»Wer bin ich, wer will ich sein?« Der Blick auf uns selbst ist in Bewegung geraten, auch unsere Ideale als Gesellschaft werden mit beispielloser Dringlichkeit diskutiert. Ein Saisonschwerpunkt zeigt den Beitrag der Musik zu dieser Debatte.
Die Frage, welcher unser Platz in der Welt ist, hat frühere Generationen kaum beschäftigen müssen. Gesellschaftsschicht, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, geografische Herkunft: Das waren die Koordinaten, die einen Menschen wesentlich bestimmten, und sie taten es meist ein Leben lang. Diese Fixierung löst sich in unserer Zeit auf. Wir sind mobiler geworden, in räumlicher wie in weltanschaulicher Hinsicht; scheinbar unverrückbare Werte werden hinterfragt, auch die Geschlechtszugehörigkeit hat an Eindeutigkeit verloren und eröffnet neue Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Wie nie zuvor kann der Mensch in sich hineinhorchen, seinen Kern erspüren und sein Leben danach ausrichten.
Mit dieser Flexibilität verbinden sich gewaltige Chancen, aber auch Herausforderungen. Als Online-Unternehmer kann man aus dem Nichts zu Wohlstand kommen, umgekehrt ist das einst gesicherte Einkommen in einem Traditionsunternehmen keineswegs mehr verlässlich. Das Gesumme der Meinungen in den sozialen Medien ermöglicht die Begegnung mit neuen Perspektiven, die aber auch verstören können und manchmal so aufeinanderprallen, dass Hass entsteht. Eine Identität, soviel kann man festhalten, »hat« man in unserer Zeit nicht, sie wird erworben, oft erkämpft.
Komponisten gehörten zu den ersten, die die Rolle des Individuums in der Welt reflektierten
In der Saison 2022/23 wollen wir mit unserem Programmschwerpunkt »Identitäten« zeigen, welchen Beitrag die Musik zu solchen Diskussionen leistet, und zwar nicht erst in unserer Zeit. Denn Komponisten gehörten zu den ersten, die die Rolle des Individuums in der Welt reflektierten. Das fängt in der geistlichen Musik des Barock an, die spürbar macht, dass Religion nicht nur ein Dienst an Gott ist, sondern auch eine persönliche, hochemotionale Erfahrung. Ab Ende des 18. Jahrhunderts wurden in der Musik auch die gesellschaftlichen Realitäten hinterfragt, angefangen mit Ludwig van Beethoven, der dem Wiener Adel ins Gesicht sagte, er halte sich selbst für etwas Besseres. Vor allem aber wandelte er sein eigenes Leben und Leiden in eine beispiellos energetische Musik um – der Einzelne, unabhängig von Rang und Herkunft, wurde zum zentralen Thema der Musik. Zugleich zeigte sich, dass der Mensch nicht nur durch seine Gegenwart definiert wird, sondern auch durch seine Hoffnungen für die Zukunft. So entwarf die Romantik leidenschaftliche Visionen, in denen wir »weit in schön’re Welten zieh’n«, wie es in einem Schubert-Lied heißt: Die Utopie hielt Einzug in die Musik.
In unserem Themenschwerpunkt liegt das Hauptgewicht auf der Musik des 20. Jahrhunderts, deren Lebensbilder besonders facettenreich und intensiv sind. Ein Parade-bei spiel ist Gustav Mahler, mit dessen Siebter Symphonie Kirill Petrenko die Saison eröffnet. Wenn Mahler in seinen Symphonien nach eigenen Worten »mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt« zeigen will, so ist damit vor allem seine eigene komplexe Welt gemeint: seine Verehrung der Natur, seine jüdischen Wurzeln – sogar die Militärkapellen seiner mährischen Heimat klingen an. Ebenfalls, aber ganz anders nimmt Erich Wolfgang Korngold in seiner 1952 vollendeten Fis-Dur-Symphonie eine Standortbestimmung vor. Als exilierter Österreicher, der in den USA als Filmmusikkomponist berühmt wurde, verschränkt er die Idiome seiner alten und seiner neuen Heimat und wirft zugleich die Frage auf, was nach dem Zweiten Weltkrieg eine zeitgemäße Musik sei.
