Weltstadtmusik: Symphonien für Paris – Szenen aus London
Das himmelblaue Orchester
Haydn kam nie nach Paris. Aber seine Symphonien erfreuten sich in der französischen Metropole seit langem schon der größten Beliebtheit. Sie beherrschten die Konzertprogramme fast schon mit der Vormachtstellung eines Monopols, als 1784 eine der tonangebenden Institutionen des Pariser Musiklebens, Le Concert de la Loge Olympique, mit einem üppig dotierten Kompositionsauftrag an den esterházyschen Kapellmeister Joseph Haydn herantrat und ihn um sechs neue Symphonien bat. Das Orchester dieser Vereinigung, die von der Freimaurerloge de la Parfaite Estime & Société Olympique getragen wurde, prunkte mit einer nach den Maßstäben deutscher oder österreichischer Hofkapellen unvorstellbaren Zahl von je 14 ersten und zweiten Violinen, sieben Bratschen, zehn Violoncelli, vier Kontrabässen, doppelt bis dreifach besetzten Holzbläsern (inklusive Klarinetten), vier Hörnern, zwei Trompeten und Pauken. Die Musiker präsentierten sich in himmelblauen Fräcken, mit Rüschenhemden und umgeschnalltem Degen, und nur geladenen Gästen war es vergönnt, die nicht-öffentlichen Konzerte in den Tuilerien besuchen zu dürfen. In diesem noblen Ambiente sind Haydns sechs Pariser Symphonien im Jahr 1787 zum ersten Mal erklungen – unter Anteilnahme der sozialen Elite einer zum Untergang bestimmten gesellschaftlichen Welt.
Joseph Haydns große C-Dur-Symphonie
Die Symphonie Nr. 82 in C-Dur war die erste und zugleich die letzte der sechs, die er für Paris schrieb, aber mehreren Verlagen verkaufte – natürlich jedem unter der Zusicherung der Exklusivität (nur der Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. erhielt sie als Geschenk). Für die Londoner Ausgabe platzierte Haydn die C-Dur-Symphonie an erster Stelle, vor allen anderen; seinen Wiener Verleger hingegen bat er, dieselbe Symphonie an den Schluss zu rücken, wie ein Ausrufezeichen. Insofern ist sie beides, Festouvertüre und Jubelfinale, Anfang und Ende, symbolisch gesprochen: das A und O der Haydn-Symphonien. Sie ist tatsächlich immer beides: Kunstwerk und Publikumsliebling, Haydn für Einsteiger und Haydn für Eingeweihte, rauschendes Fest und intellektueller Diskurs, Adelspalais und Gelehrtenstube, Feuerwerk und Mikroskopie, mondän und dörflich, elitär und populär, barock und revolutionär.
Diese erste und letzte Symphonie beginnt in der Tradition der italienischen Opernsinfonia mit Fanfaren und Signalen, mit »Habet acht!« und »Vorhang auf!«. Und sie beginnt auf einen Schlag, mit dem premier coup d’archet, dem perfekten orchestralen Auftritt nach der alten französischen Schule des seligen Lully. Aber weil diese strahlende Symphonie immer das eine und auch das andere ist, glamourös und reflexiv, wird der aufschießende C-Dur-Dreiklang des vollen Orchesters schon im nächsten Moment wieder zurückgenommen, Ton um Ton abgebaut, dekonstruiert, um nach wenigen Takten einem kurzen, galanten, leicht verschnörkelten melodischen Intermezzo zu weichen, das sich rückblickend als Vorbote des ätherischen Seitenthemas erweisen wird (instrumentiert für Flöte und Violinen über dem Bordun des Fagotts). Und Schlag auf Schlag geht es weiter: Sogleich bricht eine zackige Militärmusik los, die jedoch alsbald in den hohen Holzbläsern zu einem eleganten Tanzrhythmus verfeinert wird, dem die Violinen piano den C-Dur-Dreiklang vom Anfang unterlegen, eine faszinierende subtile Simultaneität.
