120 Jahren uraufgeführt und fand bald seinen Weg auf die Konzertprogramme in aller Welt. Seit Langem gehört Finlandia auch zum Repertoire der Filmmusik, wo die sieghaften Blechbläserakkorde das gute Ende untermalen. Der Anlass für die Komposition war allerdings ein ernster. Es ging um die Selbstfindung der finnischen Nation, um die Unabhängigkeit des Landes von seinen russischen Besatzern. Seit vielen hundert Jahren war Finnland unselbstständig, stand unter schwedischer Herrschaft, bis die Russen die Macht in dem Gebiet übernahmen. 1899 gab es ein Festival zugunsten der Pensionskasse der von den Machthabern unterdrückten Presse. Dabei wurde ein vierteiliges neues Orchesterwerk von Sibelius gespielt, dessen Finale später als Finlandia berühmt wurde.