O sink hernieder, Nacht der Liebe
Einige Anmerkungen zu Hector Berlioz’ Symphonie dramatique Roméo et Juliette
Liebe? Etwas Schöneres, Besseres, Erhabeneres gibt es nicht. Liebe ist das einzig Richtige im richtigen Leben und wäre es wohl noch im falschen, das – hegelianisch gesprochen – wahre Ganze und somit auch das ganze Wahre: Ziel allen irdischen Strebens, Seins und Werdens. Das Problem daran ist nur, dass die Liebe dort, wo sie hinfällt, keineswegs zwangsläufig immer richtig gebettet ist. So auch im wohl berühmtesten Fall der Literatur- und Dramengeschichte, in William Shakespeares 1597 erstmals gedrucktem Schauspiel mit dem wunderbar melodiösen Titel Anexcellent conceited Tragedy of Romeo and Juliet. Erzählt wird darin eine Art Ur-Geschichte: Zwei Menschen lieben einander, tun es von ganzem, unschuldig-reinem Herzen. Doch die schicksalhaften gesellschaftlichen Umstände verlangen geradezu danach, dass diese Verbindung keine Zukunft haben darf und haben wird; zu verfeindet sind die Veroneser Familien Montague und Capulet, als dass Versöhnung, geschweige denn irgendeine Form der Zuneigung eine Chance haben könnten. Es sei denn, jene Liebe, die in den Tod mündet.
Für die Opern- und Ballettbühnen bildete der Stoff natürlich eine perfekte Steilvorlage; kein Wunder, dass sich etliche Komponisten des tragischen Falls annahmen und ihn nach eigenem Gutdünken umformten. Einer tat es nicht, und das ist nur mit größtem Bedauern und sogar einer Prise Unverständnis zu konstatieren: Giuseppe Verdi vertonte zwar mehrere Shakespeare-Dramen, von Romeo und Julia aber ließ er die Finger. Bleiben unter dem Strich vier Komponisten, denen die Umsetzung der Tragödie in Musik glückte. Sergej Prokofjew schuf das zweifellos schönste Werk für die Gattung Ballett: Romeo und Julia. Auf dem Gebiet der Oper teilen sich drei Schöpfer den Lorbeer. Erstens Vincenzo Bellini mit seinem leidenschaftlichen, die Vorlage allerdings sehr freizügig deutenden Belcanto-Drama I Capuleti e i Montecchi (beide Liebende werden von Frauen gesungen!); zweitens sein heute gänzlich in Vergessenheit geratener Landsmann Nicola Vaccaj mit seinem musikalisch wie dramaturgisch plausiblen Stück Giulietta e Romeo. Und drittens Charles Gounod. Dessen grandioses fünfaktiges Opus magnum Roméo et Juliette enthält alle Ingredienzen einer zeitlos modernen Tragödie. Der Coup de théâtre von Gounods Werk liegt insbesondere in seinem religiös-transzendentalen Schlusstableau: Die beiden Liebenden bitten ihren Schöpfer um Vergebung für die letzte Sünde ihres Lebens – den gemeinsamen Freitod. Nichts bringt sie der ewigen Glückseligkeit näher als diese an sich schauerliche (gleichwohl couragierte) Tat. Durch den Zauber der Liebe, besiegelt mit einem einzigen, einzigartigen Kuss, sind sie eins in Seele und Herz. Und selbst den herannahenden Tod empfindet die weibliche Titelheldin als »ce moment de doux«, als einen Moment der Süße. Eine Volte, die nur der (an extremen Positionen reichen) Romantik entspringen konnte. Die aber musikalisch beglaubigt ist durch den Gebrauch der Invokation (Anrufung Gottes) im oktavischen Einklang der Stimmen. Gounod wendete so mit höchstem dramaturgischen Geschick die perspektivlose Katastrophe der shakespeareschen Tragödie in ihr glattes Gegenteil – in eine Art sentimentale Verklärung.
