Kontrastreich und lustvoll
Ensemblemusik des Barock aus Italien und Deutschland
Jahrhundertwenden setzen Zäsuren. Das Jahr 1600 tat das besonders nachdrücklich: Das alte Weltbild, das die Erde zum Zentrum des Universums erklärt hatte, war unwiderruflich zerbrochen. Nachweisbar bewegt sie sich als einer der Planeten um die Sonne, ist nur einer von vielen Himmelskörpern im unermesslichen All. Diese Erkenntnis brachte auch die Grundfesten von Kunst und Wissenschaften ins Wanken. Jähe Stimmungsumschwünge waren die Folgen und lenkten das emotionale und soziale Verhalten. Nichts ist für das 17. Jahrhundert, in dem alle sechs Komponisten des heutigen Abends geboren wurden, so charakteristisch wie extreme Kontraste. Sie drückten der geistig-künstlerischen Welt Europas wirkungsmächtig ihren Stempel auf und veränderten auch das Musikleben nachhaltig. Im Bereich der Instrumentalkompositionen etwa wandelten sich Formen und Strukturen der Sonata: Hatten zum Beispiel die Zusätze »da chiesa« und »da camera« bisher lediglich auf den (geistlichen bzw. weltlichen) Aufführungsort verwiesen, so erhalten sie nun einen auch das Formale einbeziehenden Sinn. Während sich die Sonata da chiesa, die Kirchensonate, ausschließlich über ihre Satzfolge (langsam – schnell – langsam – schnell) definiert, folgen in der Sonata da camera auf eine Einleitung zwei oder vier Tanzsätze.
Ähnlich wandelt sich im 17. Jahrhundert die Bedeutung des Begriffs »Concerto«. Einst relativ beliebig verwendet, bezieht er sich nun nur noch auf instrumentale Gattungen, eben auf Concerto, Concerto grosso und Solokonzert. Doch der bereits beschriebene, die Kontraste suchende Geist, jene Spannung zwischen Freiheit und Strenge, hat nicht allein die äußere Anlage und die innere Struktur der Instrumentalmusik dieser Ära geprägt. Auch »les passions de l’âme« (die Leidenschaften der Seele), wie sie der große französische Philosoph René Descartes 1649 benannte, fanden hier ihren Widerhall. Alle diese äußeren und inneren Charakteristika geben den heute Abend erklingenden Werken ihre unverwechselbare Gestalt.
Süddeutsche Kollegen: Georg Muffat und Heinrich Ignaz Franz Biber
Besonders prägnante Züge erhält sie in der Sonata Nr. 2 g-Moll für Streicher und Basso continuo von Georg Muffat. Von 1678 an neben Heinrich Ignaz Franz Biber in Salzburg als Organist und Kammermusiker tätig, zollte Muffat seinem Brotherrn, dem Fürsterzbischof Maximilian Gandolf Graf von Kuenburg 1682 einen Armonico tributo, dem dieses Stück entstammt. Bei dem genannten Konvolut handelt sich um die überhaupt allerersten gedruckten Kompositionen im Concerto-grosso-Stil, bei dem sich zwischen den solistischen Partien (von Muffat ausdrücklich als »S« wie Solo bezeichnet) und den begleitenden Stimmen (mit »T« wie Tutti ausgewiesen) das so reizvolle Wechselspiel der Klangrede entspinnt. Kein Wunder, dass Muffat in die Veröffentlichung seiner Auserlesener mit Ernst und Lust gemengter Instrumental-Musik Erste[n] Versamblung im Jahre 1701 auch diese g-Moll-Sonate aufnahm. Die Wirkungen der neuen Concerto-grosso-Satztechnik hatte Muffat während seiner Studien in Rom 1680 – 1682 bei zwei Größen seiner Zeit – Bernardo Pasquini und Arcangelo Corelli – kennengelernt. Davor, in den 1660er-Jahren, war er bereits in Paris mit dem französischen Stil eines Lully vertraut geworden. Über Stationen in Ingolstadt als Jurastudent, in Prag und Wien führte ihn sein Weg schließlich nach Salzburg, wo er bis 1690 amtierte, bevor er nach Passau wechselte.
