Der Strom vergangener Zeiten

Der Rhein und die Romantik

Der Rhein mit der Loreley, Gemälde von Friedrich Perlberg, 1880, Ausschnitt
(Foto: akg-images)

Kein anderer Fluss in Deutschland hat von jeher Menschen und Künstler zu Gedichten, Geschichten, Gemälden und natürlich Musik inspiriert wie der Rhein. Seine wilde Natur, seine Mythen, seine historische Bedeutung machten den Strom zum Inbegriff romantischen Träumens und Fürchtens – und zum Sinnbild eines im Guten wie im Schlechten neu erwachenden deutschen Nationalbewusstseins.

Das Mittelrheintal vereint Landschaftsbilder, Baudenkmäler und Symbolik zu einer halb realen, halb mythischen Welt, die jeden Begriff von Romantik zu bestätigen scheint. Die wilde, erhabene Natur mit ihren gewaltigen Steilfelsen lässt sich ebenso wie die Ausblicke hinab in die Tiefe oder hinaus in die Ferne mit dem romantischen Gefühlskreis von Unendlichkeit und jenseitiger Größe, mit dem Schauer des Metaphysischen verbinden. Die alten, traditionsreichen Städte am Fluss, ihr Brauchtum, ihre Feste, ihr Menschenschlag wurden von den Romantikern als Zeugen einer verlorenen Ursprünglichkeit, einer verherrlichten Volkstümlichkeit aufgesucht.

Helden, Ritter und Gespenster, legendäre Schätze und Schlachten

Der Anblick der Burgruinen oder der verfallenen Kapellen lenkte die Gedanken zurück in eine idealisierte christliche Vergangenheit, ein romantisch verklärtes Mittelalter. Obendrein bildet der Strom mit den Gebirgen, den Wäldern, den Ruinen eine »malerische«, zugleich einladende und unheimliche Szenerie, die von der romantisch inspirierten Vorstellungskraft unweigerlich mit Helden, Rittern und Gespenstern bevölkert und mit legendären Schätzen und Schlachten assoziiert wurde. Und der Fluss, der ins Meer strömt, ist ohnehin mehr als nur ein Gleichnis: Er garantiert geradezu das ozeanische Gefühl, das Versinken in den Wogen, das Verschwinden im Unermesslichen – wie es dem unglücklichen Fischerknaben in Clemens Brentanos Gedicht Auf dem Rhein ergeht, der in seinem Kahn liegt und in den Himmel schaut: »Läßt alles Rudern sein, / Und treibet weiter, weiter / Bis in die See hinein.«

Diese Verliebtheit in den Tod war nicht jedermanns Sache, jedenfalls nicht zu allen Zeiten. Noch Anfang der 1790er-Jahre mochte der Naturforscher und Reiseschriftsteller Georg Forster seine Antipathie gegen den »romantischen« Rhein nicht verhehlen: »Einige Stellen sind wild genug, um eine finstere Phantasie mit Orcusbildern zu nähren, und selbst die Lage der Städtchen, die eingeengt sind zwischen den senkrechten Wänden des Schiefergebirgs und dem Bette des furcht furchtbaren Flusses, ist melancholisch und schauderhaft.«

Schon eine Generation später war die vom Rhein durchflossene Welt nicht mehr dieselbe. »Als sie aus dem Walde auf einen hervorragenden Felsen heraustraten, sahen sie auf einmal aus wunderreicher Ferne, von alten Burgen und ewigen Wäldern kommend, den Strom vergangener Zeiten und unvergänglicher Begeisterung, den königlichen Rhein«, heißt es in Joseph von Eichendorffs 1812 vollendetem Roman Ahnung und Gegenwart. »Als die Sonne schon hoch war, bestiegen sie die alte, wohlerhaltene Burg, die wie eine Ehrenkrone über der altdeutschen Gegend stand.«

Wallfahrtsort einer radikal neuen nationalen Gesinnung

»Altdeutsch« lautet das Zauberwort. Die studentische Jugend ging in altdeutscher Tracht, sang altdeutsche Lieder, sammelte altdeutsche Sagen und wanderte durch altdeutsche Gegenden. Der romantische Rhein wurde zum Wallfahrtsort einer keineswegs alten, sondern radikal neuen nationalen Gesinnung. Allein als Gegenwehr zur französischen Besatzungspolitik und der verhassten westlichen Zivilisation ist das proklamierte »Deutschtum« mit seinem Aufbruch ins Altertümliche nicht zu erklären.