Eine neue Form des imaginären Theaters – Roméo et Juliette von Hector Berlioz
Hector Berlioz wählte eine komplett andere Herangehensweise. Er entschied sich, Shakespeares Vorlage nicht in ein genuines Bühnenwerk umzumünzen (was aufgrund der Struktur dieses Stücks eigentlich nahelag), sondern schlug – einmal um eine neue Form des imaginären Theaters zu kreieren, aber wohl auch deswegen, weil der Titan Beethoven ihm als leuchtendes Ideal vor Augen stand – den weitaus schwierigeren Weg ein. Er entwarf seine Version von Roméo et Juliette (das neben dem Hamlet zu Berliozʼ Lieblingsstücken des großen Engländers zählte) als »Symphonie dramatique, avec chœurs, solos du chant, et prologue en récitatif choral«. Die Arbeit an diesem opulenten, knapp 100-minütigen Opus, die sich über mehrere Monate des Jahres 1839 hinzog, muss ihren Schöpfer enorm in Anspruch genommen haben; so zumindest liest sich die entsprechende Passage in seinen ausschweifenden und in vielen literarischen Farben schillernden Mémoires: »Ich arbeitete sieben Monate lang an meiner Symphonie, ohne mich dabei mehr als drei oder vier Tage im Monat irgendwelcher anderer Dinge wegen zu unterbrechen. Welch ein glühendes Leben führte ich in dieser ganzen Zeit! Mit welcher Kraft schwamm ich in diesem weiten Meer der Poesie, umschmeichelt vom launischen Wind der Fantasie, unter den heißen Strahlen der Liebessonne Shakespeares, und im Glauben an meine Kraft, die wunderbare Insel zu erreichen, auf der der Tempel der reinen Kunst sich erhebt.«
»Chapeau, Monsieur Berlioz«, würde hier der geneigte Literaturkritiker applaudieren. Doch nicht nur der: In der Tat ist dem französischen Komponisten mit Roméo et Juliette ein kleiner Geniestreich gelungen, der schon seine Zeitgenossen schwer begeisterte und sogar einen äußerst kritischen Geist wie Richard Wagner beeindruckte (der zwischen 1839 und 1842 mehr oder minder erfolgreich in Paris Fuß zu fassen versuchte): »Die fantastische Kühnheit und scharfe Präzision, mit welcher hier die gewagtesten Kombination wie mit den Händen greifbar auf mich eindrangen«, schreibt er im Rückblick auf die dramatische Symphonie seines französischen Kollegen, »trieben mein eigenes musikalisch-poetisches Empfinden mit schonungslosem Ungestüm scheu in mein Inneres zurück. Ich war ganz nur Ohr für Dinge, von denen ich bisher gar keinen Begriff hatte und welche ich mir nun zu erklären suchte«.
Wagners ergriffene Irritation ist gerechtfertigt, hat aber ihren Grund zum einen in der kompositorischen Physiognomie von Berlioz, zum anderen in der Vorlage für Roméo et Juliette. Nicht das Original (das er zwar kannte, seiner geringen Englisch-Kenntnisse aber nicht studieren konnte) diente dem Komponisten als Inspiration, sondern die französische Prosaübersetzung von Pierre Letourneur von 1776, die 1821 in einer redigierten Ausgabe des Historikers und Politikers François Guizot erschienen war. Und dann gab es da noch den grandiosen, regieführenden Schauspieler David Garrick (er lebte von 1717 bis 1779): Dessen radikal gekürzte, auf die Liebestragödie fokussierte, das Gros der gesellschaftlichen Implikationen zurückdrängende Version von Romeo und Julia sah Berlioz in der Saison 1827/1828 auf der Bühne einer in Paris gastierenden englischen Theatertruppe, mit Charles Kemble und der legendären Harriet Smithson in den Hauptrollen. Diese Version, in der es unter anderem eine feierliche Prozession zu Julias Begräbnis gab, die Berlioz späterhin zu einem inwendig-erschütternden Convoi funèbre umgestaltete, nahm er als Grundlage für seine dramatische Chor-Symphonie. Nur das Ende änderte er einschneidend. Nicht Tod und Verzweiflung warten dort, sondern Verklärung, Versöhnung und einträchtige Harmonie – eine utopische Variante, die ihr Vorbild im lieto fine des barocken Theaters fand.
Ein siebensätziges Werk mit kräftigen Ranken und in sich verschnörkelten Girlanden
Formal handelt es sich bei Roméo et Juliette um ein siebensätziges Werk, das allerdings innerhalb dieser Gliederung einige kräftige Ranken und in sich verschnörkelte Girlanden aufweist. Das gleichsam janusköpfige Entree bildet eine instrumentale Ouvertüre (Introduction) in trüb-verschattetem h-Moll, in der wesentliche Handlungsstränge mit rein musikalischen Mitteln höchst anschaulich dargestellt sind: Der Kampf zwischen den verfeindeten Parteien, zu Beginn ein vitales Fugato, wächst sich zu einem wahren Grand Guignol – einem grotesken Horrorstück – aus; die Intervention des Prinzen kommt als massiver Blechbläserchoral in der markig leuchtenden Tonart H-Dur daher. Es folgt ein ausgedehntes, zart besetztes Chorrezitativ (Prologue), das nicht nur die Hauptthemen der nachfolgenden Instrumentalteile antizipiert, sondern überdies eine wichtige dramaturgische Funktion innerhalb der Gesamtkonzeption übernimmt. Im Kern wird hier das gesamte Geschehen wie in einem musikdramatischen Exposé skizziert, inklusive der gesellschaftlichen Gemengelage – dem Hass zwischen den Familien Montague und Capulet –, der aufflammenden Liebe des blutjungen Romeo zur nicht weniger jugendlichen Julia und der Aussichtslosigkeit ihres naiv-sentimentalen Unterfangens. Im zweiten Satz breitet sich der symphonische Geist des Werks aus: anfangs in Form jenes chromatisch gefärbten symphonischen Gedichts mit dem Titel Roméo seul (Andante), das im weiteren Verlauf in eine flott-furiose, stark akzentuierte und mit flüchtigen Scherzen angereicherte »Grande Fête chez Capulet« mündet (Allegro). Zu Beginn des dritten Satzes verlieren sich die Stimmen der ausgelassen Capulets auf den Straßen Veronas (Doppelchor hinter der Bühne), bevor die große, dreiteilige Scéne d’amour erklingt: ein Streicher-Adagio von nachgerade mahlerscher Prägung mit einem auffällig verhaltenen, nur sehr selten aufgehellten Grundton, der auf die Innigkeit und Verletzlichkeit der Bindung zwischen den beiden Liebenden hindeutet. Gleichsam als Sahnehäubchen der Fantastik aus dem Geiste E. T. A. Hoffmanns, kommt der vierte Satz als ein wildwüchsiges Orchesterscherzo daher (La Reine Mab), das nicht nur thematisch, sondern auch habituell und semantisch deutlich an Carl Maria von Webers Oberon und Mendelssohns Sommernachtstraum erinnert.
