Das Horn, die Form und die Freiheit
Symphonien von Haydn – Konzerte von Martinů und Ligeti
Zwiesprache mit Gott
»Es wäre sehr interessant, die Veranlassungen zu kennen, aus welchen Haydn seine Kompositionen dichtete, so wie die Empfindungen und Ideen, welche dabey seinem Gemüthe vorschwebten«, gestand Haydns später Vertrauter und erster Biograf, der sächsische Legationsrat Georg August Griesinger. Er wollte »dem betagten Manne« mit seinem Nachfragen zwar nicht lästig fallen, entlockte ihm aber schließlich doch ein Geheimnis: Joseph Haydn verriet ihm, dass er in seinen Symphonien »moralische Charaktere« geschildert habe, ja in einem älteren Satz sei es um die Vorstellung gegangen, »wie Gott mit einem verstockten Sünder spricht, ihn bittet sich zu bessern, der Sünder aber in seinem Leichtsinn den Ermahnungen nicht Gehör giebt«. Auch bei anderer Gelegenheit erzählte Haydn davon, er habe »in dem Adagio einer Symphonie eine Unterredung zwischen Gott und einem leichtsinnigen Sünder zum Thema« gewählt. Aber welche Symphonie das war, fiel ihm nicht mehr ein. Vielleicht die Nummer 22?
Darüber wird tatsächlich gerätselt, gemutmaßt und beraten in der Haydn-Literatur, ob das Adagio, mit dem die frühe Es-Dur-Symphonie Nr. 22 anfängt, ein Gespräch zwischen Gott und dem Sünder ausmalen soll. Es ist ohnehin auffallend genug, als langsamer Satz an der Spitze einer Symphonie, als wäre es eine Sonata da chiesa (die traditionell in einem gesetzten Zeitmaß begann). Aber nicht nur deshalb. Haydn kombiniert die Streicher mit zwei Hörnern und zwei Englischhörnern, eine aparte, unklassische Klangkonstellation mit leicht morbidem Charme. Wenn zu Beginn die Hörner im Fortissimo den Es-Dur-Dreiklang intonieren, antworten sogleich die Englischhörner im antifonalen Wechselgesang. Über den fortlaufenden Achteln im Bass klingt das wie ein altes Wallfahrerlied oder ein Choralvorspiel. Oder wie die Stimme des Herrn mit dem irdischen Echo des Sünders? Die beiden Englischhörner verbinden sich rasch mit den aufgelockerten Streichern zu galanten und zierlichen Melodien – Ausdruck des Leichtsinns? Nur der Bass schreitet unaufhörlich voran: Sinnbild des Gesetzes? Oder der Verstocktheit des Sünders? Oder blicken wir in eine Philosophenschule, mit Rede und Widerrede, Argument und Gegenargument, vielleicht in die antike Wandelhalle der Peripatetiker (der umherwandelnde Bass!), zu denen auch Theophrast gehörte, der ein epochales Werk über moralische Charaktere schuf? Immerhin trägt die Symphonie den Namen »Der Philosoph«, den allerdings keiner so recht erklären kann. Auf das sakrale oder philosophische Adagio des Anfangs folgen jedenfalls drei mehr oder minder geschwinde Sätze: ein Presto, ein Menuett und noch ein Presto. Was auch immer damit »gemeint« sei: Die esterházysche Hofkapelle, für die Haydn 1764 seine Symphonie komponierte, muss ein Ensemble fabelhafter Virtuosen gewesen sein, namentlich das Finale berührt die Grenzen der Spielbarkeit.
Der Witz und der Weltuntergang
Die andere Es-Dur-Symphonie Nr. 103 schrieb Haydn für ein Gastspiel in London, rund 30 Jahre später. Und er verblüffte das Publikum der Uraufführung, die am 2. März 1795 im King’s Theatre stattfand, mit einem frappierenden Anfang: einem solistischen Paukenwirbel. Dieser außergewöhnliche Beginn, so teilte der Morning Chronicle seinen Lesern mit, habe die »größte Aufmerksamkeit« erregt. Da sich weder in Haydns Autograf noch in dem von ihm korrigierten und autorisierten Stimmenmaterial der Uraufführung irgendeine dynamische Anweisung für diesen berühmten ersten Takt der Es-Dur-Symphonie finden lässt, schlägt hier die Stunde der Interpreten. Eine zeitgenössische Bearbeitung für Klaviertrio sieht ein Crescendo und anschließendes Diminuendo vor, während ein Arrangement für Klavierquintett einen direkten Fortissimo-Einsatz anzeigt. Und weil Haydn das Paukensolo mit dem Wort »Intrada« bezeichnete und damit in die Nähe einer traditionellen Eröffnungs- und Aufzugsmusik rückte, ist überdies die Möglichkeit einer fanfarenartigen rhythmischen Improvisation erörtert (und erprobt) worden.
