Maskerade, Liebesklage, Feuerwerk
Musik von Henry Purcell und Georg Friedrich Händel
Die chinesische Daphne: ein Traumspiel – Suite aus der Semi-opera FairyQueen von Henry Purcell
Als Henry Purcell 1659 das Licht Britanniens erblickte ging in seinem Heimatland eine Epoche aggressiver Musikverachtung zu Ende. Das Militärregime des »Lord Protector« Oliver Cromwell hatte eine unter religiösen Eiferern keineswegs seltene Kulturfeindlichkeit an den Tag gelegt. Die erzpuritanischen Tugendwächter des Commonwealth of England beargwöhnten jede Pracht und höfische Repräsentation, sie reglementierten die Kirchenmusik fast bis zum Verstummen, verbrannten Noten, vernichteten Instrumente, demolierten oder demontierten Orgeln und verriegelten die Theater. Bis zum Tod Cromwells im Jahr 1658 konnten Musik und Schauspiel allenfalls im Verborgenen blühen, wenn etwa adelige Amateure sich das exquisite Vergnügen einer privaten Consort music gönnten; oder wenn einmal hinter verschlossenen Türen eine Masque dargeboten wurde, die äußerst rare Ausnahme von der strengen Regel, da gerade diese im Königreich kultivierten Maskenspiele den Puritanern ein Gräuel und als Inbegriff dekadenter Verschwendung von ganzem Herzen verhasst waren.
In der Ära der Restauration jedoch, ab 1660, erneuerte der aus dem Exil auf den englischen Thron zurückgekehrte König Charles II. nicht allein die Herrschaft der Stuarts, sondern auch die weltoffene höfische Musikkultur. Und zu einem ihrer Protagonisten avancierte schon in jungen Jahren der Musikersohn Henry Purcell, der 1677 in das Amt eines »Composer for the Violins« berufen wurde. In rascher Folge eroberte Purcell obendrein die Schlüsselpositionen eines Organisten an Westminster Abbey, eines »Gentleman« in der Chapel Royal (das bedeutete: Gesang und Orgelspiel) und schließlich des »Keeper of the King’s instruments«. Henry Purcell aber wird in England vor allem als »the greatest English opera composer« gerühmt, obgleich er strenggenommen mit Dido and Aeneas bloß eine einzige Oper geschrieben hat: eine einzige »all-sung opera«, um genau zu sein. Doch mit Werken wie Dioclesian, King Arthur oder The Fairy-Queen hinterließ Purcell durchaus musikalische Dramen, Semi-operas in der Schnittmenge des Schauspiels und des Musiktheaters.
Geist- und maßvoll, tief empfunden und zu nobelster Schönheit verklärt – so ertönt der Klagegesang »O let me weep« aus Purcells dritter Semi-opera, der 1692 in London uraufgeführten Fairy Queen – frei nach Shakespeares Sommernachtstraum. Mit dieser fabulösen, von Liebeswahn und Elfenspuk begeisterten Komödie hat Purcells Lamento allerdings rein gar nichts zu tun, ebenso wenig wie die übrigen Vorspiele, Tänze, Aufzüge, Lieder, Duette und Ensembles. Denn Purcell vertonte nicht Shakespeares Verse, nicht einen einzigen, sondern schuf für jeden der fünf Akte eine Masque, die im weitesten Sinne symbolisch mit der umgebenden Handlung verbunden ist, operngeschichtlich den burlesken Intermezzi der Italiener zu vergleichen oder mehr noch den gesungenen und getanzten Divertissements der französischen Tragédie en musique. Ohnehin hielt sich Englands größter Opernkomponist ideell keineswegs mit Landesgrenzen auf und verschmähte mitnichten die musikalischen Gaben konkurrierender Nationen – bis hin zu Ouverture, Plainte und Chaconne, Zeugnissen verfeinerter französischer Lebensart in einem nicht länger puritanisch dominierten Britannien. Ja, Purcell wagte sich weit hinaus bis zu der exotischen Fantasterei im Finale, einem Potpourri aus griechischer Mythologie und modischer Chinoiserie: »Thus happy and free«, singt eine »Chinese woman«, die gleichwohl anschließend von ihrem »Chinese man« mit dem Namen Daphne angesprochen wird. So bizarr, irrational, alogisch und romantisch geht es zu auf Purcells Theater – fast wie im Traum.
