Nord-Süd-Dialog
Geheimnisvolle Verbindungen zwischen Jean Sibelius, Maurice Ravel und Uuno Klami
»Der große Mann ist ein öffentliches Unglück« – ob von Konfuzius oder nur ein anonymes Zitat aus dem alten China: Hinlänglich bewiesen ist diese Weisheit allemal. Aber der große Mann ist nicht nur ein öffentliches, sondern auch ein privates Unglück, nämlich für all jene kleinen Männer und kleinen Frauen, die ebenfalls gern groß wären, größer sogar, am besten die Größten. Und die sich lebenslang beklagen, ein Schattendasein führen zu müssen, nicht genug Luft zum Atmen zu haben, weil irgendein Titan das ganze Sonnenlicht und den ganzen Sauerstoff für sich beansprucht.
Es liegt nahe, dass vor allem Komponisten solche Lamenti anstimmen – es ist schließlich ihr Metier. Leider sind sie dabei nicht ehrlich. Der Ruhm eines Mozart, Beethoven oder Wagner etwa hat niemanden daran gehindert, nach ähnlichen Höhen zu streben. Der große Mann war insofern ein Glücksfall: Er setzte den verbindlichen Maßstab, den es zu erreichen galt, er inspirierte die Nachgeborenen zur Nachfolge auf höchstem Niveau. Wer wollte bestreiten, dass Schubert und Brahms tatsächlich aus dem Schatten Beethovens getreten sind, dass Mendelssohn fast ein zweiter Mozart war und Bruckner ein symphonischer Meistersinger erster Ordnung!
»Eine völlig neue Musik mit klassischen Mitteln«: Jean Sibeliusʼ Erste Symphonie
Wie in der großen weiten Welt verhielt es sich auch in der kleinen finnischen, die im 19. Jahrhundert selbst im Vergleich mit den Nachbarländern äußerst provinziell war. Robert Kajanus beherrschte von 1880 an als Dirigent und Komponist die Szenerie, bevor der neun Jahre jüngere Jean Sibelius öffentlich hervortrat. Bereits 1902 hatte sich letzterer mit der patriotischen Orchesterdichtung Finlandia und den ersten beiden Symphonien als nationales Monument etabliert. Sein Personalstil wurde mehr und mehr als finnischer Stil schlechthin begriffen. Zeitgleich mit der Ersten Symphonie op. 39 entstanden in Dänemark und Schweden ebenfalls bedeutende Beiträge zu dieser Gattung, nämlich Carl Nielsens Zweite mit dem Titel Die vier Temperamente und Hugo Alfvéns Zweite in D-Dur. Doch ein neues Kapitel schlug nur Sibelius auf. Er allein schuf, wie es Otto Klemperer formuliert hat, »mit klassischen Mitteln eine völlig neue Musik«.
Die langsame Klarinetteneinleitung des Werkbeginns, begleitet von leisem Paukenwirbel, lässt schon die berstende Spannung des folgenden Hauptsatzes ahnen. Zwar sinkt die Melodie vom Mezzoforte zu dreifachem Piano herab, aber diese knapp 30 Takte sind von extremer Unruhe erfüllt, enthalten fünf Crescendi und sechs Decrescendi, spiegeln also keine elegische oder gar resignative Stimmung wider. Das nun einsetzende Allegro energico ist dann von schneidender Schärfe. Es stoßen massive Klangblöcke aufeinander, ohne dass es je zum Stillstand des symphonischen Flusses kommt. Auch unter den heftigsten Attacken bricht der Satz nicht auseinander, sondern wird durch biegsame rhythmische Gestaltungen zusammengehalten, mehr noch durch die subtilen, harmonisch verfremdeten Modifikationen der Eingangsmelodie. Deren Intensität gewinnt Sibelius aus der karelischen und samischen Volksmusik. Weit davon entfernt, irgendwelche Zitate zu benutzen, orientiert er sich an der Grundgestalt dieser traditionellen Themen, die entweder einen Ton in engen Intervallschritten umkreisen oder einen anderen, sehr lange ausgehaltenen in einer plötzlichen Triole enden lassen. Ansatzweise werden schon jene metallisch flimmernden Streichertremoli hörbar, die Sibelius im Laufe seines Schaffens noch weiterentwickeln wird zu einer innovativen Klangflächenarchitektur.
