Gefährdete Idyllen
Beethoven, Mahler und die Suche nach der Einfachheit
Wohin der Blick schweift: Beethovens Violinkonzert
»Meine Zeit wird kommen«, schrieb Gustav Mahler in einem Brief vom 31. Januar 1902 an Alma (noch) Schindler. In diesen inzwischen zum Allerweltsspruch abgeschliffenen Worten zeigt sich Mahlers unerschütterlicher Glauben an die Zukunft seines Œuvres – eine Überzeugung, die er mit Ludwig van Beethoven teilte. Dessen Violinkonzert erhielt 1807 in einer Wiener Zeitung folgende Rezension: »Ueber Beethhofens [sic!] Concert ist das Urtheil von Kennern ungetheilt; es gesteht demselben manche Schönheit zu, bekennt aber, daß der Zusammenhang oft ganz zerrissen scheine, und daß die unendlichen Wiederholungen einiger gemeiner Stellen leicht ermüden können.«
Auch wenn Beethoven nach der Uraufführung Änderungen an seinem Opus 61 vornahm, konnte er den Erfolg dieses Konzerts, das heute als eines der größten seiner Art gilt, nicht mehr erleben: 1844 führte der erst 13 Jahre alte Joseph Joachim es in London unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy zum Triumph und wirkte durch weitere Aufführungen in den 1850er-Jahren als stilbildender Beethoven-Interpret.
Wie im benachbarten Klavierkonzert G-Dur liegt die Schwierigkeit dieses Werks in seiner Einfachheit: Anknüpfend an die späten Gattungsbeiträge Mozarts schafft Beethoven lyrische Musik von höchster Innigkeit und definiert das Virtuosenkonzert als konzertante Symphonie, in die der Solist als primus inter pares eingebettet ist. Auf dramatische Effekte wird weitgehend verzichtet, die Komposition stellt sich geradezu als Kultus um einen einzigen Ton dar: Es ist jenes d, das die Pauke zu Beginn viermal unbegleitet erklingen lässt. Natürlich lässt sich dieser unkonventionelle Anfang als Auftakt zu einem Marsch interpretieren, womit sich Beethoven an französische Modelle des Solokonzerts angelehnt haben könnte. Andererseits wird dieses d so abgeklärt eingeführt und zur Grundlage einer so lichten Melodie gemacht, dass sich militärische Assoziationen zunächst nicht einstellen wollen. Wenn der gegebene Puls im langen Kopfsatz allerdings wütend bekräftigt wird, wenn der konsequente Rhythmus am Ende der Durchführung schicksalhaft in den fernen Blechbläsern aufscheint, wenn das Ganze in ein fahles g-Moll abgleitet: dann scheint das Idyll von außen bedroht zu werden, wie es der Grunderfahrung des napoleonischen Zeitalters entsprach.
Beethoven widmete das Stück, zu dessen rascher Entstehung es kaum Dokumente gibt, »par Clemenza pour Clement« und zeichnete mit »L. v. Bthvn 1806«, womit er heutige Werbeagenturen offenbar glauben machte, die B(ee)th(o)v(e)n-Bemühungen für das Jubiläumsjahr 2020 ohne Vokale ankündigen zu sollen. Vom Widmungsträger Franz Clement, dem Konzertmeister des Theaters an der Wien, ging es zu dem Komponisten und Verleger Muzio Clementi: Dieser handelte Beethoven eine Bearbeitung des Opus 61 als Klavierkonzert ab, der wir – im Gegensatz zur Violinfassung – eine eigenhändige und ausführliche Kadenz für den ersten Satz verdanken. In dieser gleichsam zweiten Durchführung tritt die Pauke nochmals prominent auf.
Bevor sich die Geige ins verspielte Final-Rondo hineinpendelt, das den Erwartungen an virtuose Darbietungen am ehesten entgegenkommt, lässt Beethoven die Solostimme im G-Dur-Larghetto in eine Ferne schweifen, die im Kopfsatz allenfalls als Bildhintergrund angenommen werden konnte – weit entfernt von den stützenden Pizzicati der Tutti-Streicher, »der überwältigendste Ausdruck der Weite, des In-die-Ferne-Sehens«, wie Theodor W. Adorno befand. Ein Blick, der jenen zu eigen ist, die weit über ihre Zeit hinausdenken.
