Für die gute Sache

Das Tschechische in Antonín Dvořáks Musik

Die böhmische Herkunft Antonín Dvořáks ist in einem Großteil seiner Musik unüberhörbar: seien es die Slawischen Tänze, Symphonische Dichtungen über mythische Stoffe oder auch Werke der absoluten Musik wie die Sechste Symphonie. Das war nicht einfach ein stilistischer Kunstgriff, sondern ein Bekenntnis zur tschechischen Kulturnation.

In der Psychologie gilt es fast als Gemeinplatz, dass jüngere Geschwister von dem Erwartungsdruck befreit sind, der auf den Erstgeborenen lastet. Dem ähnelte das Verhältnis von Antonín Dvořák zu Bedřich Smetana, der unter den Komponisten sozusagen der »älteste Sohn« der tschechischen Emanzipationsbewegung war. Gerne wird Dvořák als »Glückskind« dem 17 Jahre älteren »Schmerzensmann« Smetana gegenübergestellt, der in späten Jahren verarmte, wie Beethoven das Gehör verlor und seine letzten Tage in einer Psychiatrie verbrachte.

Dvořák dagegen verkehrte seit den 1870er Jahren eng mit Zentralgestalten der Musikmetropole Wien wie Eduard Hanslick und Johannes Brahms, feierte auf Reisen nach England berauschende Erfolge, wurde als Dirigent eigener Werke an die Pulte der Wiener und Berliner Philharmoniker eingeladen und 1892 an das Konservatorium in New York berufen. Sein 60. Geburtstag wurde 1901 in seiner Heimatstadt Nelahozeves festlich begangen und in Prag mit einem Opern-Zyklus gefeiert. Ein Komponistenleben, an dessen Ende die Anerkennung von der Heimat bis in die Neue Welt stand.

Bedřich Smetana, der »tschechischere« Komponist

Die Aufzählung unterschlägt nicht nur die vielen Todesfälle in der Familie Dvořáks, der mehrere Kinder in jungen Jahren verlor, sondern auch die entbehrungsreiche und lange Zeit als unbekannter Komponist, in der er ausschließlich für die Schublade schrieb und in überfüllten Wohngemeinschaften leben musste, wie man heute sagen würde. Die biografischen Lebenskurven beider Komponisten wiesen allerdings tatsächlich in entgegengesetzte Richtungen.

Das hing teilweise direkt mit der Haltung zur tschechischen Frage zusammen: Bis heute gilt Smetana in seiner Heimat als der »tschechischere« Komponist, weil er die für das Autonomiebewusstsein seiner Landsleute repräsentativeren Werke schrieb: Den Zyklus Má vlast (Mein Vaterland) sowie die Opern Prodaná nevěsta (Die verkaufte Braut) und Libuše (Libussa). Mit der Uraufführung von Libuše wurde 1881 das Prager Nationaltheater eingeweiht, das als zentraler Ort der Emanzipationsbewegung gebaut worden war.

Das Prestige in der Heimat bezahlte Smetana allerdings mit einer geringeren Anerkennung in der internationalen Musikszene, wo man bis in die Gegenwart seine große Bedeutung unterschätzt. Zudem wurde der Komponist in den Kämpfen zwischen den konservativ eingestellten Alt-Tschechen und den progressiven Jung-Tschechen – zu letzteren gehörte der Liszt- und Wagner-Anhänger Smetana – aufgerieben.


In diesen Zusammenhängen bewegte sich Dvořák aus Intuition geschmeidiger, ohne dass man ihm Berechnung unterstellen könnte. Seine Herkunft wirkte sich gerade im für lokale musikalische Dialekte empfänglichen Wien nicht als Nachteil, sondern im Gegenteil als Vorteil aus. Es ist kein Zufall, dass Johannes Brahms durch die Duett-Sammlung Klänge aus Mähren auf den Komponisten aufmerksam wurde, und dass diesem der späte Durchbruch zur Anerkennung mit den Slawischen Tänzen glückte – beides sind Produkte eines kunstvollen Folklorismus. In der Folgezeit wurde Dvořák dann aber vor allem als Symphoniker und als Komponist von Werken der Kammermusik gefeiert und in dieser Hinsicht in der Nähe seines Freundes Brahms verortet.

