Für Kenner und Liebhaber
Klavierquartette von Frank Bridge, Danny Elfman und Johannes Brahms
Auftrag eines Hobby-Geigers: das Phantasy Piano Quartet von Frank Bridge
Er war ein erfolgreicher Unternehmer, dessen Firma gewebte Treibriemen für Maschinen herstellte. Als leidenschaftlicher Musikliebhaber verwendete er aber die meiste Zeit nicht für das Geschäft, sondern für sein Hobby. Die Rede ist von Walter Willson Cobbett, der 1847 in der englischen Grafschaft Kent zur Welt kam. Nach dem Hören eines Beethoven-Streichquartetts hatte er sich in Kammermusik verliebt. »Durch sie eröffnete sich mir eine wundervolle Welt«, bekannte er. »Ich wurde ein demütiger Bewunderer dieser unendlich schönen Kunst, und so begann für mich das Kammermusik-Leben.« Cobbett spielte als Geiger regelmäßig in einem Amateur-Streichquartett. Um das häusliche Musizieren weiter zu verbreiten, begründete er eine Kammermusik-Zeitschrift, eröffnete eine Leihbibliothek für Kammermusik-Noten, war Hauptautor eines Kammermusik-Lexikons, organisierte Kammermusik-Konzerte für Arbeiter und verlieh eine Cobbett-Medaille für besondere Verdienste um die Kammermusik. Nicht zuletzt finanzierte dieser Enthusiast von 1905 an einen Wettbewerb für Kammermusik-Komponisten.
Erwünscht waren bei diesen Cobbett Competitions einsätzige Werke in der Tradition der altenglischen Streicherfantasien. Demnach sollten mehrere kontrastierende Abschnitte unter einem einzigen großen Bogen zusammengefasst werden. Als beim ersten Wettbewerb Phantasies für Streichquartett verlangt wurden, erhielt der 26-jährige Frank Bridge mit seinem Phantasy-Streichquartett f-Moll den Sonderpreis. Bridge, der Sohn eines Geigenlehrers, hatte bei dem Iren Charles Villiers Stanford Komposition studiert und war außerdem als Bratscher ein gefragter Kammermusiker. Beim zweiten Wettbewerb, der 1907 für Klaviertrios ausgeschrieben wurde, errang er mit seinem Phantasy-Trio c-Moll unter 67 Bewerbern den Ersten Preis. 1910 entschloss sich Cobbett, statt eines Wettbewerbs zwölf Komponisten in den folgenden Jahren mit Phantasies für verschiedene Besetzungen zu beauftragen. Von Bridge wünschte er sich ein Klavierquartett – eine Anregung, die dieser gerne aufgriff.
Charles Villiers Stanford war unter anderem in Leipzig bei Carl Reinecke sowie in Berlin bei Friedrich Kiel ausgebildet worden; während dieser Aufenthalte in Deutschland hatte er besonders intensiv die Musik von Robert Schumann und Johannes Brahms sowohl kennen als auch lieben gelernt. Als Kompositionslehrer am Royal College of Music in London gab er diese Tradition an seine Schüler weiter und achtete dabei streng auf die Einhaltung des klassisch-romantischen Regelkanons. Dieser Unterricht hat Bridge wesentlich geprägt, nicht zuletzt weil Cobbett ihn überdies auf altenglische Vorbilder hinwies. So setzte er sich mit der einsätzigen Phantasy-Form nicht nur in den bereits genannten Werken (Streichquartett und Klaviertrio) auseinander, sondern 1906 auch in einer Dramatic Fantasia für Klavier. Den Höhepunkt aber bildete sein Phantasy Piano Quartet aus dem Jahr 1910, das in der Tonart fis-Moll und im ruhigen Zeitmaß (Andante con moto) beginnt.
Die drei Streicher präsentieren das Einleitungsmotto im Unisono, bis im Klavier als Hauptthema eine eingängige lyrische Melodie erklingt, die das Cello aufgreift. Mit häufig verdoppelten Stimmen im Streichtrio kommt es zu einer üppigen und schwärmerischen Atmosphäre. Lebhafter wirkt der nachfolgende Allegro-vivace-Teil in d-Moll, in dem zu hohen Klavieroktaven die anderen Interpreten ein skurril synkopiertes Thema spielen. Es wirkt scherzo-artig und kehrt nach einem verträumten Mittelteil wieder. Mit einem Cello-Solo beginnt ein langsamerer Abschnitt im Tempo des Beginns (Andante con moto), der in d-Moll das Einleitungsmotto zitiert. Schon bald ist wieder die Haupttonart fis-Moll erreicht und damit das von den Streichern kräftig intonierte Hauptthema. Danach beginnt ein Prozess der Verlangsamung, der mit zauberhaft zarten Fis-Dur-Klängen auch das Scherzo-Thema des Mittelteils einschließlich der hohen Klavieroktaven erfasst. Das Werk endet in arpeggiertem Wohlklang.