Doch nicht wegen des Paukenwirbels allein verdient die langsame Introduktion der Symphonie Nr. 103 die »größte Aufmerksamkeit«. In dem dunkel raunenden, metrisch unbestimmten Unisono der Fagotte, Celli und Kontrabässe zeichnet sich eine melodische Linie ab, deren Anfangstöne unverkennbar das »Dies Irae« heraufbeschwören, die Sequenz der lateinischen Totenmesse, den Schrecken des Weltuntergangs – eine wahrlich unheilvolle Einleitung zu einem so festlichen Ereignis wie der Aufführung einer großen Symphonie in einem öffentlichen Konzert. Und welch ein Kontrast zu dem tänzerisch beschwingten Hauptthema des folgenden Allegro con spirito! Aber der Schein unbeschwerter Ausgelassenheit trügt: Der Kopfsatz wirkt wie überschattet von der »Grabesmusik« der vorangestellten Adagio-Takte, und das unheimliche »Dies Irae«-Motiv greift als eine beunruhigende, untergründig lenkende Instanz immer wieder in das Geschehen an der heiteren Oberfläche ein. Gegen Ende des Satzes, nach der Reprise des ländlerartigen zweiten Themas, markieren dramatische Tremoli einen jähen und unvermittelten Stimmungsumschwung, der musikalische Pulsschlag erstarrt, eine letzte, einsame Phrase der ersten Violinen verliert sich – und erneut ertönt der Paukenwirbel des Anfangs und die beklemmende »Dies Irae«-Melodik der Adagio-Introduktion. Wie ein Memento mori erscheint dieser Einbruch in eine musikalische Welt der Lebensfreude und des idealisierten Tanzes: »Bedenke, dass du sterblich bist.«
Haydns Es-Dur-Symphonie ist als »Volkslied-Symphonie« apostrophiert worden. Die Doppelvariationen des Andante più tosto allegretto (das bei der Londoner Uraufführung wiederholt werden musste) basieren auf Melodien der osteuropäischen Folklore, deren kroatischer oder ungarischer Ursprung sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren lässt. Im Menuett kommt mit stilisierten Jodelrufen das alpenländische Kolorit zu seinem Recht; das Thema des Finales soll auf ein altes kroatisches Volkslied zurückgehen. Aber Volkstümlichkeit ist eine hohe Kunst und Popularität ein intellektuelles Vergnügen. Zumindest galt das einmal, im 18. Jahrhundert, und insbesondere für Haydns Londoner Symphonien. Denn der gefeierte Komponist unterhielt sein Publikum mit jenem höheren Kunstverstand, den die Briten »wit« nannten oder »the power of mind« oder »quickness of fancy«, wie in Samuel Johnsons Dictionary of the English language von 1755 zu lesen ist. Etwa zur selben Zeit widmete auch der Schweizer Kulturphilosoph Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste dem »Witz« einen eigenen Artikel. Und gelangte zu der Erkenntnis: »Eine an sich unbedeutende Begebenheit, von einem witzigen Kopf erzählt, kann sehr unterhaltend werden. Der gemeinste Gedanke, die Schilderung des unerheblichsten Gegenstandes, gewinnt durch den Einfluss des Witzes einen Reiz, der ihn für Menschen von Geschmack höchst angenehm macht.« Und eben darin liegt der »Witz« der Es-Dur-Symphonie: dass ein »gemeiner« Gedanke, schlicht wie ein Volkslied, mit Intelligenz, Hintersinn und »Compositionswissenschaft« zu einem musikalischen Geschehen von ganz ungemeiner Originalität entfaltet wird.