Der militärisch wie propagandistisch ausgefochtene Streit um die linksrheinischen Gebiete, um den Anspruch, dass der Rhein »Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze« (Ernst Moritz Arndt) sei, brachte im 19. Jahrhundert eine politisierte und aggressiv aufgeheizte Variante der Rheinromantik hervor, die 1840 im dröhnenden Patriotismus der Wacht am Rhein kulminierte: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall, / Wie Schwertgeklirr und Wogenprall: / Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! / Wer soll des Stromes Hüter sein? / Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein, / Fest steht und treu die Wacht am Rhein.«

Nach den Überlieferungen des mittelalterlichen Nibelungenliedes, das im Zuge der »altdeutschen« Bewegung neu entdeckt wurde, hatte Hagen von Tronje den sagenhaften Nibelungenhort, Siegfrieds Schatz, bei Worms im Rhein versenkt.

Wolfgang Stähr

Die deutsche Nationalromantik schrieb diese Legende fort: Sie erblickte in dem versunkenen Hort den Garanten des »heiligen deutschen Kaisertums« und erwartete mit der Bergung des Schatzes die Wiedergeburt des Kaiserreichs.

»Unter dem Nibelungenhort denke ich mir das Sinnbild aller deutschen Macht, Glück und Herrlichkeit, welches alles im Rhein versenkt liegt und mit ihm dem Vaterland erhalten [bleibt] oder verloren geht«, schrieb der Maler Peter von Cornelius 1856.

Zur selben Zeit sollte Richard Wagner die Geschichte noch einmal neu begründen, indem er für seinen Opernvierteiler Der Ring des Nibelungen den Hort mit seinem Geschmeide zum unberührten »Rheingold« umdeutete, zum »reinen Gold«, das auf dem Grund des Flusses von den Rheintöchtern bewacht und besungen wird: ein paradiesischer Urzustand. Der aber nicht lange währt. Mit dem Raub des Goldes kommt das Unheil in die Welt: Die Schöpfung verdirbt an der Wertschöpfung.

Die Rheintöchter, Aquarell von Hans Thoma, 1854
(Foto: akg-images)

»Man stirbt nicht mehr beim Schiffen, bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt«

Erich Kästner

Wagners Mythos vom Goldraub ist wie alle Rheinlegenden eine literarische Fantasie. Dies gilt auch für die berühmteste unter ihnen, die Sage von der Zauberin Loreley auf ihrem Felsen hoch über dem Rhein. Clemens Brentano hat sie sich ausgedacht, doch wurde sie vor allem durch Heinrich Heines Gedicht von 1824 populär und weltbekannt. Es handelt sich folglich weder um »ein Märchen aus alten Zeiten«, wie Heine vorgibt, noch um ein deutsches oder gar »altdeutsches« Volkslied. Zumal die Figur der schönen Loreley, die mit ihrem Gesang die Schiffer verwirrt und in den Untergang treibt, den Naturgeistern und Fabelwesen der griechischen Mythologie nachgebildet ist, den Nymphen, Najaden und Sirenen.

Gut 100 Jahre später schrieb Erich Kästner noch ein Gedicht über die Loreley, einen ironischen Abgesang auf das Goldene Zeitalter der Rheinromantik: »Wir wandeln uns. Die Schiffer inbegriffen. / Der Rhein ist reguliert und eingedämmt. / Die Zeit vergeht. Man stirbt nicht mehr beim Schiffen, / bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt.« So dichtete Kästner im Jahr 1932, am Ende der Weimarer Republik. Etwas mehr von diesem witzigen, hellwachen, nachromantischen Geist hätte auch seinen Landsleuten gutgetan. Aber die Deutschen entschieden sich bekanntlich anders.

Wolfgang Stähr