Die Liebe zur Kammermusik, die Walter Willson Cobbett in England so wesentlich gefördert hatte und die nach 1940 durch das auf die britische Insel geflüchtete Amadeus Quartet weiteren Auftrieb erhielt, ist hierzulande noch nicht allgemein bekannt. Auch der Komponist Frank Bridge ist in Deutschland den meisten Musikfreunden nur als Lehrer von Benjamin Britten ein Begriff. Seine Kompositionen werden hier vernachlässigt, weil sie unbeirrt von den Entdeckungen eines Debussy, Ravel, Strawinsky, Bartók und Schönberg ihren traditionsbewussten Weg gehen. Dabei erweist sich Bridges hervorragend gearbeitetes Phantasy Piano Quartet als besonders schönes Beispiel für eine Kammermusik, die nicht nur im Konzertsaal beheimatet ist, sondern die Verbindung zum häuslichen Musizieren noch aufrecht erhält. Es ist ein Werk für Kenner und Liebhaber, für so kundige Amateure wie Walter Willson Cobbett, ohne den sie nicht entstanden wäre.
Befreit von den Bildern: Das Klavierquartett von Danny Elfman
Filmmusik richtet sich in der Regel an ein breites Publikum und muss leicht verständlich sein. Sie sucht starke und eingängige Effekte, weshalb Kenner der sogenannten E-Musik sie oft als zweitrangig bewerten. Dabei hatten Klassiker des Genres wie Erich Wolfgang Korngold, Bernard Herrmann und Franz Waxman eine gediegene Komponistenausbildung absolviert. Heutzutage ist der Filmmusik jedoch ein eigenes Studienfach für Spezialisten gewidmet, die meist ohne Umwege gleich mit dem Schreiben von Soundtracks beginnen. Wieder anders war der Weg des 1953 in Los Angeles geborenen Danny Elfman. Mit Jazz, Pop und Filmmusik aufgewachsen, begann er als Geiger, Sänger und Schlagzeuger in diversen Musikgruppen, bis das Transkribieren von Jazztiteln Duke Ellingtons und anderer ihn allmählich autodidaktisch zum Komponieren brachte. In der Zusammenarbeit mit dem Regisseur Tim Burton wurde Elfman bald ein erfolgreicher Schöpfer von Filmmusik, dem Soundtracks wie die diejenigen zu Batman und Die Simpsons oder TV-Serien wie Desperate Housewiveszu verdanken sind.
Dass Werke von Dmitri Schostakowitsch, Sergej Prokofjew, John Adams und Philip Glass im Konzertsaal ebenso zuhause sind wie im Kino, hat Elfman beeindruckt – und herausgefordert. Das Schaffen absoluter Musik bedeutet für ihn eine Befreiung von den Filmbildern und dem Anpassungsdruck der Regisseure, andererseits aber auch die Notwendigkeit, Ideen und Formen allein aus der musikalischen Fantasie zu entwickeln. Hatte Elfman mit seinem Violinkonzert »Eleven Eleven« (2017) schon die Sphäre der absoluten Musik betreten, so erklärte er sich nach einem Treffen mit dem Cellisten Knut Weber auch bereit, einen Kompositionsauftrag der Stiftung Berliner Philharmoniker anzunehmen und ein Werk für das Philharmonische Klavierquartett zu schreiben.
Sowohl beim Violinkonzert als auch beim Klavierquartett achtete er darauf, trotz des jeweils anderen Rahmens seine persönliche Handschrift als Filmkomponist nicht ganz preiszugeben. Mit der Arbeit in einem ihm völlig unbekannten Genre wollte er der eigenen Klangfantasie neue Wege ermöglichen, ohne dabei die Fans seiner Filmsoundtracks völlig zu verunsichern. So verzichtete Elfman schon in den Satztiteln auf die klassische Terminologie. Das Klavierquartett beginnt unter dem Titel Ein Ding und lässt über kreisenden Figuren eine Cellomelodie schweben. Obwohl sich diese auch zu wildem Ausdruck steigert, wurzelt der Satz in der Minimal Music. Der an zweiter Stelle stehende Kinderspott verwendet die Melodik und Rhythmik eines amerikanischen Kinderlieds, das Elfman durch rasende Figuren unterbricht und verfremdet. Mit dem dritten Satz, Duett für Vier, befreit sich der Komponist noch weiter von bildhaften Assoziationen. Auf das energische Unisono aller Instrumente folgt eine zarte Replik. Frage und Antwort, Bewegung und Ruhe wechseln sich periodisch ab, bis zum Schluss das Unisono des Anfangs wörtlich wiederkehrt. Auf ein kurzes Intermezzo (Ruhig), in welchem leisen choralartigen Klavierakkorden Halteklänge der gedämpften Streicher gegenüberstehen, folgt ein rasches Rondofinale. Es entspricht trotz des rätselhaften Titels Die Wolfsjungen, der möglicherweise auf einen Film anspielt, ganz dem Geist der Kammermusik. Wie schon beim vorangegangenen Adagio klingt in der thematischen Arbeit, der spielerischen Bewegung, der freien Ausweitung der Tonalität und den klassischen Formen das Idiom Dmitri Schostakowitschs als Vorbild an. Das oft wiederholte und immer wieder neu beleuchtete Hauptthema des Schluss-Satzes prägt sich ein, bis das Quartett in schneller Bewegung und mit vielen Taktwechseln furios endet. Es verdient das Interesse eines unvoreingenommenen Kammermusikpublikums, könnte aber auch dazu beitragen, Filmmusikfreunde jeden Alters in den Konzertsaal zu locken.