Die Freiheit im Exil
Am 29. September 1938 vollendete Bohuslav Martinů in der Schweiz das Konzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken – am selben Tag, da im Führerbau am Königsplatz die »Münchner Konferenz« über die Weltbühne ging, angeblich um des lieben Friedens willen, doch tatsächlich mit katastrophalen Folgen für die tschechische Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit: für die Landsleute Martinůs, die den deutschen Invasoren zum Fraß vorgeworfen wurden. Martinů schuf das Doppelkonzert im Auftrag Pauls Sachers für dessen Basler Kammerorchester. Zunächst noch in Frankreich hatte er mit der Arbeit begonnen, die er zu Besuch bei den Sachers auf seinem Landsitz in Schönenberg bei Pratteln, südöstlich von Basel, fortsetzen konnte. »Es ist eine unter erschütternden Ereignissen zustande gekommene Komposition«, bekannte Martinů, »aber die Empfindungen, die sie hervorruft, sind nicht verzweifelt, eher geben sie Empörung, Mut und unerschütterlichen Glauben an die Zukunft kund. Ihr Ausdruck ist scharf, dramatisch erregend; eine Fülle von Tönen strömt herab, die keinen Augenblick innehält, und die reichen Melodien fordern leidenschaftlich das Recht auf Freiheit.«
Martinůs Konzert steht in der späten Nachfolge der barocken Concerti a due cori, des dialogischen, antifonalen Musizierens. »Ich wollte vor allem die nahezu immer gleiche und mechanische Klangwirkung der Streicher vermeiden, wie sie die Entwicklung im Symphonieorchester gebracht hat«, erklärte Martinů. Klavier und Pauken garantieren nicht allein die gewünschte akustische Härte und rhythmische Durchschlagskraft, sie durchkreuzen obendrein den doppelten Streichersatz mit Akzenten, Gegenstimmen und schockartigen Impulsen. Und der pianistische Solopart wird streckenweise sogar in den Rang eines eigenen, dritten Orchesters erhoben.
Passion erscheint in diesem Konzert als die Kehrseite der Präzision; die Klarheit des Ausdrucks befeuert die mitreißende Dramatik, die klassische Form verleiht der Empörung einen festen Grund und ein sicheres Ziel. Martinůs Konzert verteidigt die Freiheit der Musik gegen jegliche Vereinnahmung, aber das Werk verschließt sich nicht gegen das Unglück der Menschen, das Schicksal der Verfolgten und Ermordeten. Als das Doppelkonzert Ende 1942 von Fritz Reiner und dem Pittsburgh Symphony Orchestra gespielt wurde, bald drei Jahre nach der Baseler Uraufführung, widmete Martinů den zentralen Satz, das Largo, den »Märtyrern von Lidice«. Der tschechische Ortsname steht für die Verbrechen der deutschen Besatzer, für die Massenerschießungen, Deportationen und Verwüstungen. Martinůs Konzert aber stellt dem die Menschlichkeit entgegen, die nur im Exil überleben konnte.
Das unwohltemperierte Horn
Hamburgisches Konzert: Der Titel erinnert an Johann Sebastian Bach, die Musik selbst allerdings nicht. Der ungarische Emigrant György Ligeti, der viele Jahre seines Lebens in Hamburg lebte und lehrte, komponierte das Werk 1998/1999 im Auftrag der dort ansässigen Zeit-Stiftung. Und die wünschte sich, das Konzert möge ebendort zur Uraufführung kommen und überdies die Freie und Hansestadt im Namen tragen. Es traf sich, dass die Hornistin Marie-Luise Neunecker schon vor langer Zeit bei Ligeti angefragt und ihn um ein Konzert für ihr Instrument gebeten hatte, weshalb der Komponist nun alle Wünsche (auch seine eigenen, wie wir sehen und hören werden) erfüllen konnte und ein Hornkonzert für Hamburg schrieb, freilich das ungewöhnlichste, das sich ein Mensch nur ausdenken konnte. Angefangen mit den sechs Sätzen: Den siebten ergänzte Ligeti post festum, unter dem Eindruck der Premiere, als er eine Disproportion in der Satzfolge festzustellen meinte. »Warum ich das so fühle, kann ich nicht sagen. Das ist ein subjektives Abwägen der Gewichte oder der Bedeutungen«, verriet Ligeti, indem er nichts verriet. »Für mich sind Proportionen wesentlich. Ich bewundere zum Beispiel die Architektur der vielen Sätze im a-Moll-Streichquartett von Beethoven. Rational kann ich nicht begründen, was eine gute Form ist.«