Der Lorbeer der Liebe: ein Zweikampf–»La terra è liberata« (Apollo e Dafne) von Georg Friedrich Händel
Auf das Stichwort »Daphne« betritt Georg Friedrich Händel die Szene. In Italien, dem Gelobten Land der Musik, schuf der Komponist aus Halle »La terra è liberata« (Apollo e Dafne) HWV 122. Oder, um genau zu sein, er begann dort mit der Arbeit: aber wann und wo? Da er im Auftrag einer Herzogin für Neapel die Serenata Aci, Galatea e Polifemo schrieb, eine »Cantata a tre« nach den Metamorphosen des Ovid, liegt die Vermutung nahe, terminlich, musikalisch und mythologisch, dass er ebenda im Sommer 1708 auch seine Cantata a due in Angriff nahm, deren Handlung sich gleichfalls Ovids klassischem Buch der Verwandlungen verdankt. Die Partie des von unerwiderter Liebe besessenen Apoll könnte Händel, gut möglich, für denselben Bassisten konzipiert haben, der schon den rasend eifersüchtigen Zyklopen Polyphem sang: Don Antonio Manna, zu dessen vokalen Vorzügen ein enormer Stimmumfang und eine seltene Meisterschaft im Intervallweitsprung zählten – und gerade auf diese Qualitäten kommt es sogleich in der ersten Arie des Apollo an. Die Auftrittsarie der Daphne wiederum ist in der sanft tänzelnden Bewegung einer Siciliana gehalten; das erste Duett des entflammten Gottes mit der entsetzten Nymphe sogar als Tarantella: Händels Musik setzt folglich auf süditalienisches Lokalkolorit und huldigt dem neapolitanischen Temperament, könnte man meinen.
Oder war sie für Rom bestimmt, Zentrum und Hauptstadt der Kantate, die dort buchstäblich tausendfach produziert und als »il più bello, e gentil divertimento« gepriesen wurde, als »das schönste und vornehmste Vergnügen«? Aus zeitgenössischen Dokumenten erfahren wir, dass Kantaten wie diese bei den römischen Treffen der Accademia dell’Arcadia in einem Wettstreit beinah aus dem Stegreif vorgetragen wurden: im Nu zu Papier gebracht, vom Fleck weg komponiert und sofort vom Blatt gesungen, bevor noch die Tinte getrocknet war. Dass sich Händel das Manuskript mit- und später wieder vornahm, stünde ja keineswegs im Widerspruch zu dieser Praxis des barocken Poetry-Slam. In der 1690 gegründeten Akademie der Arkadier trafen sich Adelige, Geistliche, Künstler und Wissenschaftler im Zeichen einer bukolischen Antike und pastoralen Idylle zu ästhetischen Debatten und literarischen Improvisationen – und zu jenem »più bello divertimento«, das alle Ambitionen, Unterhaltungen und Ideale der Arkadier in sich vereinte.
