»Überaus fruchtbare Tonsetzer«
Ensemblemusik des 18. Jahrhunderts von Vivaldi, Marcello, Geminiani und Paisiello
Prächtig, differenziert, furios: Antonio Vivaldis Concerti und Sinfonien
»Vivaldi wird sehr überschätzt, ein langweiliger Mensch, der ein und dasselbe Konzert 600 Mal hintereinander komponieren konnte«, konstatierte Igor Strawinsky 1959. Zu dieser Zeit steckte die historisch informierte Aufführungspraxis noch in den Kinderschuhen, und der Reichtum Vivaldis verschwand in der Regel hinter einer romantisch ausladenden Orchesterbesetzung. Dennoch bereitet Strawinskys ebenso ignorantes wie anmaßendes Verdikt Erstaunen, denn frühere Generationen hatten dem Venezianer durchaus Wertschätzung entgegengebracht. So schrieb etwa der Musikforscher und Bach-Biograf Philipp Spitta 1873: »Antonio Vivaldi galt im Anfange des vorigen Jahrhunderts für einen der hervorragendsten Meister der Instrumentalcomposition […]. Als überaus fruchtbarer Tonsetzer hat er sich um die Ausbildung der Concertform […] Verdienste erworben.«
In der Tat setzte der 1678 geborene Geiger und Komponist Maßstäbe. Er hat dem barocken Instrumentalkonzert seine endgültige dreigliedrige Form verliehen: Dazu gehören zwei schnelle Ecksätze, in denen Solist und Orchester (letzteres auch Tutti genannt – vom italienischen Wort für »alle«) ein überaus wirkungsvolles Wechselspiel eingehen. Die Solostimme erfährt eine virtuose Ausweitung und Profilierung, die keine Möglichkeit des Instruments ungenutzt lässt. Nicht selten in festlicher Klangpracht durchläuft das Orchester in seinen Ritornellen (den refrainartigen Passagen) verschiedene Tonarten oder wiederholt Abschnitte auf unterschiedlichen Tonstufen – kurz: Es folgt einem harmonisch modulatorischen Organisationsprinzip. Die beiden Außensätze umrahmen den langsamen mittleren, der häufig dreiteilig ist und sparsam instrumentiert. In nicht weniger als vier Konzerten Vivaldis wird dieses Prinzip am heutigen Abend sinnfällig.
Das Violinkonzert a-Moll RV 356 mit den fünf repetierten, den Kopfsatz bestimmenden Noten kennt vermutlich jeder, der sich irgendwann einmal näher mit der Geige beschäftigt hat. Gehört doch dieses Werk seit Langem zum Kanon der Unterrichtsliteratur. Veröffentlicht wurde es zusammen mit elf weiteren Violinkonzerten Vivaldis 1711 als sein Opus 3. L’Estro Armonico (Die harmonische Eingebung), so der Titel des Konvoluts, war Vivaldis erster großer Erfolg und zählt zu den wichtigsten Konzertsammlungen des 18. Jahrhunderts. Viele Komponisten, darunter auch Johann Sebastian Bach, nutzten die Sammlung als Studienmaterial und Vorlage für eigene Arrangements.
Beim Erscheinen von L’Estro Armonico war Vivaldi bereits das zweite Jahr maestro deʼ concerti am Ospedale della Pietà, einem der damals vier bedeutendsten Waisenhäuser für Mädchen in Venedig. Nach erstem Violinunterricht und einer vom Vater verordneten Priesterlaufbahn hatte il prete rosso (wie er aufgrund seiner roten Haare genannt wurde) 1703 die Weihe empfangen. Im selben Jahr war er als Geiger und Lehrer in den Dienst des Ospedale getreten, dem eine Art Konservatorium angeschlossen war. Hier erhielten musikalisch begabte Mädchen eine spezielle und sehr intensive Ausbildung. Mit seinen Kompositionen bereicherte Vivaldi schon bald das Repertoire für die regelmäßig veranstalteten Konzerte dieser Wohlfahrtseinrichtung – qualitativ hochkarätige Aufführungen, die über die Grenzen der Republik Venedig hinaus berühmt wurden. Auch wenn es längere Unterbrechungen gegeben hat und sein Dienstverhältnis sich öfter änderte, blieb Vivaldi der Pietà sein Leben lang verbunden.
