Die Sphinx am Pult

Arthur Nikisch im Porträt

Arthur Nikisch, fotografiert von Nicola von Perscheid
(Foto: Staatliche Landesbildstelle Hamburg, Sammlung zur Geschichte der Photographie, erworben 1972)

Arthur Nikisch war 27 Jahre Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und dirigierte in dieser Zeit mit seinem Orchester mehr als 600 Konzerte. Vor 100 Jahren – im Januar 1922 – starb er im Alter von 66 Jahren an einer Grippe.

Der 1855 in Ungarn geborene und in Wien ausgebildete Arthur Nikisch sorgte für vielerlei Premieren. Er spielte ganz jung unter Wagner und Verdi, Bruckner und Brahms; er bekleidete sowohl bei den Berliner Philharmonikern wie beim Leipziger Gewandhausorchester die Chefposition; gastierte mit den Berlinern 1897 im revanchelüsternen Paris, führte sie 1899 nach Sankt Petersburg, Moskau, Kiew und Odessa und brachte das London Philharmonic 1912 als erstes europäisches Orchester in die USA; und er begründete die Tradition, den Silvesterabend mit Beethovens Neunter zu feiern.

Zwei Kontinente bewunderten ihn inbrünstig, ganze Völkerschaften strömten nach Berlin, um ihn zu sehen und zu hören. Denkbar unterschiedliche Granden wie Toscanini, Stokowski und sein Nachfolger Furtwängler erklärten Nikisch zu ihrem Idol, er war, konstatierte seine Konzertagentin Louise Wolff, der »Magnet der ganzen musikalischen Welt«.

Förderer von Strauss und Mahler

Tief verwurzelt in der deutschen Musikkultur förderte er Zeitgenossen wie Strauss und Reger besonders stark – den ungeliebten Konkurrenten Mahler aber erst relativ spät, dafür umso vehementer. Phänomenales Interesse bekundete Nikisch an Werken des Auslands, er dirigierte in Paris die Uraufführung von Skrjabins Dritter Symphonie, häufig Elgar und Rachmaninow, seltener Dvořák, Glasunow, Debussy und Sibelius.

Nikisch verkörperte einen neuen Dirigententypus und wurde auf diese Art stilbildend. Die tiefsten Spuren in der Musikgeschichte hinterließ jedoch sein hingebungsvoller Einsatz für zwei Spätromantiker.

Angeblich saß schon der Student Arthur unter den zweiten Geigen der Wiener Philharmoniker, als Bruckner seine revidierte Zweite Symphonie aus der Taufe hob. Legendär und zukunftsweisend dann 1884 die Leipziger Uraufführung der Siebten Symphonie – ein wichtiger Meilenstein auf Bruckners schwerem Weg zur Anerkennung.

Nikisch blieb ihm seine gesamte Laufbahn über treu. Er behielt sich bei den Philharmonikern das Erstaufführungsrecht für die von ihnen bislang nicht gespielten Symphonien 2, 4, 5, 8 und 9 vor. Die Aura des Authentischen machte ihn vollends unangreifbar; noch im November 1921 pochte Nikisch bei einer Probe zur »Romantischen« 4. Symphonie darauf, sämtliche Änderungen einst mit Bruckner »durchgesprochen und festgelegt« zu haben. Höhepunkt und Endpunkt seiner Kampagne für den wunderlichen Mann aus Sankt Florian waren die Leipziger Aufführungen der neun Symphonien in der Wintersaison 1919/20.

Nikischs Stil wurde als romantisch-lyrisch beschrieben, selbst im Fortissimo wohlklingend, mit Neigung zu breiten Tempi und instrumentalen Farben höchster Leuchtkraft, mit atemraubenden Steigerungen, bei denen Hörer wie Musiker in einer schwarzblauen Dämmerung versanken – und der Chef nicht selten mit den Tränen kämpfen musste. Beste Voraussetzungen für Peter Tschaikowsky also!

»Gebieterisch, energisch und voll Selbstbeherrschung«

Der Komponist hörte Nikisch erstmals auf seiner Konzertreise durch Westeuropa 1888, als er in Leipzig zwei Wagner-Opern besuchte. Nikisch dirigiere »gebieterisch, energisch und voll Selbstbeherrschung«, hielt Tschaikowsky in seinem Tagebuch fest; ein »sehr blasser junger Mann von etwa dreißig Jahren, mit schönen, strahlenden Augen, der in der Tat über eine Zauberkraft verfügen muss, mit der er das Orchester zwingt, bald zu donnern wie tausend Trompeter von Jericho, bald sanft zu girren wie ein Täubchen, bald in geheimnisvoll drohenden Klängen zu verhallen«. Damit hatte Tschaikowsky als erster jene von der Nikisch-Rezeption immer wieder bemühten Charakteristika formuliert: das gänzlich uneitle Gebaren, den magischen Blick, die olympische Ruhe.

Tschaikowsky lud ihn nach Moskau ein, darauf hoffend, Nikisch würde schon im Folgejahr die Uraufführung seines Zweiten Klavierkonzertes leiten. Aber Nikisch begab sich stattdessen nach Boston, und das für vier Jahre. Er hat – entgegen anders lautender, auch von ihm selbst in die Welt gesetzter Behauptungen – Tschaikowsky nie wiedergesehen. Eine dieser Legenden will wissen, dass er durch eine umjubelte Moskauer Aufführung der Fünften Symphonie, die bei der Premiere durchgefallen war, verhindert habe, dass Tschaikowsky das Manuskript ins Feuer warf.

Nikisch in der alten Philharmonie 1900

Tatsächlich fand dieses Konzert erst 1896 statt, drei Jahre nach dem Tod des Komponisten. Richtig ist allerdings, dass dank Nikischs Einsatz auch die Russen begannen, in Tschaikowsky ihren großen Klassiker zu sehen.

Die Fünfte erklang bei seinem Berliner Antrittskonzert 1895 und regelmäßig in Leipzig und Wien, erfuhr unter seiner Stabführung auch mehrere ausländische Premieren, darunter in London und Buenos Aires.

Seine bedeutendste Leistung dürfte ein Zyklus mit den sechs Tschaikowsky-Symphonien gewesen sein, den er und die Berliner Philharmoniker 1904 an drei Abenden in Sankt Petersburg realisierten.

Nikischs magische Ausstrahlung war da längst zum Markenzeichen geworden. Er galt unangefochten als führender Dirigent seiner Zeit, erlangte aber auch eine über das rein Künstlerische hinausgehende Popularität. Hauptstadttouristen mussten ihn unbedingt gesehen haben – wie Museumsinsel und Siegesallee. Selbst unter Mitgliedern bildungsferner Schichten, damals noch Proleten genannt, sprach sich der Name des Zauberers herum.

Undurchschaubar und unnahbar wie eine Sphinx, so war Nikisch dennoch nicht elitär. Er organisierte ab 1915 Volkskonzerte, die für 60 Pfennig besucht werden konnten, und hob Paul Büttners Dritte Symphonie aus der Taufe, eines der Arbeiterbewegung nahestehenden Dresdner Komponisten; in einem solchen Rahmen fand am 10. Januar 1922 auch sein letztes Konzert statt.

Nikisch sprach sich dafür aus, Frauen den Dirigentenberuf zu ermöglichen, und wollte unbedingt die Fis-Moll-Symphonie der kroatisch-ungarischen Komponistin Dora Pejačević aufführen. Das verhinderte sein unerwarteter Tod. Arthur Nikisch starb am 23. Januar 1922 in Leipzig.

Volker Tarnow

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