Berliner Philharmoniker
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Autor*in: Isabel Herzfeld
ca. 6 Minuten

Mieczysław Weinberg | Bild: Tommy Persson, © Olga Rakhalskaya

Der Komponist Mieczysław Weinberg gehört zu den großen Unbekannten des 20. Jahrhunderts. Sein Trompetenkonzert ist ein Werk von übersprudelnder Virtuosität und doppelbödiger Ironie.

Was für ein Schicksal! Was für ein Lebenswerk! Wie eine Flamme leuchtete der Name Mieczysław Weinberg auf, als ihn die westliche Kulturwelt vor einem guten Jahrzehnt für sich entdeckte. Die szenische Uraufführung der Oper Die Passagierin bei den Bregenzer Festspielen 2010 gestaltete sich zu einer Sensation; als »Meisterwerk«, »Wiederentdeckung des Jahres«, wenn nicht des Jahrzehnts, wurde das Werk gefeiert.

Bregenz gab seine hochgelobte Produktion nach London, Warschau und Madrid weiter, sie wurde auch in New York und Chicago gespielt. Bis zur deutschen Erstaufführung in Karlsruhe dauerte es immerhin noch drei Jahre. Es folgten Frankfurt, Gelsenkirchen, Graz – nicht gerade Hochburgen des Operngeschehens, doch vergeht mittlerweile kaum eine Saison, in der nicht Die Passagierin auf irgendeiner mutigen Bühne auftaucht.

Wer war dieser Komponist, dessen Name plötzlich in aller Munde war? Schon die Schreibweisen »Mieczysław« oder »Moissej« Weinberg, auch »Vainberg« oder »Wajnberg« – einer Rückübertragung aus dem Kyrillischen geschuldet – deuten auf vielschichtige Wurzeln und Identitäten hin. »Moissej Semjonowitsch« nannten ihn seine russischen Freunde aus dem Schostakowitsch-Kreis, eine gewisse »Slawisierung«, denn entsprechend seinem Vatersnamen wurde Weinberg in der Sowjetunion als »Samulowitsch« geführt. Dass die Bezeichnungen »jüdischer«, »sowjetischer« und »polnisch-russischer« Komponist munter durcheinandergehen, verrät ebenfalls eine gewisse Ratlosigkeit – oder unterschiedliche Perspektiven.

Weinberg selbst legte großen Wert auf den polnischen Vornamen Mieczysław, mit dem er alle seine Werke unterschrieb, die einzigen Dokumente, die ihn auf seinen verschiedenen Fluchtwegen begleiteten. Vor allem aber hoffte er, dass seine Tochter Anna im zunehmend antisemitischen Klima der Stalinzeit als Anna Mieczysławowna weniger Probleme haben würde denn als Anna Mojsjewna.

Verschiedene Welten von Glück und Grauen

Wie seine Passagierin durchmaß auch Weinberg verschiedene Welten von Glück und Grauen; er war gewissermaßen selbst ein Passagier. 1919 wurde er in Warschau als Sohn eines Theatermusikers geboren, der zeitweilig auch die Abteilung für jüdische Musik bei der Schallplattenfirma Syrena leitete. Operetten und Couplets, jüdische und polnische Tanzrhythmen und Melodien speisten seine frühesten musikalischen Erfahrungen – im Theater war Moissej vom sechsten Lebensjahr an immer dabei.

Der Zwölfjährige wurde Schüler am Warschauer Konservatorium, zwei Jahre später unterrichtete ihn Józef Turczyński, heute noch als Mitherausgeber der Paderewski-Chopin-Ausgabe bekannt und damals namhaftester Klavierpädagoge Polens. In dieser Zeit entstanden auch die ersten Kompositionen, kleine Mazurken, erstmals mit Mieczysław gezeichnet.

Sein Geld verdiente der junge Student mit Improvisationen im Warschauer Nobelrestaurant Adria. Als er dem berühmten Pianisten Józef Hofmann vorspielen durfte und dieser ihn zum Weiterstudium am Curtis-Institut in Philadelphia einlud, schien seine Karriere als Klaviervirtuose gesichert. Das war wenige Monate vor Kriegsausbruch, in dessen Verlauf Warschau dem Erdboden gleichgemacht werden sollte. 

Damit zerbrach die nach Weinbergs Erinnerungen »beste und glücklichste Zeit« seines Lebens. Auf der Flucht vor den Nazitruppen verlor er Vater und Schwester. Ins weißrussische Minsk gerettet, studierte er Komposition bei Wassili Solotarjow, doch wenige Tage nach seinem Studienabschluss musste er wieder vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion fliehen. Er geriet nach Taschkent, Hauptstadt der sowjetischen Republik Usbekistan, von dort auf Einladung von Dmitri Schostakowitsch nach Moskau. Dort blieb er bis an sein Lebensende im Jahre 1996.

»ein guter Komponist, ein guter Mann mit einem rechtschaffenen Charakter, aber definitiv zu bescheiden«

Schostakowitsch war das große Glück in Weinbergs Leben: 1943 hatte dieser dem großen russischen Komponisten seine erste Sinfonie geschickt und daraufhin die wärmste Zustimmung erhalten. Es entspann sich eine lebenslange Freundschaft voll gegenseitiger Wertschätzung, Solidarität und Inspiration. Schostakowitschs Unterstützung war für den sensiblen, scheuen Weinberg ständige Ermutigung – »ein guter Komponist, ein guter Mann mit einem rechtschaffenen Charakter, aber definitiv zu bescheiden«, äußerte jener über ihn.