Trotz liedhafter Grundstruktur gibt sich auch das an zweiter Stelle stehende Andante immer wieder schroff und verwandelt die anfangs fast wie eine Berceuse tönende Melodie in einen Trauermarsch. Zum e-Moll des Kopfsatzes steht er mit seinem Es-Dur in einem denkbar scharfen, allen Lehrbüchern widersprechenden Kontrast. Ebenfalls ungewöhnlich ist das Scherzo mit seiner melodisch geführten Paukenstimme. Das Finale überbietet alle bisherigen Konflikte eher als dass es sie löst; beginnend mit der Klarinetteneinleitung des ersten Satzes, jetzt aber flammend vorgetragen vom gesamten Streicherapparat, bezieht es seine gewaltige Kraft aus der Kombination antagonistischer Abschnitte: Einem breit dahinströmenden Freiheitsgesang, der an den Hymnus aus Finlandia gemahnt, stehen Passagen gegenüber, bei denen das Orchester wie toll um sich selbst zu kreisen scheint – republikanisches Nationalbewusstsein und Delirium des Schamanen in unversöhnlicher Nachbarschaft …
Wiegen und schmieden: zwei Sätze aus Uuno Klamis Kalevala-Suite op. 23
Der große Mystiker des Nordens hatte übrigens ein Faible für den Süden. Seine Zweite Symphonie entstand in Italien, die Tondichtung Die Okeaniden klingt durchaus impressionistisch, und in seinen Klavierwerken verwendete Sibelius häufig Titel wie Rêverie, Dialogue, Air de danse und Scène lyrique. Für die anderen Komponisten Finnlands freilich blieb er der erratische nordische Fels, den man trotz aller Mühen nicht bezwingen konnte. Einar Englund, dessen 1947 geschriebene Zweite immerhin die meistgespielte finnische Nachkriegssymphonie ist, veröffentlichte noch 1996 eine Autobiografie unter dem Titel Im Schatten von Sibelius. Schon vor dem Krieg waren einige bemerkenswerte Beiträge zu dieser Gattung von Erkki Melartin (1875 – 1937) und Leevi Madetoja (1887 – 1947) entstanden, die sich aber nicht dauerhaft im Konzertrepertoire halten konnten. Das hingegen gelang Uuno Klami. Freilich nicht mit seinen zwei Symphonien – auf diesem Feld konnte er zu den genannten Landsleuten nicht aufschließen. Obwohl die beiden Werke mit hinreißenden Einfällen aufwarten, streckenweise sogar mit grandiosen Largamente-Abschnitten, wie man sie bei Sibelius bewundert, fehlt ihnen doch dessen bezwingende Logik. Klami war ein Mann fürs kleine Format, und wenn er mühelos im Halbschatten von Sibelius überlebte, ist das vor allem seiner Kalevala-Suite geschuldet. Das Stück bezieht sich auf die finnische Mythendichtung gleichen Namens, die auch Sibelius und viele andere zu Kompositionen anregte. Nähe und Distanz zum Altmeister sind gleich groß. Klami neigt zu tonmalerischen Effekten – dergleichen gibt es bei Sibelius nicht, auch nicht in dessen Symphonischen Dichtungen, die den Geist oder die Atmosphäre eines Sujets wiedergeben und keine illustrativen Details. Vollständig emanzipieren konnte sich Klami indes nicht. Er hat sich vielmehr immer wieder sibelianische Themen und Figuren ausgeborgt, mit Vorliebe aus der Lemminkäinen-Suite und der Fünften Symphonie. Auch in der Kalevala-Suite sind die Anleihen nicht zu überhören: Der Finalsatz mit dem Titel Das Schmieden des Sampo wirkt geradezu wie eine Fantasie über das Hauptthema aus En Saga. Klamis drakonische Instrumentation, häufig als Strawinsky-Filiation beschrieben, verdankt sich dabei mindestens in gleichem Maße der Kullervo-Symphonie.
Die Kalevala-Suite schildert in fünf Sätzen die Erschaffung der Erde und das Aufblühen des Frühlings. In der Mitte steht eine mit dem Kalevala-Stoff nicht direkt verbundene Naturfantasie. Der vierte Satz bezieht sich auf das Wiegenlied, das Lemminkäinens Mutter singt, nachdem sie ihren Sohn aus der Unterwelt gerettet hat. Auf diesen eindeutig der nationalromantischen Tradition verpflichteten Teil folgt Das Schmieden des Sampo, vergleichsweise modern in der Klangsprache und wohl die Ursache dafür, dass man die Kalevala-Suite hin und wieder als »finnischen Sacre« rühmt. Der Sampo ist eine von dem Schmied Ilmarinen gebaute Wundermaschine oder »Zaubermühle«. Der Versuch, sie zu stehlen, führt zu ihrer Zerstörung, doch den Splittern entsprießen Gerste und Roggen.
Uuno Klami war als Komponist von Orchestermusik weitgehend Autodidakt. Er machte nie viele Worte, sprach nach dem Tod seiner Eltern angeblich jahrelang mit keinem Menschen. Wenn er sich zur Musik äußerte, geschah es in einem eher saloppen Ton. »Man sollte das Komponieren wirklich nicht so verdammt ernst nehmen«, gab er noch als Mitglied der Finnischen Akademie von sich. Trotzdem beschäftigte ihn die Kalevala-Suite knapp anderthalb Jahrzehnte; ihre endgültige Version konnte erst 1943 uraufgeführt werden.