Dem »Lieblingsinstrument der Großen, der Kaiser, Könige, Fürsten und Herren«, wie Christian Daniel Friedrich Schubart die Laute in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (1785) nannte, hat Vivaldi um 1730 mit dem Concerto D-Dur RV 93 seine Reverenz erwiesen. Eine charakteristische Figur (zwei Zweiunddreißigstel, gefolgt von einer punktierten Achtel) bestimmt, mal auf-, dann wieder absteigend, sowohl im Tutti als auch in den Solopassagen, den Kopfsatz. Hier, wie auch in seinem Mandolinenkonzert C-Dur RV 425, verstand es der Komponist, das schnelle Verklingen der gezupften Töne zu kompensieren: durch charakteristische Tonwiederholungen im ersten und dritten Satz bzw. durch punktiert vorgetragene gebrochene Begleitakkorde im Largo.
Zur Entstehungszeit dieser Konzerte befand sich Vivaldi auf der Höhe seines Ruhms. In ganz Europa wurde er als Komponist und Geiger gefeiert, in Venedig außerdem als Impresario, der Oper um Oper auf die Bühne brachte. Mitte der 1720er-Jahre wurde ihm nach eigenem Bericht zweimal die Ehre zuteil, vor dem Papst in Rom aufzutreten; 1728 reiste er nach Triest, um den auch als Musikmäzen bedeutsamen Kaiser Karl VI. zu treffen. Bereits 1725 waren unter dem Titel Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione (Das Wagnis der Harmonie und der Erfindung) in Amsterdam zwölf Violinkonzerte erschienen, die sein Ansehen in der Musikwelt noch erhöhten.
Die ersten vier Werke dieser Sammlung dürften heute mit Abstand Vivaldis bekannteste Schöpfungen sein: die vier Violinkonzerte mit dem Titel Le quattro stagioni (Die vier Jahreszeiten). Die vermutlich von ihm selbst verfassten sonetti dimostrativi – erklärende Gedichte, deren Text den entsprechenden Partiturstellen zugeordnet sind – lassen keinen Zweifel an der Programmatik dieser vier dreiteiligen Tongemälde. Auch die Tonarten sind sorgfältig gewählt – etwa g-Moll (dem Schubart ein gewisses »Grollen« attestiert) für den Sommer mit drückender Hitze und schweren Gewittern. Die Schilderung von Naturereignissen durch Musik folgt hier jedoch keinem Selbstzweck, sondern dient letztlich dazu, mit den Mitteln der Tonkunst in den Zuhörern unterschiedliche Affekte hervorzurufen. Dafür bedarf es allerdings nicht unbedingt einer Solovioline: Deren Aufgabe übernimmt am heutigen Abend die (wie die Geige auf g – d’ – a’ – e’’ gestimmte) Mandoline.
»Vivaldi«, schreibt der Musikwissenschaftler Karl Heller, wird heute »[…] primär als Instrumental- und vor allem als Konzertkomponist wahrgenommen.« Doch könne bei dem Venezianer von »einer etwaigen Randstellung solcher Werkbereiche wie der Oper oder der Kirchenmusik« keine Rede sein, sondern vielmehr von einer »singulären Ausstrahlung und Wirkung seiner Konzertkunst«. Die beiden vor 1736 komponierten Sinfonien D-Dur RV 114 und d-Moll RV 127 mit ihren ebenso prächtigen wie differenzierten Klangfarben, ihren furiosen Passagen, ihrer Spielfreude und ihren spannungsvollen Sequenzen, mit denen das heutige Konzert eröffnet wird, wirken vor diesem Hintergrund wie ein Beweis der außergewöhnlichen musikalischen Erfindungskraft Vivaldis.