Beethovens Erbe: Johannes Brahms und sein Klavierquartett op. 25
Arnold Schönberg, der 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft aus Berlin vertrieben worden war, kam ein Jahr später nach Los Angeles. Dass er hier im Schatten der Filmkomponisten stand, behagte ihm keineswegs. Immerhin verhalf ihm aber sein frühes Streicherstück Verklärte Nacht zu einer gewissen Aufmerksamkeit. Als Irving Thalberg, einer von Hollywoods einflussreichsten Filmproduzenten, dieses Werk 1935 im Radio hörte, war er von dessen spätromantischem Klangzauber so begeistert, dass er bei Schönberg anfragte, ob er die Musik zu dem Film The Good Earth nach dem Roman von Pearl S. Buck schreiben wolle. Schönberg war interessiert und begann schon mit einigen Entwürfen. Das von ihm geforderte Honorar von 50.000 Dollar war aber selbst für die große Produktionsfirma MGM zu hoch, sodass das Projekt nicht zustande kam.
Auch der Dirigent Otto Klemperer hatte Berlin verlassen müssen und lebte inzwischen in Los Angeles. Schönberg erwartete von ihm regelmäßige Aufführungen seiner Werke mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra. Klemperer ahnte allerdings, dass die Dissonanzen der atonalen und dodekafonen Arbeiten Schönbergs das kalifornische Publikum schockieren würden, und regte deshalb den Komponisten an, mit Rücksicht auf die größtenteils noch unerfahrenen Hörer ein klassisches Stück für Orchester zu bearbeiten. Schönberg nahm den Auftrag an und wählte das g-Moll-Klavierquartett op. 25 von Johannes Brahms für eine Orchestrierung aus. Denn, so begründete er seine Wahl, dieses Werk sei selten zu hören und dann meist so, dass das Klavier die Streicher übertöne. »Ich wollte einmal alles hören.« Außerdem wehrte sich Schönberg gegen die verbreitete Meinung, Brahms sei im Vergleich zu Wagner konservativ. Parallel zu den Wagner-Feiern vom Februar 1933 hatte er deshalb in einem Frankfurter Rundfunkvortrag »Fortschrittliches« an Brahms hervorgehoben: die asymmetrischen Themen, die unschematischen Formen und das Prinzip der entwickelnden Variation.
Diese Merkmale lassen sich schon im ersten Satz des Klavierquartetts konstatieren. Er beginnt im Klavier mit einem grimmig und unisono in oktavierten Viertelnoten vorwärtsschreitenden Thema, bis nach zehn Takten abermals der Pianist ein lyrisches Seitenthema einführt. Kurze Zeit später spielt das Cello als zweites Seitenthema eine weitgeschwungene Melodie, die Violine und Bratsche bald darauf in D-Dur aufgreifen. Sie wird fortgesponnen und zu einem weiteren Nebengedanken hingeleitet. Erst in der Durchführung kehrt das Hauptthema wieder und steigert sich zu leidenschaftlicher Dynamik. Abweichend von der Norm beginnt die Reprise nicht mit dem Hauptthema, sondern dem ersten Seitenthema. Über diesen Kopfsatz hatte Joseph Joachim an Brahms geschrieben: »Die Erfindung des 1ten Satzes ist nicht so prägnant, wie ichʼs von Dir gewohnt bin.« Er fügte hinzu: »Aber was Du aus den Themen machst, ist oft ganz herrlich!« Eben dies ist die von Schönberg hervorgehobene sogenannte entwickelnde Variation. Spontaner gefielen Joachim allerdings die drei anderen Sätze, vor allem das Rondo alla Zingarese, mit dem Brahms ihm, dem gebürtigen Ungarn, »eine ganz tüchtige Schlappe versetzt« habe.
Am 16. November 1861 wurde die Komposition mit Clara Schumann am Klavier in Hamburg uraufgeführt. Ein Jahr später übernahm Brahms bei einer Aufführung in Wien selbst den Klavierpart und wurde danach als Erbe Beethovens gefeiert – ein Kompliment, das seiner Übersiedlung in die österreichische Haupstadt den Weg ebnete. Besonders starke Wirkung machte wieder der letzte Satz. Auch Schönbergs Orchesterfassung fand unter der Leitung Otto Klemperers in Los Angeles viel Beifall. »Man mag das Originalquartett gar nicht mehr hören, so schön klingt die Bearbeitung«, meinte der Dirigent. Der Orchestermanager kam nach der Aufführung auf ihn zu und sagte: »Ich weiß gar nicht, warum die Leute sagen, Schönberg hat keine Melodien. Das war doch sehr melodisch.«
Albrecht Dümling