Von hier aus macht das Geschehen einen gewaltigen Sprung, direkt in die Gruft der Capulets. In den folgenden drei Sätzen werden wir zunächst Zeugen jenes bereits erwähnten feierlichen Convoi funèbre, den Berlioz aus Garricks Version übernahm und vertonte. Imaginiert man sich diesen Augenblick als nicht nur musikalische, sondern zudem szenische Realität, mutet dieses Stück als eine überaus kühne Wendung an, da die vermeintlich tote Julia zu diesem Zeitpunkt ja noch lebt. Die Klangsprache des vokal-instrumentalen Intermezzos nähert sich deutlich dem Charakter des Prologues an; es dominieren psalmodierende Töne, es herrscht edles Pathos, wenn der Chor sich gleichsam über die (Schein-)Tote beugt und sein Mitleid in die Waagschale wirft: »Streut Blumen für die tote Jungfrau! Folgt unserer geliebten Schwester bis ans Grab!«
Dortselbst, im Grab, ist dann der von seinem Schöpfer als »scène instrumentale« charakterisierte sechste Satz der Chorsymphonie angesiedelt: Roméo au tombeau des Capulets. Auf eine leidenschaftliche entflammte Einleitung folgt eine Invocation in cis-Moll, die mit rein musikalischen Mitteln äußerst plastisch die Bestürzung Romeos beim Anblick der vermeintlich Verblichenen schildert, dann das Erwachen Julias evoziert (der Gesang der Klarinette erinnert an die erste Begegnung der beiden Liebenden in der Scène d’amour) sowie die daraus resultierende, nachgerade wahnsinnige Ekstase (Joie délirante heißt es im Original), die sich kurz darauf in überwältigende Verzweiflung verwandelt. Mit großer Geste malt Berlioz dann die grässliche Todesangst der beiden Liebenden aus bis das Geschehen unweigerlich zum erschütternden Liebestod führt.
An diesem Schnitt- und vorgeblichem Endpunkt beginnt mit dem siebten Satz gewissermaßen das Oratorium in der Symphonie. Wie schon in der Introduction nimmt der geteilte Chor (auf der einen Seite die Montagues, auf der anderen die Capulets) das Zepter in die Hand und führt einen ausladenden Dialog mit Pater Lorenzo, um schließlich vereint das große Loblied auf die Kraft der Versöhnung anzustimmen. Berlioz entfesselt hier alle möglichen Kräfte, Roméo et Juliette gleicht in dieser verklärenden Apotheose durch und durch einem Oratorium, erinnert in seiner Faktur aber auch deutlich an das Finale aus Beethovens Neunter Symphonie. Da wie dort regiert der humanistische Idealismus, und wüsste man nicht, dass der Schöpfer dieses weihevollen Schwurs – mit höflicher Erlaubnis von William Shakespeare – Hector Berlioz ist, könnte man durchaus zur Annahme gelangen, die Verse seien aus der Feder Friedrich Schillers aufs Papier getropft. Wie auch immer, das Band »liebender Fürsorge und brüderlicher Freundschaft « ist geknüpft. Doch bedarf es, um den feierlichen Schwur für immer in die Seelen der einst Verfeindeten einzubrennen, anscheinend himmlischer Hilfe, das bekundet der vorletzte Satz der dramatischen Symphonie: »Und Gott, in dessen Hand das künftige Gericht liegt, wird diesen Schwur in das Buch der Vergebung eintragen!«
Die Utopie der Liebe
Damit wiederum bekundet Berlioz’ dramatische Symphonie ihre Seelenverwandtschaft mit Gounods knapp 30 Jahre später vollendeter Opéra. Denn in beiden Werken, so unterschiedlich sie in Anlage, Haltung und Klangsprache sein mögen, ist es am Ende Gott, vor dem der Mensch niederkniet. Die Utopie der Liebe, sie liegt in seinen Händen. Dementsprechend ist auch die Liebe zwischen Romeo und Julia kaum mehr mit normalen Maßstäben zu messen. Sie führt in ein anderes Land, in eine andere Sphäre, sie bricht die normative Kraft des Faktischen auf und bestätigt auf poetologische, ja fast philosophische Art und Weise die letzten Worte Rainer Maria Rilkes aus dessen Gedicht Archaïscher Torso Apollos: »Du musst dein Leben ändern!«
Jürgen Otten