Wiener Klassiker
Sieben Jahrzehnte liegen zwischen Ludwig van Beethovens Tod in Wien und Gustav Mahlers Amtsantritt als Direktor der dortigen Hofoper ebendort. Diese Spanne brachte so starke Veränderungen mit sich, dass das Wien zu Mahlers Zeit mit der heutigen österreichischen Hauptstadt womöglich mehr gemeinsam hat als mit der Wahlheimat des älteren Kollegen. Dennoch war Beethoven für einen Dirigenten am Ende des 19. Jahrhunderts das Maß aller Dinge: in der Oper mit dem Fidelio, im Konzertsaal mit den Symphonien, die Mahler in umstrittenen Bearbeitungen spielen ließ.
Selbstverständlich bezog sich Mahler auch als Symphoniker auf Beethoven und dessen, wie er sagte, »innere Programme«. Unterschiedlichste Kommentatoren haben Mahlers Idealismus auf Beethoven zurückgeführt, etwa der sowjetische Musikologe Iwan Sollertinski, der 1932 befand, der Komponist habe versucht, »in der Epoche des verfaulenden Kapitalismus die Aufgabe Beethovens zu verwirklichen; er strebte danach, eine Symphonik von hohem philosophisch-heroischen und sozial-ethischen Pathos zu schaffen«. Im Geiste orientalischer Mystik kam Max Brod 1961 zu dem Schluss, dass in Mahlers Werk »alles da« sei: »Das Böse und das Gute, der Widerstreit beider Prinzipen, einer Lichtwelt und eines grauenhaften Reiches der Finsternis, – so wie in Mahlers großem und eigentlichem symphonischen Vorbild, in Beethoven, die feindlichen und die heilenden Kräfte der Schöpfung, Ahriman und Ormuzd, stark und lebendig miteinander im Kampf liegen.«
Wo die schöne Trompete bläst: Mahlers Blumine-Satz
Auch wenn das Schaffen der beiden Tonschöpfer in seiner Entwicklung keine Gemeinsamkeiten aufweist, lässt sich konstatieren, dass Mahler wie Beethoven seine Erste Symphonie aus gewachsener Erfahrung heraus komponierte, wenngleich sie für ihn zum work in progress wurde. Von den ersten Vorarbeiten an vergingen fünf Jahre, bis das als »Symphonische Dichtung in zwei Abtheilungen« überschriebene Stück 1889 in Budapest uraufgeführt werden konnte. Erst als Mahler sein Werk 1896 zu den Berliner Philharmonikern brachte, wurde es als »Symphonie« bezeichnet. Entscheidender Schritt auf dem Weg von der Tondichtung dorthin war die Streichung des zweiten Satzes, die Mahler vor der Berliner Aufführung vornahm. Das entfallene Stück mit dem Fantasie-Titel Blumine wurde erst viel später wiederentdeckt; die Berliner Philharmoniker haben es bislang nur einmal gespielt.
Das mag auch daran liegen, dass dieser kaum mehr als fünf Minuten dauernde Andante-Satz gemeinhin als Leichtgewicht mit »vielfältigen Anklängen an Salonmusik« gilt – so bezeichnet ihn Constantin Floros im Vorwort einer aktuellen Neuausgabe der Partitur. Diesem Urteil mag folgen, wer von Mahler monumentale Eingebungen wie den Kopfsatz der Dritten oder das Finale der Sechsten Symphonie erwartet. Wer hingegen an einige seiner Intermezzi denkt – etwa Urlicht aus der Zweiten, Es sungen drei Engel aus der Dritten und das Adagietto aus der Fünften Symphonie –, kann die Kunst des erfüllten musikalischen Augenblicks in diesem Satz entdecken, der zudem eine Vision enthält: Wenn sich das unbeschwerte C-Dur des Trompeten-Idylls nach a-Moll wendet, wenn die Holzbläser verhaltene Trauer artikulieren, dann wird eine Passage aus dem ersten Satz des Lieds von der Erde fast wörtlich vorformuliert: Es ist die Einleitung zur dritten Strophe »Das Firmament blaut ewig …«.