Vier Aspekte des Themenschwerpunkts
Die Identitätsfrage wird im Themenschwerpunkt unter vier Aspekten beleuchtet. »Herkunft« ist einer von ihnen, ein weiterer die »Utopie«, wie sie beispielsweise Richard Strauss in Also sprach Zarathustra nach Nietzsche umreißt, wenn er eine höhere, lebensbejahende Stufe des Menschseins projiziert. In der Kategorie »Glaube und Werte« gibt es mit geistlichen Werken von Händel, Mozart und Mendelssohn Ausflüge in die Musik des 18. und 19. Jahrhunderts, aber auch den 1949 uraufgeführten Einakter Der Gefangene von Luigi Dallapiccola, der vor dem Hintergrund der spanischen Inquisition die Verflechtung von Glaube, Hoffnung und Freiheit verhandelt. Schließlich noch der Aspekt »Liebe und Sexualität«. Wagners Wesendonck-Lieder, Manifestation einer unerreichbaren Liebe zwischen Komponist und Textdichterin, gehören ebenso dazu wie Strauss’ Oper Die Frau ohne Schatten. Deren Handlung ist von einem eng geknüpften Netz an Symbolen durchzogen, die Fragen nach Menschsein, Liebe und Mutterschaft spiegeln.
So soll der »Identitäten«-Schwerpunkt einerseits neue Perspektiven auf etablierte Werke eröffnen, andererseits nehmen wir ihn zum Anlass, noch kaum Bekanntes vorzustellen. Eine weitere Dimension kommt in der Reihe Philharmonische Kammermusik hinzu, in der sich Ensembles der Berliner Philharmoniker dem Saisonthema widmen. »Wer bin ich, wer will ich sein?« – diese existentiellste aller Fragen lässt sich gleichermaßen bekenntnishaft auf großer Bühne wie auch intim, im musikalischen Kleinformat stellen. Die Antworten werden so vielfältig sein wie das Leben selbst.
Programmpunkte des Saisonthemas
Konzerte der Berliner Philharmoniker
• 26.08.22 Kirill Petrenko Gustav Mahler Symphonie Nr. 7 Herkunft / Utopie
• 15./16./17.09.22 Kirill Petrenko Luigi DallapiccolaIl prigioniero (Der Gefangene) Utopie / Glaube und Werte
• 06./07./08.10.22 Iván Fischer Gustav Mahler Symphonie Nr. 1 Herkunft / Utopie
• 13./14./15.10.22 Daniel Harding Richard StraussAlso sprach Zarathustra Utopie
• 20./21./22.10.22 François-Xavier Roth Paul Dukas Polyeucte, Ouvertüre Claude DebussyLa Damoiselle élue Glaube und Werte / Liebe und Sexualität
• 02./03./04.11.22 Kirill Petrenko Erich Wolfgang Korngold Symphonie Fis-Dur Herkunft
• 15./16./17.12.22 Christian Thielemann Werke von Richard, Wagner, Richard Strauss, Hans Pfi tzner und J. S. Bach / Arnold Schönberg Utopie / Herkunft
• 12./13./14.01.23 Kirill Petrenko Felix Mendelssohn BartholdyElias Glaube und Werte / Utopie
• 09./10./11.03.23 Emmanuelle Haïm Georg Friedrich HändelIl trionfo del Tempo e del Disinganno Glaube und Werte
• 14.04.23 Kirill Petrenko Richard StraussDie Frau ohne Schatten Liebe und Sexualität
• 20./21./22.04.23 Klaus Mäkelä Dmitri Schostakowitsch Symphonie Nr. 6 Peter Tschaikowsky Symphonie Nr. 6 »Pathétique« Herkunft / Liebe und Sexualität
• 27./28.04.23 Kirill Petrenko Wolfgang Amadeus Mozart »Exsultate, jubilate« Messe C-Dur »Krönungsmesse« Glaube und Werte
• 25./26./27.05.23 Simone Young Olivier MessiaenTurangalîla-Symphonie Liebe und Sexualität / Utopie
• 01./02./03.06.23 Daniel Barenboim Elīna Garanča Mezzosopran Richard WagnerWesendonck-Lieder Liebe und Sexualität
Philharmonische Kammermusik
• 31.10.22 Bolero Berlin Werke von Astor Piazzolla und anderen Herkunft
• 20.12.22 Mitglieder der Berliner Philharmoniker Claude DebussyPelléas et Mélisande Liebe und Sexualität / Herkunft
• 11.01.23 Mitglieder der Berliner Philharmoniker Franz LisztAngelus! Prière aux anges gardiens Arnold SchönbergVerklärte Nacht Glaube und Werte / Liebe und Sexualität
• 17.03.23 Mitglieder der Berliner Philharmoniker Igor StrawinskyL'Histoire du soldat Herkunft
• 24.04.23 Mitglieder der Berliner Philharmoniker Béla Bartók Streichquartett Nr. 2 Bedrich Smetana Streichquartett Nr. 1 »Aus meinem Leben« Herkunft / Liebe und Sexualität