Muffats viersätzige g-Moll-Sonate für Streicher und Basso continuo gehört zum Formenkreis der suitenartigen Sonata da camera: Sie hebt mit einem »Sonata« überschriebenen Satz an, dem eine liedhafte Aria, eine feierlich schreitende Sarabanda und eine lebhaft im Zweiertakt hüpfende Borea (wie der französische Gesellschaftstanz Bourrée in Italien genannt wurde) folgen. Dabei kann die eröffnende Sonata wiederum dem Typus der viergliedrigen Sonata da chiesa zugerechnet werden. Bietet sie doch nach einem langsamen und ernsten Grave ein lichtes Allegro; ihm schließt sich ein weiteres Grave an, ehe ein tänzerisches und mit eleganten Echo-Effekten durchsetztes Forte e allegro den Schlusspunkt setzt, den ein ganz kurzes, würdevolles und ernstes Grave noch einmal betont.
Für die historisch informierte Aufführungspraxis unserer Tage spielt Georg Muffat eine unschätzbar wichtige Rolle. Gibt er doch in den Vorreden zu seinen Werken, die er ganz bewusst zum »nicht geringeren Nutzen derer Lehrnenden« verfasste, detaillierte Informationen zur Spielweise französischer und italienischer Instrumentalmusik. Als einer der wenigen unter seinen Zeitgenossen hatte er sie direkt in Paris und Rom kennengelernt. Zudem vereinte er – ebenfalls als Erster – die Stilarten dieser Länder mit der deutschen kontrapunktischen Tradition des Tonsatzes. Diesem Ideal sollte später auch Georg Philipp Telemann in seinen Kompositionen nacheifern.
Heinrich Ignaz Franz Biber, Muffats neun Jahre älterer Arbeitskollege in Salzburg, darf ohne Übertreibung als einer der genialsten Musiker des 17. Jahrhunderts bezeichnet werden. Geboren in Böhmen, studierte er Violine und Komposition möglicherweise bei Johann Heinrich Schmelzer, dem späteren Hofkapellmeister in Wien. 1668 wurde er Mitglied der fürstbischöflichen Kapelle in Olmütz, danach stieg er von 1670 an in Salzburg atemberaubend schnell die Karriereleiter empor: Zunächst Vizekapellmeister, 1684 zum Hofkapellmeister ernannt, später sogar geadelt und zum erzbischöflichen Truchseß befördert, wurde Biber als Geiger in ganz Europa bewundert. War es ihm doch gelungen, einen eigenen, von der italienischen Musik deutlich unterschiedenen deutschen Soloviolinstil zu entwickeln. Bereits der Titel seiner 1683 in Nürnberg gedruckten 12 Sonaten für drei bzw. vier Streicher und Basso continuo ist charakteristisch für Bibers Denken: Fidicinium sacro-profanum tam choro, quam foro pluribus fidibus concinnatum et concini aptum (Geistliche und weltliche Musik für Streichinstrumente, kunstvoll arrangiert für den Hof und für die Kirche). Lustvoll spielt der Autor schon im Text mit Gegensätzen – ein Prinzip, das er dann in der fünfstimmigen Sonata Nr. 6 a-Moll konsequent in Töne umsetzt: melodisch, rhythmisch, dynamisch, mit wunderbar sanglichen Linien, mit Echo-Passagen und pointierten tänzerischen Figuren sowie mit effektvollen Variationen.
Italienische Exzentrik: Francesco Saverio Geminiani und Francesco Maria Veracini
Als der italienische Geiger Francesco Saverio Geminiani 1714 nach London kam, eilte ihm der Ruf voraus, einer der begabtesten Schüler Arcangelo Corellis zu sein. Schon bald wurde er daher aufgefordert, König Georg I. seine Violinsonaten op. 1 vorzuspielen. Am Cembalo saß bei diesem Ereignis niemand anderer als der seit zwei Jahren in der britischen Hauptstadt lebende Georg Friedrich Händel. Ein Zeitgenosse berichtet: »Geminiani machte seine Sache so gut, wie man es nach den in ihn gesetzten Hoffnungen erwartete.« Durch den Erfolg ermuntert, widmete der 1687 in Lucca Geborene dem englischen König seine nächste Veröffentlichung, das 1726 und 1729 in zwei Lieferungen gedruckte, sich an Corellis zwölf Violinsonaten op. 5 orientierende Dutzend Concerti grossi. Dem königlichen Widmungsträger gesellten sich sofort zahlreiche Interessenten zu, sodass bereits die Concerti 1 – 6 bald nach ihrer Erstauflage mehrfach nachgedruckt wurden.