Ob Apollo e Dafne ein Work-in-Progress war, neu-, um- und fortgeschrieben in Händels italienischen Wanderjahren? Vollendet und uraufgeführt wurde die Kantate jedenfalls erst 1710 in Hannover, nachdem Händel dort zum Hofkapellmeister des Kurfürsten ernannt worden war, mit einem Jahresgehalt von tausend Talern. Doch hielt es ihn nicht lange in deutschen Landen. Noch im selben Herbst reiste er zum ersten Mal nach England, um sich (wie zuvor in Rom) binnen weniger Wochen im innersten Zirkel der Macht zu etablieren, am Hof der britischen Königin Anne Stuart. Zu ihrem Geburtstag, am 6. Februar 1711, wurde »a fine Consort, being a Dialogue in Italian, in Her Majesty’s Praise« dargeboten, »set to excellent Musick by the famous Mr. Hendel«: allem Anschein nach die Kantate La terra è liberata. Im selben Monat feierte am Queen’s Theatre Rinaldo, Händels erste Londoner Oper, ihre Premiere
Seine letzte deutsche Oper war noch in Hamburg in Szene gegangen, Anfang 1708, in Abwesenheit des Komponisten: Die verwandelte Daphne, ein »Singe-Spiel«, dessen Musik sich nur in Fragmenten erhalten hat. Aber der Stoff war bereits derselbe wie in der italienischen Kantate: »La terra è liberata«, die Erde ist befreit von dem Python, dem verheerenden Drachen, und Apoll hat ihn bezwungen, mit tausend Pfeilen hat er ihn erlegt: »Apollo ha trionfato, Apollo ha vinto!«, ruft er selbst aus im Hochgefühl der Unbesiegbarkeit. Sogar Amor, den »Gott des Müßiggangs und des Vergnügens«, fordert er heraus. Aber diesen Wettkampf kann er nicht gewinnen. Der Sohn der Venus, so heißt es bei Ovid, zog zwei Pfeile aus seinem Köcher: einen goldenen mit scharfer Spitze, der die Liebe entzündet, und einen bleiernen, der sie vertreibt. Der eine trifft Apoll, der andere die Nymphe Daphne, ein unschuldiges Naturkind. Das Verhängnis nimmt pfeilschnell und treffsicher seinen Lauf: »Gleich erfüllt Liebe den Gott«, dichtet Ovid, »allein, die Nymphe entflieht, wenn ein Liebender auch nur erwähnt wird. Nur am Schatten der Wälder erfreut sie sich und an den Fellen erbeuteter Tiere.«
Der (uns) unbekannte Textdichter der Kantate hat die erste Arie der Daphne, die erwähnte Siciliana, hintersinnig mit dem Anfang verknüpft: Während Apoll zu Beginn mit dem Ausruf auftrumpft: »Die Erde ist befreit!«, preist sie die Seele glücklich, die nichts als die Freiheit liebt. Er spricht von elementarer Unterwerfung, sie besingt den Frieden einer unberührten Existenz. Der Komponist reizt diesen Gegensatz aus, indem er Apoll eine stolze, herrschaftliche, kriegerische Musik zuordnet, Daphne hingegen mit einer sanften Pastorale porträtiert, denkbar unherrisch und unheroisch – im zweiten Teil ihrer Arie singt sie sogar »senza bassi«, nur von der Oboe und den Violinen begleitet: das Gleichnis eines gefährdeten Idylls, einer bodenlosen Welt. Und prompt öffnet sich der Abgrund, als ihr Apoll, von Amors goldenem Pfeil verwundet, in die Quere kommt und sie und sich ins Unglück stürzt. Händel inszeniert das Drama des Geschlechterkampfs ohne Bühne und Bild, allein durch den musikalisch definierten Raum, die vokalen Aktionen und Attacken. Arie um Arie gerät die Welt aus den Fugen, in den entfesselten Stimmen der Instrumente, die einander jagen und voreinander fliehen, als böses Omen der drohenden Katastrophe. Er zeichnet in den Unisoni der Violinen und im Solo des Cellos die auflodernden Leidenschaften, Furor und Rage, mit den hektischen Ausschlägen eines Seismographen auf. Oder er verdoppelt das Rollenspiel, wenn etwa Violine und Fagott wie »die Schöne und das Biest« als ungleiches Paar duettieren, in der fast schon letzten Arie der Kantate. »Mie piante correte; mie braccia stringete l’ingrata beltà«, singt Apoll: »Lauft, meine Füße, meine Arme, ergreift die widerspenstige Schöne«. Doch dann geschieht das Wunder der Verwandlung, die Rettung der verfolgten Unschuld: Die Nymphe wechselt ihre Gestalt, mutiert zum heiligen Lorbeerbaum, für alle Zeiten befreit von den Umtrieben einer liebestollen Männerwelt. Apoll bleibt nur ein wehmütiger Abschiedsgesang, der in jeder Hinsicht das glatte Gegenteil seines siegesgewissen Entrée bezeichnet, so leise, langsam, keusch und scheu klingt die Kantate aus, sie verstummt geradezu, sie nimmt sich zurück: mit einem Tombeau, einem Grabeslied auf die unerwiderte Liebe (und den gestürzten Hochmut).
