Der 9. November
Ein historisches Datum im Spiegel der (Musik-)Geschichte
Erinnerungstag voller Widersprüche
Novemberrevolution, Reichspogromnacht, Mauerfall: Der 9. November ist ein ambivalentes Datum im Kalender deutscher Geschichte. 1918, nach mehr als vier Jahren erbitterten Kriegs zwischen den Mächten der Entente und dem Deutschen Reich, markiert der Tag den Durchbruch der parlamentarischen Demokratie und den Aufbruch Deutschlands in die Moderne – nach einer von Irrwegen und enttäuschten Hoffnungen geprägten Revolution, deren Widersprüchlichkeit sich nicht zuletzt daran zeigt, dass nur zwei Stunden nach dem Sozialdemokraten Philipp Scheidemann Karl Liebknecht ein zweites Mal die Republik ausrief. Für Teile der radikalen Linken stand der Tag, der mit dem Zusammenbruch der Hohenzollernherrschaft nicht weniger als das Ende einer jahrhundertealten monarchischen Ordnung und den Beginn einer demokratischen Zukunft mit sich brachte, für den vermeintlichen Verrat an der Arbeiterklasse. Die demokratiefeindliche Rechte missbrauchte ihn für ihre Lüge vom »Dolchstoß«, mit Hilfe derer die Verantwortung für die beispiellose militärische Niederlage »vaterlandslosen Zivilisten« zugeschanzt wurde, mit den bekannten fatalen Folgen. Den Vorabend des fünften Jahrestags dieser vom rechten Lager als »marxistisch« verunglimpften Novemberrevolution nutzte Adolf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller, um zu einer »nationalen Revolution« aufzurufen, die allerdings am nächsten Morgen dank der Landespolizei vor der Münchner Feldherrnhalle ihr schnelles Ende fand. 15 Jahre später diente im Rahmen einer rechten Gedenkveranstaltung dieses »Marschs auf die Feldherrenhalle« das Attentat auf den Diplomaten Ernst Eduard vom Rath dem nationalsozialistischen Regime als Vorwand für die Novemberprogrome, bei denen sich in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 der in Deutschland seit Jahren systematisch geschürte Hass gegen die jüdische Bevölkerung mit äußerster Brutalität entlud. Die vor allem von Mitgliedern der SA und SS nur allzu bereitwillig ausgeführten Verbrechen waren Vorbote der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und stehen für Deutschlands tiefen Sturz in unvergleichliche Barbarei.
Märzrevolution, Versailles und was danach kam – Richard Wagners Siegfried-Idyll
Der 9. November, auf den das Programm des heutigen Konzerts in komplexer Weise Bezug nimmt, steht auch mit der von Frankreich ausgehenden Revolutionswelle in Zusammenhang, die 1848 weite Teile Europas erfasste. Am 9. November dieses Jahrs wurde Robert Blum, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, von Angehörigen konterrevolutionärer Truppen unter dem Kommando des Fürsten Windisch-Graetz in Wien ermordet. Das Ereignis markierte den Anfang vom Ende der sogenannten Märzrevolution in den Staaten des Deutschen Bundes, im Rahmen derer auch der Dresdner Maiaufstand niedergeschlagen wurde. Der damalige Hofkapellmeister Richard Wagner hatte in diversen Dresdner Zeitungen zur politischen Revolte aufgerufen und kämpfte auf der Seite der Aufständischen gegen die preußischen und sächsischen Truppen unter Oberst Friedrich von Waldersee, die in den Kampftagen des 7., 8. und 9. Mai den Aufruhr blutig beendeten. Anschließend entkam Wagner, steckbrieflich gesucht, nur mit knapper Not einem Hinterhalt in Chemnitz und tauchte bei Franz Liszt in Weimar unter, der ihm bei seiner Flucht ins Schweizer Exil behilflich war.