Und der Puls bleibt hoch in dieser quicklebendigen Komposition: Selbst der »langsame« Satz wird zum Allegretto beschleunigt und mit einem beweglichen Thema eröffnet, das sich dem Tonfall der großstädtischen Unterhaltung nähert, gesungen und getanzt, und stilistisch dem Vaudeville und dem Contredanse nahekommt. Und das paradoxerweise zugleich als Refrain und Couplet eines potenzierten Rondos fungiert, zwischen F-Dur und f-Moll wechselnd, weshalb das Ganze auch als eine Folge von Doppelvariationen gehört werden könnte. Haydns Musik ist alles andere als einfach oder eindeutig, er liebte das Spiel mit solchen Spiegelungen, in und zwischen den Sätzen. Das Menuett tönt herrlich wie ein Hymnus, wie eine Breitwand-Variante oder Maestoso-Variation der ersten Takte des ersten Satzes, während das Trio wie ein Supplement zum Allegretto erscheint, aber dabei die Gestalt eines barocken Concerto per molti stromenti annimmt, wenn die Streicher und die Bläser unentwegt zu neuen und unkonventionellen Ensembles kombiniert werden.
Die Pariser C-Dur-Symphonie des Hofkapellmeisters Haydn ist durchaus noch dem Barock und der höfischen Kultur verhaftet. Auch im Finale, das modellhaft der französischen Musette nachgebildet ist: einem Tanz, der seinerseits das Spiel der Sackpfeife nachahmt mit ihren kurzen, sprunghaften Melodien über dem Bordun, dem liegenden Brummton im Bass. Aber wie zuvor das Menuett steigert Haydn auch diese kleine Pastorale zu großem symphonischem Format. In frühen Ausgaben erhielt die Symphonie den Beinamen Der Bär oder L’Ours. Doch Haydns Finale sprengt den Rahmen pittoresker Genrestücke mit Tierimitationen, sein letzter Satz gibt sich elementarer und zugleich monumentaler, lässt alle Assoziationen an heitere Schäferspiele mit kostümierten Adelsdamen hinter sich und gleicht am Ende gar einer Machtdemonstration des Komponisten, wenn die Bässe brüllen und die Pauken dreinschlagen wie zum Jüngsten Gericht. Ein musikalischer Sturm auf die Tuilerien, den ein isolierter Kapellmeister am anderen Ende der Welt entfacht hat?
Das dahinschmelzende Publikum: Die Kantate Arianna a Naxos
Haydn kam nie nach Paris, aber er reiste nach London. Am 18. Februar 1791 musizierte er dort am Fortepiano seine zwei Jahre zuvor komponierte Kantate Arianna a Naxos Hob. XXVIb:2. Als Solist triumphierte der italienische Kastrat Gasparo Pacchierotti, derselbe »pathetische« Pacchierotti, der einmal, wie Stendhal berichtet, bei einer Opernaufführung die Musiker mit seinem Gesang derart zu Tränen rührte, dass sie ihr Spiel abbrechen mussten. Als Pacchierotti ungeduldig von der Bühne hinabrief, was denn dem Orchester einfalle, antwortete ihm der Kapellmeister mit den entwaffnenden Worten: »Wir weinen!« So jedenfalls will es die Legende, und legendär wurde über Nacht auch Haydns Arianna, die er zuerst in The Ladies’ Concert der ebenso wohlhabenden wie kunstsinnigen Mrs. Blair vorgestellt hatte, um die Kantate wenige Tage später im Londoner Pantheon, damals eine Heimstatt der italienischen Oper, vor großem Publikum zu wiederholen. »Von nichts anderem mehr wird gesprochen – nichts wird heftiger verlangt als Haydns Kantate – oder, wie sie in der italienischen Schule genannt würde – seine Scena«, meldete der Morning Chronicle. »Sie birgt ein solches Übermaß an dramatischen Modulationen – und wirkt derart fesselnd in ihrem schmerzlichen Ausdruck, dass sie das Auditorium aufwühlte und dahinschmelzen ließ. Mit leidenschaftlicher Erinnerung spricht man von diesem Werk, und Haydns Kantate wird nach dem allgemeinen Urteil das Desideratum dieses Winters bleiben.« Den Plan, die Arianna a Naxos für Orchester einzurichten, kündigte Haydn zwar an, doch hat er ihn anscheinend nie in die Tat umgesetzt. Ariane Matiakh und die Karajan-Akademie greifen deshalb auf eine zeitgenössische Fassung für Sopran und Streicher zurück, die mit der Musikaliensammlung der Familie Martorell in der Kongressbibliothek von Washington aufbewahrt wird und die als schöpferische Bearbeitung des Originals weitaus mehr bietet als eine bloße Instrumentierung des Klavierparts. Der Arrangeur allerdings ist unbekannt – wie leider auch der Textdichter dieses Monologs der verlassenen Königstochter Ariadne.
