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Komponisten des 20. Jahrhunderts, die zu Unrecht in Vergessenheit gerieten, die während des »Dritten Reichs« verfolgt oder sogar ermordet wurden, prägen unter dem Stichwort »Lost Generation« die Saison 2021/22. In einem der letzten Konzerte der Spielzeit widmen sich die Berliner Philharmoniker und Chefdirigent Kirill Petrenko drei jüdischen Komponisten, die auf unterschiedliche Weise Opfer dieser Zeit wurden.
Die drei Komponisten des Programms – Leone Sinigaglia, Erwin Schulhoff und Alexander Zemlinsky – waren zunächst verschieden in ihrer Herkunft und ihrem Heranreifen. Nahe standen sie sich hingegen in ihrem weiteren künstlerischen Werdegang, getrieben von Neugier und Offenheit, vom Suchen nach dem, was das Vergangene an Potential bietet, vom Wunsch, mit ihrer Kunst etwas in den Menschen auszulösen. Sie sahen Unvollkommenheiten schärfer als andere und erkannten ästhetische Fragen als Spiegel gesellschaftlicher Probleme. Alle drei wurden bedroht und verfolgt, weil sie jüdischer Abstammung waren, und starben vor der Zeit.
Dem äußeren Anschein nach von den dreien am konventionellsten, steckt in der Musik von Leone Sinigaglia gleichwohl eine innovative Absicht.
Bekannt und befreundet mit den federführenden Opernkomponisten seines Landes, galt sein Interesse besonders der Instrumentalmusik – einer Gattung, die in Italien hoffnungslos im Schatten des Musiktheaters stand.
Indem er sich an den damals fortschrittlichsten Vertretern der deutsch-österreichischen Symphonik wie Gustav Mahler, Karl Goldmark, Josef Suk oder Johannes Brahms orientierte, sich deren Klang- und Formensprache anzueignen suchte und sie dadurch in seine Heimat brachte, weckte er in Italien ein neues Interesse für Kammer- und Orchestermusik.
Mit seiner Forschung im Bereich des piemontesischen Volkslieds setzte er zudem Maßstäbe für einen verantwortungsvollen Umgang mit der musikalischen Tradition. 1936, als Sinigaglia 68 Jahre alt war, begründeten Deutschland und Italien in einem geheimen Freundschaftsvertrag die sogenannten Achsenmächte.
Antijüdische Bewegungen bekamen in Italien Auftrieb und fanden bald Eingang in die Gesetzgebung. Von 1938 an konnten Werke jüdischer Komponisten nicht mehr publiziert werden, bereits gedruckte Noten wurden nach und nach ausgesondert.
Materiell zwar abgesichert und verhältnismäßig zurückgezogen lebend, beobachtete Sinigaglia diese Entwicklung mit zunehmender Sorge. Kurz bevor er und seine Schwester nach Ausschwitz deportiert werden sollten, erlitt er 1944 einen tödlichen Herzinfarkt.
Der aus einer jüdischen Prager Familie stammende deutsch-böhmische Erwin Schulhoff war ein Multitalent. Er gab mit gleicher Überzeugungskraft den Bürgerschreck und den Unterhaltungskomponisten, den »Modemusiker« (wie er in den Musikblättern des Anbruch genannt wurde) und den Vorkämpfer neuester Avantgarde.
Er fand, dass die Musik nicht nur einen Kopf, sondern auch einen Unterleib brauche, dass das aber einen Künstler nicht daran hindern solle, eine Haltung zu haben. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und die bald danach wieder einsetzenden weltanschaulichen Spannungen, ja Spaltungen, machten ihn zu einem politisch denkenden und schreibenden Komponisten.
Hätte er nicht die sowjetische Staatsangehörigkeit erhalten, wäre er wohl wie die tschechischen Komponisten Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krása und Viktor Ullmann während des Zweiten Weltkriegs nach Theresienstadt deportiert und in einem Konzentrationslager umgebracht worden.
So landete er auf der fränkischen Wülzburg, wo überwiegend Sowjetbürger inhaftiert wurden. Dort starb er im Alter von 48 Jahren an Tuberkulose.
Alexander von Zemlinsky versuchte zeit seines Lebens, einander gegenüberstehende Positionen zu verbinden. Die von seinem Schüler und zeitweiligem Schwager Arnold Schönberg beschrittenen neuen Bahnen konnte er würdigen, ohne sie selbst mitzugehen.