Das grenzenlose Europa: eine Friedensfeier – Händels Feuerwerksmusik
Und diese »excellent Musick« war nicht unerhört geblieben. Noch 1713 wurde »George Frideric Handel« durch Queen Anne mit einer lebenslangen königlichen Pension von £ 200 belohnt, wenige Jahre später von ihrem Thronfolger George I. (dem Kurfürsten aus Hannover) zum »Composer of Musick for his Majesty’s Chappel Royal« erhoben. Der Sachse blieb nicht in Deutschland, nicht einmal in Italien – aber bei den Engländern! Wenn in prächtigster Festtagsstimmung seine Musick for the Royal Fireworks HWV 351 erklingt, erstrahlt Großbritannien in stolzer Größe und schönstem Glanz. Oder vielleicht doch nicht? Die Feuerwerksmusik, komponiert zur Feier des Aachener Friedens, der den Österreichischen Erbfolgekrieg beendete, wurde am 21. April 1749 in den Londoner Vauxhall Gardens vor angeblich 12.000 Menschen erprobt und danach am 27. April im Green Park nahe dem St. James’s Palace vor dem König (mittlerweile George II) mit allem »pomp and circumstance« zelebriert, ein pyrotechnisches Spektakel, von einem martialisch besetzten Orchester mit jeweils neun Trompeten und Hörnern, 24 Oboen, 12 Fagotten, einem Kontrafagott, drei Paar Kesselpauken und Militärtrommeln lautstark unterstützt. Noch im Mai 1749 richtete Händel für eine Aufführung der Feuerwerksmusik im geschlossenen Saal die heute gebräuchliche Fassung mit Streichern und Bläsern ein.
Als Händel, seit 1727 Staatsbürger des Vereinigten Königreichs, dieses Paradestück britischer Macht und Würde erdachte, orientierte er sich ganz selbstverständlich an der Kultur des ärgsten Kriegsfeindes, denn seine Musick for the Royal Fireworks hebt an mit einer zweiteiligen französischen Ouverture, wie sie Jean-Baptiste Lully, der Hofkomponist des Sonnenkönigs Louis XIV begründet hatte. Und auch die Fortsetzung, die Suite, verleugnet den französischen Ursprung keineswegs. Jean Sigismond Cousser, ein Schüler Lullys, hatte als erster solche Folgen stilisierter Tänze und programmatischer Sätze zusammengestellt und damit das Muster gelegt für die europaweit stilbildenden Orchestersuiten, die namentlich an deutschen Höfen überaus beliebt waren – man denke nur an die Ouvertüren aus der Feder Bachs oder Telemanns. Um nun aber die Verwirrung noch auf die Spitze zu treiben, sei daran erinnert, dass Lully kein Franzose, sondern ein Italiener war, Giovanni Battista Lulli aus Florenz, und dass Cousser (ursprünglich Johann Sigismund Kusser) als Sohn ungarischer Eltern in Pozsony (Bratislava) zur Welt kam. Fassen wir zusammen: Ein deutscher Komponist schreibt in England eine Ouvertürensuite französischer Prägung, als deren Erfinder ein Italiener und ein Ungar gelten dürfen. Welch eine Ironie der Geschichte, jedenfalls der Musikgeschichte! Und so feiert dieses Feuerwerk das grenzenlose Europa – mit der Einsicht, dass zwischen Wurzellosigkeit und nationaler Kulturhegemonie ein weiter Raum bleibt: für die Musik, die Kunst und das heimatlose, heimatliebende Leben.
Wolfgang Stähr