Das Siegfried-Idyll entstand viele Jahre später – zur Zeit, als der dritte und letzte der deutschen Einigungskriege tobte, in dem die Franzosen am 9. November 1870 bei der Schlacht bei Coulmiers einen vorübergehenden Sieg erringen konnten. Fern aller kriegerischen Handlungen, im Haus der Wagners in Triebschen am Vierwaldstättersee nahe Luzern, erklang das Idyll erstmals am Morgen des 25. Dezember »als symphonischer Geburtstagsgruß« für Cosima. Mit Ausnahme eines Schlaflieds, das Wagner Silvester 1868 notiert hatte – es erscheint als Seitengedanke »sehr einfach« in der Oboe – finden sich in dem intimen Idyll nur Themen aus dem dritten Siegfried-Akt der Ring-Tetralogie: das »Ewig war ich, ewig bin ich« zu Beginn und als ständig wiederkehrendes Hauptmotiv, das »O Siegfried, Herrlicher« im leicht bewegten Intermezzo der Holzbläser sowie das »Liebesbund-Motiv«, welches die Hörner zur »lustigen« Imitation eines Vogelrufs einführen.
Kurz vor Entstehung des Siegfried-Idyll hatte Wagner sein 1850 erstmals in der von Franz Brendel redigierten Neuen Zeitschrift für Musik unter Pseudonym veröffentlichtes Pamphlet Das Judenthum in der Musik stark erweitert und unter eigenem Namen herausgegeben. Dieser »Aufsatz über die Juden«, so brüstet sich Cosima Wagner voller Stolz in ihren Tagebüchern, habe die moderne Phase des Antisemitismus eingeleitet – eine Einschätzung, die Jens-Malte Fischer in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Wagners infamen Entgleisungen bestätigt, da der Text »der zehn Jahre später ausbrechenden massiven Antisemitismuswelle eine Art Anschubfinanzierung« gab: Cosimas Befriedigung darüber, dass die Broschüre »den Anfang dieses Kampfes« gemacht habe, sei »leider von der historischen Wahrheit nicht sehr weit entfernt«. Außerdem fanden ab dieser Zeit um 1880 die anthropologisch-rassistische Theorien des Schriftstellers und Diplomaten Joseph Arthur Graf de Gobineau über den Bayreuther Kreis verstärkt Aufmerksamkeit in Deutschland: »Der Schwiegersohn Wagners, Houston Stewart Chamberlain«, so Fischer, »widmete der Broschüre in seinem Wagnerbuch […] hochtrabende Worte der Bewunderung […].« Er gehörte zur Gruppe von Demagogen um Cosima und die bekennende Hitler-Bewunderin Winifred Wagner, die die Verbreitung antisemitischer Hetze im Einflusskreis Wahnfrieds systematisch vorantrieb.
Verfemt und verfolgt – Ernst Tochs Bunte Suite
Den 9. November 1938: Ernst Toch, der 1887 als Sohn jüdischer Immigranten in der Wiener Leopoldstadt geboren wurde, musste diesen Tag nicht in seiner Wahlheimat Deutschland erleben. Nach der Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler kehrte der Komponist von einem Florentiner Musiksymposion im April 1933, an dem er neben Richard Strauss als offizieller Vertreter Deutschlands teilgenommen hatte, nicht mehr zurück und floh nach Paris. Der weitere Weg seiner Emigration führte ihn und seine Hals über Kopf nachgereiste Familie schließlich nach Los Angeles, wo er in der florierenden Filmindustrie arbeitete. Die Bunte Suite entstand viele Jahre früher, im Dezember 1928 im Auftrag des Frankfurter Rundfunks –ein damals noch junges Medium, für das auch Kollegen wie Hindemith, Weill, Eisler und Schreker eigens Werke schufen. Das sechssätzige Stück ist für ein Ensemble bestimmt, dessen Zusammensetzung auf Tochs Überlegungen zur radiosymphonischen Vermittlung möglichst vielfältiger, auch unüblicher Klangkombinationen deutet. Neben einem mehrfach besetzten Streichquintett werden je zwei große Flöten verlangt sowie Piccolo, Oboe, Englischhorn, Klarinetten, Fagotte, Hörner, Trompeten, eine Bassposaune, Klavier und ein umfangreiches Schlagwerk. Die Sätze fokussieren sich auf jeweils unterschiedliche Register dieses Orchesters – der zweite auf die Holzbläser, der dritte auf die Streicher, der vierte auf die Blechbläser usw. – wobei Toch immer wieder den Bereich der Trivialmusik parodiert.