Es war ein wagemutiger Entschluss von Geminiani, Corellis zwölf Violinsonaten zu bearbeiten, und die Kritik blieb auch nicht aus. »Er wandelte Corellis Violinsonaten in Concerti um«, schrieb etwa der zeitgenössische Musikschriftsteller Charles Burney, »indem er die Noten vervielfachte und jene Melodien überlud und, wie ich meine, auch deformierte, die in ihrem ursprünglichen leichten Kleid viel anmutiger und angenehmer erschienen.« Doch über Geschmack kann man streiten. Aus heutiger Sicht ließ Geminiani gegenüber seinem Lehrer durchaus Ehrfurcht walten. Auch beherrschte er genial die damals noch junge Kunst des Orchestrierens. Besonders den Mittelstimmen der Concerti wies er eine neue wichtige Rolle zu. Auf diese Weise gelang es ihm, mit dem d-Moll-Concerto die berühmte Follia, dieses »Schaustück solistischen Feuerwerks[,] in eins der kraftvollsten Stücke von Orchestervirtuosität in der Barockliteratur« (Andrew Manze) umzuformen. Corelli selbst fand für Geminiani lobende Worte, indem er aus seiner »Befriedigung, die ihm die Vertonung bereitete« und aus »dem Wert, den er dem beimaß«, kein Geheimnis machte.
Zusammen mit Geminiani war ein weiterer berühmter italienischer Violinvirtuose 1714 nach London gekommen: der drei Jahre jüngere Francesco Maria Veracini. Auch ihm, der möglicherweise ebenfalls von Corelli unterwiesen worden war, ging ein fantastischer Ruf voraus, der seine spielerische Brillanz und Virtuosität hervorhob, einschließlich eines recht individuellen, wenn nicht exzentrischen Interpretationsstils. So betonte der bereits erwähnte Charles Burney nach einem von Veracinis Londoner Auftritten: »He formed a style of playing peculiar to himself«, nannte ihn aber zugleich den ersten Geiger Europas. Seinen Ruhm hatte sich Veracini, Sohn einer florentinischen Künstler- und Musikerfamilie, bei Konzertreisen nach Venedig und mit Auftritten im heimischen Florenz erarbeitet. So enthält sein Werkkatalog naturgemäß vor allem Instrumentalmusik, aber auch Vokal- und Bühnenwerke. 1716, zurück aus London und wahrscheinlich bereits in kurfürstlischen Diensten am Düsseldorfer Hof, komponierte Veracini sechs Ouvertüren-Suiten, von denen die Nr. 1 in B-Dur am heutigen Abend erklingt. Der traditionellen Abfolge der Tänze (Allemande – Sarabande – Courante – Gigue) setzt er mit Gavotte – Menuett – Sarabande – Aire eine eigene Variante entgegen und sogar der Kopfsatz erhält von ihm mit dem Wechsel von Largo- und Allegro-Abschnitten eine besondere Faktur. Wenn auch alle Teile der B-Dur-Ouvertüre etablierten Mustern folgen, hat Veracini mit seinen melodischen, rhythmischen und formalen Gestaltungskünsten diesen Satztypen ein ganz individuelles Gepräge verliehen.