»Un nobile dilettante di contrappunto«: Benedetto Marcello
Acht Jahre nach Vivaldi, 1686, erblickte Benedetto Marcello in der Lagunenstadt das Licht der Welt. Als Spross einer einflussreichen Adelsfamilie erhielt er schon früh musikalische Unterweisungen (unter anderem in Violine, Gesang und Kontrapunkt); später folgten Kompositionsstudien bei Francesco Gasparini und Antonio Lotti. Doch schlug Marcello nach einem Jurastudium eine Ämterlaufbahn ein, war mit 20 Jahren bereits Mitglied des Großen Rats von Venedig, später Gouverneur der Stadt Pola in Istrien, schließlich Kämmerer von Brescia. Höher konnte man politisch damals wohl kaum steigen. Und doch war es letztlich seine Begabung als Komponist, die Benedetto Marcello zu europäischem Ruhm verhalf.
Auch wenn er sich als »nobile Veneto dilettante di contrappunto« bezeichnete, als Amateur auf dem Gebiet der Musik, scheint es Marcello an Selbstbewusstsein nicht gefehlt zu haben. 1720 jedenfalls ging er in der (anonym publizierten) satirischen Schrift Il teatro alla moda mit dem zeitgenössischen Opernwesen, dessen Stereotypen und Extravaganzen hart ins Gericht – den Titel ziert ein Bildnis, das auf Vivaldi anspielt. Der Musikwissenschaftler Bernhard Moosbauer nennt Benedetto Marcello deshalb einen »ernstzunehmenden Konkurrenten Vivaldis« und tatsächlich häufte der »dilettante« neben seiner beruflich-öffentlichen Laufbahn Werk auf Werk.
Zu seinem Œuvre gehören mehr als 300 Solokantaten, klangprächtige Kammermusik – etwa Klavier-, Violoncello- und Flötensonaten – sowie Instrumentalkonzerte, nicht zuletzt sogar eine Serenade zu Ehren Kaiser Karls VI. Bei der in diesem Konzert erklingenden Sinfonia Nr. 3 G-Dur handelt es sich um die Einleitung zur Kantate für zwei Solostimmen Clori e Tirsi. Dieses Werk muss vor 1731 entstanden sein, denn der Finalsatz findet, nach A-Dur transponiert, auch als dritter Satz einer in jenem Jahr veröffentlichten Sinfonia Verwendung. Dieses Orchesterstück wiederum leitet den zweiten Teil von Marcellos Jahreszeiten-Oratorium Il pianto e il riso delle quattro stagioni ein. In diesem Titel ist die Nähe zu Vivaldi ebenfalls unübersehbar.
Eine Reverenz an Corelli: Francesco Geminianis Concerto grosso d-Moll »La Follia«
»Die Absicht der Musik liegt nicht nur darin, dem Ohr zu gefallen, sondern auch darin, Gefühle auszudrücken, die Fantasie anzuregen, das Herz zu rühren, und über die Leidenschaft zu gebieten«, schrieb Francesco Saverio Geminiani in seiner Violinschule The Art of playing on the Violin. Der englische Titel des 1731 zunächst anonym erschienenen Lehrwerks und die Tatsache, dass es 1751 in Oxford erneut aufgelegt wurde, weisen auf eine biografische Zäsur: 1714 war der aus Lucca stammende und in Neapel ausgebildete Geminiani nach London übersiedelt – ein Jahr nach dem Tod seines verehrten Lehrers Arcangelo Corelli hatte ihn nichts mehr im Schatten des Vesuvs gehalten.
Dem damals 27 Jahre alten Künstler, der nicht nur als einer der größten Violinvirtuosen seiner Zeit galt, sondern sich dann auch als Komponist, Kunsthändler und -sammler, Musikschriftsteller und Wissenschaftler einen Namen machte, eilte ein großer Ruf voraus. Schon bald erhielt er daher in der britischen Hauptstadt Gelegenheit, sich vor König Georg I. zu präsentieren. Dabei kam es zu einem Gipfeltreffen besonderer Art: Beim Vortrag seiner Violinsonaten op. 1 wurde Geminiani von dem fast gleichaltrigen Georg Friedrich Händel (der seit etwa zwei Jahren in London lebte) am Cembalo begleitet. Die zu den Royals geknüpften Bande wollten befestigt sein, und so widmete der Italiener seine nächste Veröffentlichung dem englischen König: die 1726 entstandenen Concerti grossi, denen Corellis zwölf Violinsonaten op. 5 zugrunde liegen.