Als Klami studienhalber 1924 nach Paris ging, lernte er den ähnlich schweigsamen und reservierten Maurice Ravel kennen. Auch künstlerisch standen sie sich nahe. Probleme der Form existierten für Klami nicht, er wollte wirkungsvolle, zündende Musik schreiben, extrovertiert und durchaus optimistisch – Ravel wurde unvermeidlich zu seinem Idol. Der Einfluss des von ihm vergötterten Franzosen zeigt sich überdeutlich in Klamis Erstem Klavierkonzert Une nuit à Montmartre (1925) und in Merikuvia (Seebilder, 1932). Für Klami bot die französische Schule – wie vorher schon für Leevi Madetoja – eine Chance, dem übermächtigen Sibelius zu entkommen.
Ein Divertissement in Mozart-Nähe: Maurice Ravels G-Dur-Klavierkonzert
Ravel war gleichfalls ein extrem rezeptiver Komponist, nur sind bei ihm die Muster höchstens zu ahnen, niemals anhand exakter Zitate zu belegen. Wenig bekannt ist seine Verehrung für Edvard Grieg, dem er 1894 in Paris erstmals begegnete. Der junge Ravel hatte sich ans Klavier gesetzt und spontan einen Norwegischen Tanz angeschlagen, wurde dann jedoch von Grieg unterbrochen, der ihn belehrte, dass es sich um einen Bauerntanz handle und also ein derber, stampfender Rhythmus erforderlich sei. Distanz zur deutschen Musiktradition, Inspiration durch Natureindrücke, Affinität zur Folklore, sei es die nordische oder die baskisch-spanische – diese drei Elemente sorgten für gegenseitige Sympathie. Als Ravel 1926 Oslo besuchte, verriet er einem Fragesteller, dass es »abgesehen von Debussy keinen Komponisten gibt, dem ich mich stärker verbunden fühle als Grieg«. Konkrete Spuren hat diese Verbundenheit aber nicht hinterlassen, weder in der 1927 vollendeten Sonate für Klavier und Violine noch in den beiden 1929 begonnenen Klavierkonzerten. Vielmehr bezeugen diese Werke den tiefen Eindruck, den der Jazz – nicht erst seit der USA-Tournee 1928 – auf ihn ausgeübt hatte.
Das G-Dur-Klavierkonzert ist Ravels letztes reines Instrumentalwerk. Danach entstanden nur noch die drei Lieder Don Quichotte à Dulcinée. Ravel verlor, wahrscheinlich infolge eines Autounfalls, von 1932 an rapide seine Fähigkeit zu schreiben, konnte nur noch mit Mühen sprechen und sich bewegen. Das Konzert besitzt also keinen testamentarischen Charakter, enthält aber extensive mystische oder meditative Abschnitte. Der Kopfsatz mit der Tempobezeichnung Allegramente (d. h. freudig, heiter, feurig) eröffnet mit einem verblüffenden Peitschenknall. Nach einer kurzen, nervösen Orchestereinleitung übernimmt der Solist die Regie und führt das Ensemble in Sphären, die an den Blues-Stil Gershwins erinnern. Ein hispanisch anmutendes, versonnenes Harfensolo weicht traumhaft entrückten Klavierläufen und -trillern, bevor die Blechbläser ein recht burschikoses Schlusswort formulieren. Das Ganze folgt einer verschleierten Sonatenform, doch wollte der Komponist sein Werk eher als Divertissement verstanden wissen. Mit einem ähnlichen Understatement kommentierte er auch das Adagio assai: Er habe es taktweise zusammengestückelt und sich das Larghetto aus Mozarts Klarinettenquintett zum Vorbild genommen. Damit ist die Magie dieses Satzes natürlich nicht annähernd erklärt, genauso wenig durch den pianistischen Kunstgriff, zur Hauptmelodie in der rechten Hand die linke einen langsamen Walzer spielen zu lassen. Streicher und Holzbläser stimmen ein zweites, dissonant angereichertes Thema an, kehren aber schon bald zum Ausgangspunkt dieses Solitärs in der modernen Musik zurück. Das Presto-Finale kann als Weiterführung des Kopfsatzes gelten, setzt jedoch ausschließlich auf virtuose Effekte und meidet alle zuvor ausgeloteten Tiefen.
Die Ästhetik des reinenfaire plaisir galt in Frankreich erst nach 1945 als anrüchig. In Deutschland und Skandinavien hatte sie nie viele Anhänger. Jean Sibelius etwa, der sich mit französischer Musik gut auskannte, stellte nicht Debussy oder Ravel an deren Spitze, sondern Albert Roussel. Kein Wunder auch: Der Symphoniker Roussel kam aus dem vergleichsweise düsteren Norden nahe der flämischen Grenze. Und war zweifellos ein großer Mann – wenn auch nicht im konfuzianischen Sinne.
Volker Tarnow