Indem Mahler in Blumine das Thema dann parallel in Kontrabass und Oboe unter Aussparung der Mittelstimmen fortführt und den Satz mit einem sehnsüchtigen Vorhalt zum Schlussakkord leitet, entfernt er sich – Anklänge hin oder her – meilenweit von Salonmusik. Dass er dieses Stück trotzdem aus seinem symphonischen Erstling entfernte, dürfte vor allem daran gelegen haben, dass sich Blumine nicht leicht in den Gesamtablauf des Werks einbinden ließ: Zu sehr ist der Satz einer Schauspielmusik verpflichtet, die Mahler 1884 als Kapellmeister in Kassel geschrieben hatte. Auch dürfte er mit der literarischen Vorlage, dem Trompeter von Säkkingen des Joseph Victor von Scheffel, gehadert haben: Der damalige Bestseller behandelt Themen, die Mahler am Herzen lagen, in eher betulichen Versen.
Wagen und Behagen: Mahlers Lieder aus Des Knaben Wunderhorn
Wie anders erging es Mahler mit den Gedichten aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, die Achim von Arnim und Clemens Brentano 1806 herausgegeben hatten! Kein Projekt hat ihn über einen so langen Zeitraum hinweg beschäftigt wie die Vertonung ausgewählter Wunderhorn-Texte: In den Jahren 1888/1889 entstanden neun Klavierlieder, bis 1901 folgten weitere 14 Kompositionen sowohl in Klavier- als auch in Orchesterfassungen, bei denen Mahler zunächst an ein solistisch besetztes Ensemble dachte. Etliche Wunderhorn-Melodien finden sich auch in den frühen Symphonien wieder.
Während sich seine Zeitgenossen der Décadence hingaben, suchte Mahler in diesen Texten »mehr Natur und Leben – also die Quellen aller Poesie – als Kunst«, wie er in einem Brief schrieb, womit er sich Goethes Aufsatz über die Wunderhorn-Erstausgabe anschloss: »Hier ist die Kunst mit der Natur im Konflikt, und eben dieses Werden, dieses wechselseitige Wirken, dieses Streben scheint ein Ziel zu suchen, und es hat sein Ziel schon erreicht.« Mit seiner Musik hielt er diese Spannung aufrecht, wie der Kritiker Eduard Hanslick früh erkannte: »Ein Zwiespalt zwischen dem Begriffe ›Volkslied‹ und dieser kunstvollen, überreichen Orchesterbegleitung ist nicht wegzuleugnen. Aber Mahler hat dieses Wagestück mit außerordentlicher Feinheit und meisterlicher Technik ausgeführt.« Ein erstaunliches Lob für einen Publizisten, der für seine gnadenlosen Verrisse gefürchtet war …
Die heutige Auslese der nicht zyklisch gedachten Wunderhorn-Lieder konzentriert sich auf die späten, längeren und ernsteren Kompositionen, wobei das Rheinlegendchen als Muster der mahlerschen »Tanzreime« eine Ausnahme bildet. Zu einer »gemächlich« walzerartigen Eingebung fand Mahler erst nachträglich diesen Text. Das Lied ist ein Beispiel für seinen ironischen Umgang mit dem altösterreichischen »Behagen« – einem von Mahler gerne verwendeten Begriff, der an Heimito von Doderers Diktum über die »Furchtbarkeit des Österreichers« denken lässt, nämlich die »Rückwendung seiner hohen Intelligenz aus ihrer transzendenten Elongatur in’s Behagen: und welchen Wohlgeruch, welchen Duft, welchen bestechenden Charme erzeugt sie dann!«
Wer hat dies Liedlein erdacht?steht für die Gattung der Humoreske; »Mit heiterem Behagen« entrollen sich für Mahler unübliche Koloraturen, denen im wörtlichen Sinne viele Farben entsprechen – von den »schwarzbraunen Äuglein« über den »rosigen Mund« und die grüne »Heide« bis hin zu den grauen und weißen Gänsen, die das »Liedlein« gebracht haben.