Die Nummer 12 der von Geminiani in Orchesterwerke umgewandelten Sonaten, die am heutigen Abend erklingt, basiert auf einem Tanzthema im Dreivierteltakt, das sich seit etwa 1600 großer Beliebtheit erfreute: der Follia. Deren melodisch-harmonisches Satzmodell über einer charakteristischen Basslinie wandert in Geminianis Concerto grosso durchs Orchester und bildet die tragfähige Basis für nicht weniger als 23 Variationen. Dass Geminiani in sein d-Moll-Werk Corellis virtuose Violinpassagen nahezu unverändert integriert hat, lässt sich als postume Verbeugung interpretieren. »Auf das solide Fundament von Corellis Unterweisung«, fasst der Schweizer Musikwissenschaftler Franz Giegling zusammen, »baut er [Geminiani] seine hochentwickelte virtuose Instrumental-Kunst und leitet, wohl vorbereitet durch die Neapolitanische Schule, in das musikalische Rokoko ein.«
»Naive Anmut«? Giovanni Paisiellos Mandolinenkonzert Es-Dur
In seiner Instrumentationslehre aus dem Jahr 1844 erwähnt Hector Berlioz eine Vertreterin der Lautenfamilie, die »heutigentages fast in Vergessenheit gekommen, und das ist schade; ihr Klang, so dünn und näselnd er sein mag, hat etwas Pikantes und Originelles, daß man es sehr oft mit Glück anwenden könnte«. Dieses Zupfinstrument mit seinen vier Saitenpaaren erlebte von 1750 an in Neapel seine Blütezeit. Als Symbol der Stadt Neapel und Teil ihrer kulturellen Identität verbreitete sich die »neapolitanische Mandoline« in der Folgezeit schnell in ganz Italien und erreichte sogar die Musikmetropole Paris.
Der aus Apulien stammende Giovanni Paisiello kam 1754, im Alter von 14 Jahren, nach Neapel, wo er am Konservatorium ausgebildet wurde. In den folgenden Jahren stieg er zu einem der einflussreichsten Komponisten Italiens auf: Zu seinem Œuvre zählen mehr als 100 Opern, acht Klavierkonzerte und neun Streichquartette. Neben dieser großen künstlerischen Begabung besaß Paisiello auch außerordentliches Geschick, politische und kulturelle Kontakte zu knüpfen. Er traf zweimal mit Mozart zusammen, komponierte für Kaiser Joseph II. und diente in wechselnder Folge den größten Herrschern seiner Zeit: Katharina II. und Ferdinand IV. von Neapel und sogar Napoleon, dem er zu dessen Selbstkrönung die Messe schrieb.
Im Konzert Es-Dur für Mandoline und Streicher nutzt Paisiello die Besonderheiten des Soloinstruments zur Gänze aus. Wie schon in Vivaldis Lautenkonzert dienen Tonrepetitionen oder auch Wechselschläge als Ausgleich für die spieltechnische Unmöglichkeit, auf Zupfinstrumenten Töne lang auszuhalten. Die unprätentiöse Virtuosität, den noblen Gestus und den Charme von Paisiellos Melodien konnte oder wollte nicht jeder Zeitgenosse anerkennen. So nannte ihn sein Kollege und Landsmann Gioacchino Rossini »ein Genie des einfachen Genres und der naiven Anmut« – und stellte damit seine Kunst als belanglos hin. Allerdings gab es da auch Rossinis Oper ll barbiere di Siviglia, die 1816 – 34 Jahre nach Paisiellos gleichnamiger Erstvertonung – auf die Bühne kam und zunächst gründlich durchfiel. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.
Karen Allihn