Spätestens am 8. Mai 1945, als weite Teile Europas in Schutt und Asche lagen und Deutschland die bedingungslose Kapitulation unterzeichnete, zeigte sich in vollem Umfang, wohin Nationalsozialismus und Rassenwahn geführt hatten. Unter alliierter Besatzung durchtrennte der »Eiserne Vorhang« die europäische Landkarte, die Berliner Mauer wurde zum Symbol der deutsch-deutschen Teilung. Nachdem sich die politischen Blöcke der beiden Weltmächte jahrzehntelang unversöhnlich gegenübergestanden hatten, erreichte das Freiheitsstreben in Osteuropa 1989 auch die DDR. Was nach dem Mauerbau vom August 1961 über Jahrzehnte nur wie eine in ferner Zukunft liegende Utopie erschien, wurde am 9. November 1989 unverhoffte Realität: der Fall der Mauer.
Musik aus Ost- und Westdeutschland – der Lagebericht von Friedrich Goldmann und Hans Werner Henzes Drei Lieder über den Schnee
Am 8. September 1989 gab das Scharoun Ensemble Berlin in der Alten Oper Frankfurt ein Konzert, bei dem Werke aus Ost- und Westdeutschland zu hören waren; an eine Öffnung der deutsch-deutschen Grenze war selbst zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu denken. Am dem Abend erklang u. a. der Lagebericht für Sopran, Bariton und Ensemble von Friedrich Goldmann, der von 1968 an im Ostteil Berlins als freischaffender Komponist lebte und sich vor allem mit seiner Orchester- und Kammermusik auch einen internationalen Namen gemacht hatte. In dem expressiven Stück, dem Günter Kunerts gleichnamiges Gedicht zugrunde liegt, tritt das in Goldmanns früherem Schaffen anzutreffende serielle Denken in den Hintergrund – zugunsten von modal gelenkten, intervall-harmonisch disponierten und koloristisch verfeinerten Klängen. Das Gedicht zeichnet ein düsteres Bild von Umweltzerstörung und Untergang der modernen Industriegesellschaft. Kunert schrieb es 1977 – zwei Jahre bevor er der DDR endgültig den Rücken kehrte, die er als »Fortsetzung der deutschen Misere mit anderen Mitteln« beschrieb.
Im selben Konzert erfolgte auch die Uraufführung von Hans Werner Henzes Zyklus Drei Lieder über den Schnee nach Gedichten von Hans-Ulrich Treichel. Henze, der ab Mitte der 1960er-Jahre vermehrt zu den politischen Fragen Stellung bezog, war ein unbequemer Komponist, der seine Zeitgenossen mit stilistisch offenen und politisch engagierten Werken zu fordern wusste. Den als Linker, Homosexueller und vermeintlicher »Traditionalist« quasi dreifachen Außenseiter zog es bereits 1953 nach Italien, wo er abseits der musikalischen Avantgarde jene schöpferische Freiheit fand, die ihm im Deutschland Adenauers verwehrt geblieben war. Sein Denken und Schreiben blieben aber auch weiterhin im gesellschaftlichen Kontext verhaftet: Henze trat in die Kommunistische Partei Italiens ein, später unterstützte er die Anti-Vietnamkriegsbewegung, beherbergte nach dem Attentat auf Rudi Dutschke den APO-Sprecher samt Familie und reiste ins kommunistische Kuba. Die melancholischen MiniaturenDrei Lieder über den Schnee entstanden während einer Reise an die Atlantikküste von Guatemala, die »einer Welt wie Robert Louis Stevenson nachempfunden und -gestellt« zu sein schien: »Schwärme von bunten Fischen – ich erkannte sie wieder aus dem ersten Kapitel von Konrad Lorenz’ Das sogenannte Böse – umgaben einen da in diesen oberhalb durch Sonnenstrahlen erhellten und in einiger Entfernung und in der Tiefe dunkel verunsicherten Wassern voller Rochen aus Schillers Taucher, Haifischen und sonstigen Mordbuben aus der Mythe und aus der Wirklichkeit« (Henze).