Auch Der Schildwache Nachtlied ist als Humoreske bezeichnet; ein Lachen müsste einem hier allerdings im Halse stecken bleiben, geht es doch in szenischer Wechselrede mitsamt Erzähler um das Soldatenunglück, das gleich im ersten Vers auf den Punkt gebracht wird und dann stracks dem eigenen Untergang entgegen marschiert. Mahler unterlegt das Lied mit tonalen wie metrischen Schwankungen, lässt stellenweise zwei Tempi simultan ablaufen und äußert exquisite Klangvorstellungen, etwa die eines Endes »bis zur gänzlichen Unhörbarkeit«.
Das irdische Leben könnte in seiner letalen Rastlosigkeit als Gegenstück zum Erlkönig gelten, wobei der Part des fahrlässigen Elternteils hier der Mutter zufiele. Mahler sah darin eine Metapher für »das menschliche Leben überhaupt […]: das einem solange das Nötigste […] hinausschiebt, bis es – wie bei dem toten Kinde – zu spät ist«. Die Vortragsbezeichnung »Unheimlich bewegt« charakterisiert das Lied besser als jede andere Beschreibung. Am Ende seines eigenen »irdischen Lebens« bezog sich Mahler in dem kurzen Purgatorio-Satz seiner Zehnten Symphonie noch einmal auf dieses beklemmende Frühwerk.
Wo die schönen Trompeten blasen, dort wuchs Gustav Mahler auf; die Anekdote vom Vierjährigen, der im böhmischen Iglau einer Militärkapelle hinterher marschiert, gehört zu den imaginären Ikonen der Musikgeschichte. Die Faszination für Militärmusik erhielt sich der Komponist ein Leben lang, jene für Uniformen wich dem Mitleid mit den in ihnen steckenden Woyzecks, mit all den Deserteuren, Gehängten und Gefallenen, die wie hier im »Haus von grünem Rasen« enden. Marsch- und Signalcharaktere klingen wie durch einen Vorhang hindurch, und die titelgebende Trompetenstelle wird ausgerechnet von den Hörnern vorgetragen.
In Revelge (1899) und der später komponierten Ballade Der Tamboursg’sell (1901) kehrte Mahler zum Genre der Soldatenlieder zurück. Diese monumentalen Märsche, die jeden Protest song des späteren 20. Jahrhunderts blass erscheinen lassen, wirken wie Vorahnungen: Der Tamboursg’sell entwirft den Kondukt des Kopfsatzes der Fünften Symphonie, während Revelge (französisch Reveille = Erwachen) die Sechste und Siebte vorwegzunehmen scheint. Wie sich die Gerippe hier »vor Schätzleins Haus, trallali, trallaley« aufreihen und zum Schlagen von Streicherbögen Haltung annehmen, das gehört zu den eindrucksvollsten Momenten der mahlerschen Orchesterlieder.
Mit dem Urlicht, das auch aus der Zweiten Symphonie bekannt ist, beabsichtigte Mahler, die »rührende Stimme des naiven Glaubens« zu Wort kommen zu lassen. »Dazu brauche ich«, so Mahler in den Erinnerungen seiner Freundin Natalie Bauer-Lechner, »die Stimme und den schlichten Ausdruck eines Kindes, wie ich mir ja, von dem Schlag des Glöckleins an, die Seele im Himmel denke, wo sie im ›Puppenstand‹ als Kind wieder anbeginnen muss« – dieses Bild verwendete Mahler mehrfach, wenn es um die Vorwegnahme einer »zukünftigen höheren Stufe« ging, wie er einmal an Gerhart Hauptmann schrieb.
Dass sich der Komponist in der flehenden Figur dessen, der da zu Gott zurück will, selbst porträtiert haben könnte, hielt nicht nur der Philosoph Ernst Bloch für wahrscheinlich, sondern auch Mahlers Weggefährte aus Hamburger Jahren, Ferdinand Pfohl. Ihm zufolge sah Mahler aus »wie Einer [sic!], der an Gott gezweifelt hat und darum aus dem Licht zur Finsternis hinab gestürzt worden war, ein Verbrecher der Erkenntnis, der nun den Weg zum verlorenen Paradies in angstvoller Hast sucht und voll Reue zerknirscht Buße tut, um wieder in den Himmel hinaufsteigen zu können: [der] zu Gott, zu den Engeln, zu seinen Brüdern hinübergehen will auf der schwingenden Brücke der Musik, die das Diesseits mit dem Jenseits verbindet.«
Olaf Wilhelmer