Unermüdlich setzte Schostakowitsch sich für Aufführungen von Weinbergs Werken ein, war sein Fürsprecher bei Anfeindungen durch den Komponistenverband und sorgte dafür, dass seine Freunde, die weltbesten Interpreten, seine Werke aufführten: Mstislaw Rostropowitsch, David Oistrach, Leonid Kogan, Rudolf Barshai. Die oft zu findende Aussage, Weinberg sei Schüler Schostakowitschs gewesen – wodurch er häufig als zweitrangiger Nachahmer missverstanden wurde – muss dahingehend revidiert werden, dass es sich hier um ein gegenseitiges Lernen handelte.

Schostakowitsch steckte den 13 Jahre Jüngeren mit seiner Mahler-Begeisterung an, dieser vermittelte ihm Kenntnis jüdischer Folklore. Deren Echo findet sich am deutlichsten im Klaviertrio op. 67 des Russen und in seinem Liederzyklus Aus jüdischer Volkspoesie. Um die Produktion von Streichquartetten entstand zwischen beiden Komponisten ein regelrechter Wettbewerb; letztlich schaffte Schostakowitsch 15, Weinberg 17.

Die musikalische Seelenverwandtschaft ging so weit, dass Weinberg einem Bericht seiner Frau zufolge Themen »vorausträumte«, die dann bei Schostakowitsch tatsächlich auftauchten. Legendär wurden die vierhändigen Aufführungen ihrer Werke mit beiden Freunden am Klavier; ihre Symphonien, auch die niemals aufgeführten, konnten sie so ausgewählten Kreisen zugänglich machen.

Sie beide gerieten in die Mühlen stalinistischer Kulturpolitik, Werke Weinbergs, die zunächst hoch gelobt wurden, wie die Sinfonietta oder das 6. Streichquartett, wurden kurze Zeit später als »formalistisch« oder »nationalistisch« gebrandmarkt.

Die Passagierin, die die Hölle von Auschwitz gänzlich unpathetisch anklagt und doch Menschlichkeit im Erinnern aufscheinen lässt, musste sich den Vorwurf des »abstrakten Humanismus« gefallen lassen. Auch vor Leib und Leben des Komponisten selbst machten Stalins Schergen nicht halt. Nach der Ermordung seines Schwiegervaters, dem feindliche Umtriebe unterstellt wurden, kam er für vier Monate in Haft. Ob Schostakowitschs mutiger Brief an die Behörden oder lediglich Stalins Tod seine Freilassung bewirkten, sei dahingestellt.

Mehr als 150 Werke: mehrere Opern, 21 Symphonien und 17 Streichquartette

Weinbergs Produktivität und Kreativität grenzt angesichts solcher Lebensumstände an ein Wunder. Mehr als 150 Werke, darunter mehrere Opern, 21 Symphonien und 17 Streichquartette, sind das Ergebnis eines unaufhörlichen, wie getriebenen Schaffensprozesses, als sei auch der eine Flucht vor den erlittenen Schrecken.

Mit seinem Schicksal setzte sich der Komponist gleichwohl immer wieder auseinander, »Antikriegswerke«, in tiefer Trauer statt mit propagandistischem Zeigefinger, finden sich bei ihm zuhauf. Und doch auch immer wieder Zärtlichkeit, Witz und Ironie, nie so hart und bitter wie bei seinem Freund Schostakowitsch.

Die kleine Oper Mazel Tov (Wir gratulieren) strotzt vor knallbunter Komik mit rebellischem Unterton; funkelnden Witz verströmt auch das Trompetenkonzert op. 94, das die Berliner Philharmoniker mit Andris Nelsons und Håkan Hardenberger verdientermaßen dem Vergessen entreißen. Doch auch hier hat die Trompete in nachdenklichen Einschüben nahezu nostalgische Klezmer-Qualitäten.

Bei jedem dieser Weinberg-Werke, denen man mehr oder zufällig begegnet, ist unfassbar, dass sie nicht selbstverständlicher Bestandteil des Konzertrepertoires sind. Die Gründe mögen zum einen in Weinbergs Persönlichkeit liegen. Er war unfähig, für sich Reklame zu machen; die erlittenen Verfolgungen ließen ihn sich noch ängstlicher zurückziehen als zuvor. Wichtige Interpreten, wie Barshai oder Kondraschin, gingen in den Westen, wo sie sich für den unbekannten, aus dem Trend vorherrschender Modernität gefallenen Komponisten nicht einsetzen konnten.

Der Kalte Krieg belegte fast alle nicht eindeutig »dissidenten« Tonschöpfer mit dem Bannfluch, und nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Auseinandersetzung um den sozialistischen Realismus mit all ihren kreativen, unterschiedlich offenen Zuwiderhandlungen weniger denn je gefragt. Furore machte nur das Antikriegsdrama Die Kraniche ziehen mit Weinbergs wunderbarem Soundtrack, das bei den Filmfestspielen in Cannes 1958 die Goldene Palme errang.

Zum 100. Geburtstag 2019 gab es Weinberg-Festivals, -Symposien und Konzerte; Linus Roth und Thomas Sanderling von der Weinberg-Gesellschaft engagieren sich für die Verbreitung des Werks, das zu etwa zwei Dritteln auf historischen und aktuellen CDs gut dokumentiert ist. Doch in einem Konzertbetrieb, der einen vermeintlichen Zuhörergeschmack mit den immer gleichen Meisterwerken zu befriedigen versucht, hat Unbekanntes kaum eine Chance, sich über einen kurzfristigen Sensationserfolg hinaus dauerhaft zu etablieren.

»Wenn das Echo ihrer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde« ist das Fazit der Passagierin. Es gilt auch für ihren Schöpfer Moissej Mieczysław Weinberg.