Mitteldeutsche Familienbande: Georg Philipp Telemann und Johann Sebastian Bach
»Gott und die Natur«, bekannte der in Magdeburg geborene Georg Philipp Telemann, hätten ihn »zur Music recht gezogen«. Bereits in der Kindheit habe ihm »die Natur« die Violine in die Hand gegeben, obgleich ihm noch nicht bekannt gewesen sei, »dass Noten in der Welt waren«. Dennoch soll der Sohn eines Geistlichen erst Jura studieren. Doch »die Natur« setzt sich ebenso durch wie des jungen Mannes Hang zur Geige, sei es als Leiter eines Collegium musicum, als Konzertmeister oder im Rahmen ähnlicher Verpflichtungen. Immer wieder bewundert er die berühmten Violinisten seiner Zeit, z. B. den »genug bekannte(n), […] ausbündige(n) Virtuose(n)« Francesco Maria Veracini (in Dresden 1719), in Eisenach den »nie genug zu rühmende(n) Hr. Pantaleon Hebenstreit« und den Dresdner Ausnahmegeiger Johann Georg Pisendel. Auch Telemann selbst muss ein guter Violinspieler gewesen sein. So berichtet er in seiner Autobiografie von 1740, wie er sich auf ein Konzert vorbereitet habe, das er mit »Herrn Hebenstreit« aufführen musste. Er sperrte sich mit »aufgestreifftem Hemde am linken Arm, und mit stärkenden Beschmierungen der Nerven« ein und ging bei sich selbst in die Lehre, »damit ich gegen seine Gewalt mich in etwas empören könnte. Und siehe da! Es half zu meiner merklichen Besserung.« Kein Wunder, dass ihm in seinen Werken für Violine eine ausgesprochen idiomatische Schreibweise zur Verfügung steht, mit einer differenzierten Artikulation, mit Doppelgriffen und anderen Spieltechniken. So auch in der Sonata D-Dur für Trompete, Streicher und Generalbass., die als vermutlich in den Jahren 1726 – 1730 angefertigte Abschrift mit dem Vermerk »Tromba se piace« (Tompete nach Belieben) in der darmstädter Universitäts- und Landesbibliothek überliefert ist – ihre genaue Entstehungszeit kennen wir nicht. Die dreisätzige Komposition wird von einer geistreichen, lebhaften D-Dur-Sinfonia – »Spirituoso« lautet die Vortragsbezeichnung – mit spritzigen Themen und originellen Echo-Effekten eröffnet. Es folgt ein sanftes Largo in der Variant-Tonart d-Moll, ehe Telemann im abschließenden D-Dur-Vivace wiederum mit den Themen jongliert, sie jeweils einen Ton nach oben versetzt und in der Behandlung der Violinen ganz nach der eigenen Devise verfährt: »Gieb jedem Instrument das / was es leyden kann / so hat der Spieler Lust / du hast Vergnügen dran.«
Seinen ersten Musikunterricht hat Johann Sebastian Bach wahrscheinlich auf der Violine erhalten, noch ehe er am Tasteninstrument unterwiesen wurde. Und er blieb der Violine treu, sei es als Konzertmeister in Weimar (1714 – 1717), als Hofkapellmeister in Köthen (1717 – 1723) oder von 1729 an mit der Übernahme des von Telemann gegründeten Collegium musicum in Leipzig. Carl Philipp Emanuel Bach, sein Zweitgeborener und Telemanns Patensohn, bestätigt diese Liebe zum Streichinstrument in den biografischen Mitteilungen über den Vater: »In seiner Jugend bis zum ziemlich herannahenden Alter spielte er die Violine rein u. durchdringend u. hielt dadurch das Orchester in einer größeren Ordnung, als er mit dem Flügel hätte ausrichten können. Er verstand die Möglichkeiten aller Geigeninstrumente vollkommen.« Das Konzert d-Moll für zwei Violinen BWV 1043 ist in Originalstimmen überliefert, die 1730/1731 von Bach selbst, von Carl Philipp Emanuel und einem unbekannten Schreiber angefertigt worden sind. Wahrscheinlich aber gibt es, wie bei vielen konzertanten Werken Bachs, einen »Vorläufer«, der in Weimar oder Köthen entstanden ist.
Im Vordergrund des d-Moll-Doppelkonzerts steht nicht die instrumentale Virtuosität, sondern der gleichberechtigte Dialog zwischen den beiden Soloviolinen bzw. derjenigen zwischen ihnen und dem sie begleitenden Ensemble. Bereits zu Beginn des einleitenden Vivace verschwimmen hier die Grenzen, wie ein Echo wirken die Einwürfe der Solisten, dicht geknüpft ist die polyfone Struktur und kunstvoll sind die Stimmen miteinander verwoben. Zu den ergreifendsten langsamen Sätzen Bachs gehört das Largo ma non tanto mit seinen weit gespannten Bögen und einer Vollkommenheit der Harmonie. Im schwungvollen Allegro-Finale faszinieren erneut die Echo-Effekte; tongetreu wiederholen die Tutti-Streicher, was die beiden Solisten vortragen.
Hatte Georg Muffat Ende des 17. Jahrhunderts erfindungsreich die Möglichkeiten der Instrumentalmusik erprobt, so tat Bach es ihm eine Generation später gleich – auch er wiederum auf neuen Wegen.
Ingeborg Allihn