Und wie bei Beethovens späten Streichquartetten stellt sich auch beim Hamburgischen Konzert die Frage, wie viele Sätze es eigentlich umfasst. Zählt man alle Unterteilungen mit, die in den Satzüberschriften ausgewiesen sind, kommt man sogar auf 14: eine fließende, flüchtige, unstete, unberechenbare, verfremdete und surreale Architektur, eine fantastisch gute Form. Und Formenvielfalt, denn Ligeti verwirbelt klassische Prägungen instrumentaler, vokaler, weltlicher und liturgischer Art, vom Praeludium bis zum Hymnus, mit sehr freien und äußerst strengen Satztypen – wobei sich der Kanon des vierten Satzes in einem klirrenden, flirrenden Klanggespinst aus lauter Prestissimo-Sechzehnteln auflöst. Und auch die osteuropäische bis nahöstliche Musik kommt mit den asymmetrischen Rhythmen des türkischen Aksak (Hinketanz) ins Spiel; andererseits greift Ligeti im Hoketus auf das mittelalterliche »Zerschneiden der Stimme« zurück, den pausendurchsetzen Wechselgesang, bei dem der eine Sänger aussetzt, sobald der andere einsetzt.
Bis zur Erfindung der Ventilsysteme im 19. Jahrhundert stand den Hornisten nur die begrenzte Zahl und Auswahl der Naturtöne zu Gebote, wenn sie das ventillose Waldhorn bliesen. Auf dem modernen Ventilhorn dagegen lassen sich buchstäblich durch Knopfdruck weitere Naturtonskalen zuschalten, die Natur wird überlistet, und der Meister muss sich nicht länger in der Beschränkung zeigen. Dennoch standen viele Fortschrittsskeptiker dem »Maschinenhorn«, wie sie es abschätzig nannten, mit unbeirrbarer Ablehnung gegenüber (zum Beispiel Johannes Brahms). Es war gerade die Unvollkommenheit und Unebenheit des alten Waldhornklangs, das Ursprüngliche und Naturwüchsige des Instruments, das sie gegen den gleichmacherischen Perfektionismus einer neuen Zeit verteidigen zu müssen glaubten.
György Ligeti schrieb den Solopart seines Hamburgischen Konzerts für Ventilhorn in F/B und für Naturhorn und integrierte obendrein noch vier weitere Naturhörner in verschiedenen Stimmungen in das ohnehin unorthodox besetzte Orchester, außerdem zwei Bassetthörner (aber bei denen handelt es sich, dem Namen zum Trotz, um Klarinetten). Doch ging es ihm nicht um Nostalgie, Romantik oder den Reiz des Anachronistischen. »Ich bin längst des temperierten Stimmungssystems überdrüssig, das seit Bachs Zeiten in Gebrauch, also keineswegs naturgegeben ist«, betonte Ligeti wenige Tage vor der Uraufführung des Konzerts. Da ihm computer-generierte Klänge zu steril erschienen, experimentierte der Komponist mit geeigneten akustischen Instrumenten, um neuartige Klangfarben und Klangspektren zu gewinnen. »Ich fragte mich: Welches Instrument erzeugt am sichersten eine reine, untemperierte Obertonskala? Antwort: Das Naturhorn. Nächste Frage: Wie kann ich die naturbelassenen Obertöne mehrerer Hörner auf verrückte Weise kombinieren? Ich kam auf die Idee, die harmonischen Spektren umzustülpen wie einen Handschuh.« Nicht nur der Solist, das ganze Ensemble konzertiert in konkurrierenden Stimmungen und Systemen, wohltemperiert und untemperiert, naturbelassen und nachjustiert, weshalb die Musik für unsere geschulten Ohren zwangsläufig verstimmt, schräg und umgestülpt klingt. Aber die falschen Töne sind tatsächlich die reinen, die richtigen hingegen sind »temperiert«, also manipuliert – welch ein hintersinniger Beitrag zum Thema Natur und Kunst. Und Freiheit.
Wolfgang Stähr