In den Gattungen der sogenannten »absoluten Musik« können regionale und historische Elemente eines Nationalbewusstseins allerdings nur auf indirekte Art zur Geltung kommen. Weil die absolute Musik in der Tradition der großen Meister aus dem deutschsprachigen Raum stand, von denen sich die tschechische Emanzipations-Bewegung gerade absetzen wollte, standen etwa für Smetana Symphonische Dichtungen und Opern im Zentrum seines Schaffens. Hier ließen sich im Rückgriff auf historische und mythologische Stoffe Elemente einer kulturellen Eigenständigkeit thematisieren.

Versteckte böhmische Wurzeln

Das Tschechische in Dvořáks instrumentalen Werken lässt sich dagegen (nur) auf der Ebene der Melodik, Harmonik und Rhythmik finden. Kurt Honolka hat in seiner Biografie des Komponisten einige dieser Elemente zusammengetragen: So beginnen die Melodien Dvořáks meist auf der betonten Zählzeit, also ohne Auftakt; eine Eigenheit, die offenbar direkt aus der tschechischen Verbalsprache abgeleitet ist. Wo volkstümliche Tanzmodelle nicht unmittelbar – wie im Furiant-Scherzo der Sechsten Symphonie – als Grundlage dienen, prägen ihre oft synkopischen, also gegen den Takt gesetzten Rhythmen auch die klassisch geformten Werke des Komponisten.

Die pentatonische, sich auf einen Umfang von fünf Tönen beschränkende Melodiebildung schließlich stellt ein weiteres folkloristisches Moment dar, das es Dvořák später erlaubte, die ähnlich beschaffene indigenen und afro-amerikanische Volksmusik in den Stücken der amerikanischen Periode bruchlos mit seinem eigenen Idiom zu verschmelzen.

Dvořák hat seinen Landsleuten und der Musikwelt die ersten tschechischen Symphonien, Solo-Konzerte und Streichquartette von internationalem Rang geschenkt. Allerdings war er kein Dogmatiker der absoluten Musik. Der früh entstandenen Bewunderung für Liszt und Wagner hielt er auch als naher Freund von deren Antagonist Johannes Brahms die Treue.

Damit war das Interesse an der Programmmusik verbunden, an Werken also, die sich auf außermusikalische Inhalte beziehen. Schon in den 1870er-Jahren komponierte Dvořák Opern, und sein ehrgeiziges Musikdrama Dimitrij wurde bereits zwei Jahre nach Smetanas Libuše im nach einem Brand wieder aufgebauten Nationaltheater aufgeführt.

Seine zwischen 1891 und 1892 entstandenen Ouvertüren In der Natur, Carneval und Othello sind bereits als Hinwendung zur programmatischen Musik zu verstehen. Anders als einige berühmte Kollegen verabschiedete sich Dvořák mit seiner 1893 uraufgeführten Neunten Symphonie nicht vom Leben, sondern nur von einer Gattung.

In seinen letzten Jahren widmete er sich ausschließlich der Komposition von Tondichtungen und Opern: eine Rückkehr zu Liszt und Wagner also, aber auch – im Geist einer eigenständigen einheimischen Musik – zu Smetana. In seinen fünf Symphonischen Dichtungen, von denen vier auf einer Balladensammlung seines Landsmanns Karel Jaromír Erben basieren, und in seiner berühmtesten Oper Rusalka hat er sich direkt der tschechischen Sache zugewendet.

In einem Wahlspruch bekannte sich der gläubige Katholik Antonín Dvořák zu »Gott, Liebe und Vaterland« als zentralen Elementen seines Künstlertums. Mit dem Vaterland ist selbstverständlich nicht der Österreichisch-Ungarische Vielvölkerstaat gemeint, sondern das damals in politischer Hinsicht noch imaginäre »Land« seiner tschechischen Muttersprache. Staatliche Selbständigkeit war nicht das erklärte Ziel der tschechischen Emanzipationsbewegung, zu deren musikalischen Protagonisten Dvořák zweifellos gehörte; eher ging es um die Etablierung einer kulturellen Autonomie gegenüber der dominierenden deutschsprachigen Minderheit.

Das Adjektiv »český« bezeichnete ursprünglich neben der Sprache auch die Herkunft aus der Region Böhmen und damit aus einem kulturell reichen Gebiet, das wegen seiner unzähligen hervorragenden Musiker bereits im 18. Jahrhundert als »Konservatorium Europas« galt. Wenn sich Dvořák selbst als einen »böhmischen Musikanten« bezeichnete, so bezog er sich auch auf diese Tradition, in der Heimatverbundenheit und Weltoffenheit keinen Gegensatz bilden mussten.    

 

Benedikt von Bernstorff

 

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