Von politischen und musikalischen Revolutionären – Ludwig van Beethovens Erste Symphonie
Der 9. November steht nicht nur mit der deutschen Geschichte in engem Zusammenhang, da nach dem gregorianischen Kalender auch das Ende der Oktoberrevolution 1917 auf dieses Datum fällt. 118 Jahre zuvor markiert der gleiche Tag, der laut dem französischen Revolutionskalender als 18. Brumaire bekannt wurde, zudem den Beginn von Napoleons Alleinherrschaft, die in den folgenden Jahren zur Neuordnung Europas führte. Für viele war Bonaparte, dem es ohne erbliche Privilegien gelungen war, allein durch sein strategisches Genie für grundlegende gesellschaftliche Umwälzungen zu sorgen, ein inspirierendes Idol – auch für den fast gleichaltrigen Ludwig van Beethoven, ungeachtet der Irritationen, welche Napoleons Griff nach der Kaiserkrone mit sich brachte. Er soll im Frühjahr 1798 mit dem französischen General Jean Baptiste Bernadotte verkehrt haben, der sich nach dem Frieden von Campo Formio als französischer Botschafter am kaiserlichen Hof in Wien aufhielt. Bernadotte versorgte Beethoven mit den Partituren der neuesten Revolutionsmusiken von François-Joseph Gossec, Charles-Simon Catel und Luigi Cherubini, die im Magasin de Musique verfügbar waren – Idiome, die in den Symphonien des deutschen Komponisten immer wieder anklingen. Noch 1820 schrieb Beethoven über Napoleon, dass dieser zwar durch seine Hybris gescheitert sei, aber »Sinn für Kunst und Wissenschaft« gehabt habe. »Er hätte die Deutschen mehr schätzen und ihre Rechte schützen sollen. […] Doch stürzte er überall das Feudal System, und war Beschützer des Rechtes und der Gesetze.«
War für Beethoven Napoleon der bedeutendste politische Revolutionär seiner Zeit, sah er sich selbst alsRevolutionär der Tonkunst. Insofern dachte er in geschichtlichen Dimensionen, als er der Öffentlichkeit seine Erste Symphonie programmatisch im April 1800 vorstellte: zu Beginn eines neuen Jahrhunderts und als Aufbruch in eine neue Epoche. Dabei setzte Beethoven schon in den ersten Takten dieses Werks alle Hebel in Bewegung, um seinen Zeitgenossen buchstäblich »Unerhörtes« zu bieten, was sich bereits in dem den Kopfsatz einleitenden dissonante Septimklang zeigt. Im Allegro-Hauptteil lässt Beethoven dann Rodolphe Kreutzers Ouverture de la journée de Marathon anklingen, die zu einem 1792 entstandenen Schauspiel von Jean-François Guéroult gespielt wurde. »Marathon« bezieht sich auf das Bild des die Siegesnachricht überbringenden Läufers und wird von Guéroult und Kreutzer im Sinne von »Verteidigung der Freiheit bis zum Tod« gebraucht. Die Musik absorbiert revolutionäres Gedankengut, weshalb der Musikwissenschaftler Peter Schleuning Beethovens Erste aus gutem Grund auch als »Staatsstreich innerhalb der Instrumentalmusik« bezeichnet hat.
Harald Hodeige