Als er 1911 in Prag die Leitung des Deutschen Theaters antrat, musste er ein Opernensemble neu aufbauen, die schwelenden deutsch-tschechischen Spannungen lösen und neues Interesse beim Publikum wecken. Sofort steigerte er die Qualität des Orchesters, und mit zyklischen Aufführungen der Beethoven-Symphonien in der Saison 1914/15 schulte er das Zusammenspiel.
Nie gab es eine Spur von Routine oder gar Ermüdung; er probte mit nicht nachlassender Intensität, noch am Vormittag der Aufführung. Dabei versuchte er stets, einem Diktum Schönbergs gerecht zu werden, wonach Zemlinsky »sicher der erste lebende Dirigent« sei.
Sein Ruf war universell und stärker als nationale Eitelkeiten. So zählte Zemlinsky in den schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zu den wenigen Österreichern, die regelmäßig auch von tschechischen Orchestern eingeladen wurden.
Sogar Igor Strawinsky rühmte Zemlinskys dirigentisches Können: »Ich glaube, von allen Dirigenten, die ich je gehört habe, würde ich Alexander von Zemlinsky als den überragenden Dirigenten wählen, der die höchsten Ansprüche erfüllte.«
In seinem kompositorischen Schaffen spannte Zemlinsky den Bogen von verfeinerter musikalischer Poesie bis zum pantomimischen Drama fürs Berliner Kabaretttheater Überbrettl.
Der Lyrischen Symphonie mit Texten des indischen Dichters und Philosophen Rabindranath Tagore folgten noch im selben Jahrzehnt die Symphonischen Gesänge auf Gedichte afroamerikanischer Autoren.
1929, kurz nach ihrer englischsprachigen Erstveröffentlichung, waren sie in der Sammlung Afrika singt auf Deutsch erschienen. Während seine Maeterlinck-Gesänge für Stimme und Orchester flimmerten und flirrten und seine Lyrische Symphonie noch Mahler verwandt war, hörte Zemlinsky aus diesen Texten eine neue Musik heraus.
Er verspürte die Notwendigkeit, hierfür eine neue Tonsprache zu entwickeln. Exotische Schwärmerei und symbolistische Verschleierung konnten in der Zeit einer dräuenden neuen Krise nicht genügen; statt Mythen kam nun die Gegenwart zum Zuge, statt einer elegisch hingegossenen Femme fragile wie Mélisande hetzte nun ein Underdog wie Wozzeck über die Bühne.
Die Ohnmacht vor dem Geld, die rücksichtslose Unterdrückung der Schwachen: Das waren die Themen der Stunde, auch für Zemlinsky. Eine direkte musikalische Adaption der Musik aus dem Umfeld afrikanischer Autoren hätte damals nahegelegen – Spirituals waren in Europa ebenso bekannt wie der Ragtime.
Aber Zemlinsky entschied sich dagegen und entwarf eine ganz eigene, kantige Klangsprache. Fasziniert vor der kaum bekannten Lebenswelt der Afroamerikaner, vertonte er sieben der Gedichte als völlig unsentimentale, sich jeglicher Larmoyanz verweigernde Klage und Anklage. Häufige Taktwechsel folgen dem Rhythmus der Sprache, das Orchester vermittelt – mal spärlich-karg, mal krachend – die Stimmung der heißen und drückenden Luft »dort drunten im Dixieland«.
Ende 1938 musste Zemlinsky in die USA emigrieren und fühlte sich bis zu seinem Tod dort fremd. Sein in New York begonnenes letztes Opernprojekt Circe auf Basis der Odyssee blieb unvollendet. Nach drei Schlaganfällen starb er am 15. März 1942.
Sinigaglia, Schulhoff, Zemlinsky: Diese drei Komponisten sind Opfer der vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehenden antisemitischen Verfolgung geworden.
Mag auch keiner von ihnen in Konzentrations- oder Vernichtungslager verschleppt und dort umgebracht worden sein – die Verantwortung für ihr Ende trägt der menschengemachten inhumanen Maschinerie, die Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder politischen Überzeugung für minderwertig und lebensunwürdig hielt.
Die drei Schicksale mahnen – durch ihre Lebensläufe und über sie hinaus durch ihre Musik – uns Heutige, wachsam zu bleiben.
Malte Krasting