Das unsichtbare Orchester – Gabriel Faurés Musik zu Pelléas et Mélisande
Gabriel Fauré kam 1898 von Paris nach London, um dort, am Prince of Wales Theatre, seine mit knapper Terminnot und in aller Hast vollendete Musik zu Pelléas et Mélisande zu dirigieren: bei der englischsprachigen Premiere des französischen Kultstücks. Fauré, Kompositionsprofessor am Pariser Conservatoire und Organist an der Église de la Madeleine, hatte die Préludes, Entr’actes und Chansons für den Pelléas nach den Wünschen der Schauspielerin Mrs. Patrick Campbell, der ersten britischen Mélisande, zwar noch in Monatsfrist komponiert, die Instrumentation aber seinem Schüler Charles Koechlin überlassen. Erst nachträglich, als er drei (schließlich vier) Sätze seiner Bühnenmusik für die Suite op. 80 auswählte, ergänzte und vertiefte er die ursprüngliche Orchesterfassung. Der belgische Dichter Maurice Maeterlinck, Schöpfer des Pelléas, der seinerzeit mit Shakespeare in einem Atemzug genannt und als Prophet einer künftigen Literatur verehrt wurde, schuf eine Sprache von hoher Musikalität, war aber gleichwohl ein abgrundtief unmusikalischer Mensch. Claude Debussys mehr als kongeniale Vertonung seines Dramas wusste er nie zu schätzen. Ob ihm Faurés Szenenmusik besser gefiel, bleibt eine offene Frage. Immerhin – als der Pelléas auf Maeterlincks romantischem Wohnsitz, der Abtei Sainte-Wandrille in der Normandie, im Mondschein vor einem handverlesenen Publikum gegeben wurde, erklang auch Faurés Musik, wie aus dem Nichts dargeboten von einem unsichtbaren Orchester.
Pelléas et Mélisande spielt in sagenhafter Zeit an einem fernen Ort, dem Königreich Allemonde. Im düsteren Wald, auf verlorenem Pfad, findet Golaud, des Königs Enkel, die einsame Mélisande, die weinend am Rande eines Brunnens kauert, als wäre sie den Wassertiefen entstiegen wie die Undine des Märchens. Golaud nimmt die Unbekannte als seine Frau mit auf das Schloss, zu seinem Großvater Arkel und seinem Halbbruder Pelléas: auf ein Schloss, das auf düsteren Grotten über unterirdischen Gewässern errichtet ist, ein finsterer Platz am Meer, von undurchdringlichen Wäldern umschlossen, ohne Licht, ohne Leben, freudlos, trostlos. Die Eifersuchtstragödie, die sich in lauernder Spannung zwischen Golaud, Pelléas und Mélisande entfaltet, behandelt Maeterlinck frei von Pathos und Theatralik, fernab jeder Bühnenlogik und konventionellen Dramaturgie.
Faurés Suite aus der Schauspielmusik umfasst das Vorspiel zum ersten und das zum letzten Akt mit dem Tod der Mélisande. Die Fileuse begleitet die Szene mit Mélisande am Spinnrad; die Sicilienne geht der lichten, mittäglichen Begegnung der Liebenden am »Brunnen der Blinden« voraus. Der französische Komponist scheut keineswegs die illustrativen Anspielungen: den Hornruf im Prélude, der Golaud auf der Jagd ankündigt, das Surren des Schwungrads, den Trauermarsch am Ende. Aber er trifft auch den artifiziellen Märchenton des Dramas, den Schwebezustand zwischen Naivität und Fatalismus, die eigentümliche Verlangsamung und Benommenheit dieses Traumspiels. Und er schreibt endlos fortgesponnene Melodien, die wie zufällig entdeckte Volkslieder klingen, wie schwerelose Walzer, wie Albumblätter für die Jugend, eine ferne Erinnerung, ein Gesang aus einem anderen Zimmer.
Das hingerissene Publikum
Mozart war schon als Wunderkind nach Paris gekommen. Zwölf Jahre später jedoch, als er 1778 wieder in die Hauptstadt der Franzosen reiste, war der frühe Ruhm seiner sagenumwobenen Auftritte längst verblasst, das Interesse an dem Salzburger Gastkünstler denkbar gering und die Aussicht auf einen ersehnten Opernauftrag miserabel. Die große Reise nach Paris war ein Fiasko. Mit einer Ausnahme: »Ich habe eine sinfonie, um das Concert spirituel zu eröfnen, machen müssen. an frohnleichnams=Tag [18. Juni 1778] wurde sie mit allem aplauso aufgeführt«, konnte Mozart seinem Vater in Salzburg vermelden. Das Pariser Concert spirituel, 1725 gegründet und unter der Leitung des gefeierten Gluck-Sängers Joseph Legros zu seiner Blütezeit geführt, war als öffentlich zugängliche Konzertveranstaltung wegweisend für das bürgerliche Musikleben, nicht nur in Frankreich. Den Erfolg, den Mozart hier errang, die euphorische Aufnahme seiner Symphonie D-Dur KV 297 durch das Pariser Publikum, hat er mit Genugtuung, allerdings auch mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl zur Kenntnis genommen, denn die Hörer sprangen unweigerlich auf alle Effekte an, die Mozart im Wissen um die herrschenden Vorlieben wohlkalkuliert in das Werk eingebaut hatte: »Gleich mitten in Ersten Allegro, war eine Pasage die ich wohl wuste daß sie gefallen müste, alle zuhörer wurden davon hingerissen – und war ein grosses applaudißement – weil ich aber wuste, wie ich sie schriebe, was das für einen Effect machen würde, so brachte ich sie auf die lezt noch einmahl an – da giengs nun Da Capo.«
Den premier coup d’archet, den Forte-Einsatz des Orchestertutti, ohne den – nach dem Pariser Geschmack – keine Symphonie beginnen durfte, hat Mozart selbstverständlich nicht ausgelassen. Nur im Finale erlaubte er sich ein irreführendes Spiel mit dem Auditorium: »[…] Weil ich hörte[,] daß hier alle lezte Allegro wie die Ersten mit allen instrumenten zugleich und meistens unisono anfangen, so fieng ichs mit die 2 violin Allein piano nur 8 tact an – darauf kamm gleich ein forte – mit hin machten die zuhörer, | wie ichs erwartete | beym Piano sch – dann kamm gleich das forte – sie das forte hören, und die hände zu klatschen war eins – ich gieng also gleich für freüde nach der Sinfonie ins Palais Royale – nahm ein guts gefrornes […].« Lediglich das Andante fand keine gute, sondern eher eine gefrorene Aufnahme, weshalb Legros, überaus hellhörig, wenn es um die Reaktionen seiner Konzertbesucher ging, die Komposition eines neuen Satzes nahelegte. Mozart ist – in Hinblick auf eine zweite Aufführung seiner Symphonie in Paris, am 15. August – dieser Bitte nachgekommen, und da beide langsamen Sätze erhalten sind, verursacht jede Wiedergabe der Pariser Symphonie die Qual der Wahl, zumal die entstehungsgeschichtliche Reihenfolge – welches Andante war das ursprüngliche, welches das nachträglich komponierte? – durchaus umstritten ist. Im heutigen Konzert der Karajan-Akademie wird der 98 Takte umfassende Satz im 6/8-Takt erklingen, der nach neueren Erkenntnissen als der ältere der beiden gelten muss und den Mozart erklärtermaßen favorisierte. Und mit ihm Ariane Matiakh.
Wolfgang Stähr