Der gestirnte Himmel über uns
Zukunftsperspektiven zweier Spätwerke
Zum Auftakt der neuen Saison, zum Beginn eines neuen Kapitels ihrer Geschichte haben die Berliner Philharmoniker und ihr neuer Chefdirigent Kirill Petrenko zwei Werke aufs Programm gesetzt, die aus den Spätphasen ihrer jeweiligen beiden Komponisten stammen, zwei Werke, in denen gewissermaßen eine Summe gebildet wird – nicht im Sinne eines Bilanzziehens, sondern als Zusammenschau alles dessen, was in der Musik bisher errungen und erschaffen wurde, und als Ausblick in eine Zukunft, die von anderen zu gestalten sei. So, wie Alban Berg in seiner Lulu ein ganzes Kompendium von musikalischen Formen und Kompositionstechniken nutzt, um eines der brennenden Themen seiner – und unserer – Zeit auf die Bühne zu bringen, so sprengt Ludwig van Beethoven die Grenzen des Symphonischen, um in einer anderen Dimension als bisher zur Menschheit sprechen zu können. Damit weist er der Gattung Symphonie eine Perspektive, die nachfolgende Generationen auf verschiedene Weise aufgegriffen haben, sei es in Gustav Mahlers Verknüpfung von menschlicher Stimme und menschlicher Existenz mit instrumentalen Kräften oder in Richard Wagners Vision des Musikdramas.
Alban Bergs Symphonische Stücke aus der Oper Lulu – Angelpunkt alles Seins und Denkens
Alban Bergs Beschäftigung mit dem Lulu-Sujet geht zurück auf seinen Besuch der Wiener Premiere von Frank Wedekinds Drama Die Büchse der Pandora 1905, aus Zensurgründen eine Privataufführung, organisiert und eingeleitet durch Karl Kraus. Das muss ein Erweckungserlebnis für den jungen, damals gerade 20-jährigen Künstler gewesen sein. Zwei Jahre später schrieb er an Frida Semler: »Und nun zur Literatur: Wedekind – – – die ganz neue Richtung – die Betonung des sinnlichen Moments in modernen Werken!! – […] Wir sind endlich zur Erkenntnis gekommen, dass Sinnlichkeit keine Schwäche ist, kein Nachgeben dem eigenen Willen, sondern eine in uns gelegte immense Kraft – der Angelpunkt alles Seins und Denkens.« Dass sich Humanität nicht allein nach rationalen Erwägungen bemisst, macht das Zusammenleben der Menschen nicht einfacher, aber es kommt darauf an, sich darüber klar zu werden und offen damit umzugehen; ein Mangel, den nicht nur Wedekind seiner Epoche vor Augen führte. Seit jener Zeit jedenfalls trug Berg den Stoff gedanklich mit sich. Als die Öffentlichkeit nach dem durchschlagenden Erfolg seiner ersten Oper, Wozzeck (1925), ein zweites musiktheatralisches Werk von ihm wünschte, zog er zwar auch andere Vorlagen in Erwägung, vor allem Gerhart Hauptmanns Und Pippa tanzt!, doch nachdem dieses Vorhaben aufgrund exorbitanter Lizenzforderungen des Autors und seines Verlags gescheitert war, griff Berg zu Wedekind: Er verdichtete dessen zwei Lulu-Dramen Erdgeist und Die Büchse der Pandora zu einem brillant gestrafften Opernlibretto und begann 1927 mit der Komposition.
Griffige Zwölftonklänge
Bergs Partitur gründet sich, dem dodekafonen Prinzip seines Lehrers Arnold Schönberg folgend, auf eine einzige Zwölftonreihe, doch bei aller Konstruktion ist diese Musik von großer dramatischer Unmittelbarkeit und jede musikalische Gestalt griffig und einprägsam: Wie Leitmotive begleiten bestimmte Themen und Harmonien die Figuren. Ihr Schöpfer mischt neuartige Kompositionsmethoden mit vielen Bezügen auf alte Formen wie Sonate, Rondo, Kanon oder Tanzformen wie Gavotte, Musette und English Waltz. Die für eine prägnante Schilderung der Figuren nötigen wiedererkennbaren Themen werden durch originell erweiterte Ableitungsverfahren aus der Ursprungsreihe gewonnen; beispielsweise greift Berg jeden dritten Ton aus hintereinandergeschalteten Reihenwiederholungen heraus, woraus er eine neue Reihe gewinnt. Und Harmonien überlässt er nicht dem Zufall oder vermeidet sie gänzlich, sondern strebt sie geradezu an, indem er »die Reihe systematisch nach traditionell-musikalischen Bestandteilen durchsucht und alle sich ergebenden Dur-, Moll-, verminderten und übermäßigen Dreiklänge sowie die herkömmlichen Tonleitern (chromatische, Dur-, Moll- und Ganztonskalen) herausfiltert« (Volker Scherliess).
Die Arbeit zog sich jahrelang hin, zweimal unterbrochen durch Auftragswerke, erst die (mit dem Sujet entfernt verwandte) Konzertarie Der Wein auf Gedichte von Charles Baudelaire, später das Violinkonzert. Dass er letztlich die Oper nicht vollenden konnte, war, anders als in Schönbergs Oper Moses und Aron, eher unglückliche Wendung als Bestimmung; denn wo der einstige Lehrer an einem Punkt der Handlung, an dem es um Sprachlosigkeit geht, nicht weiterzuschreiben wusste, hatte Berg seine Oper im Grundgerüst abgeschlossen, bevor eine Blutvergiftung seinem Leben vorzeitig ein Ende setzte. Einzig die Instrumentierung des dritten Aktes stand noch aus: Er ist nur als Particell, also als eine Art Klavierauszug mit Instrumentationshinweisen, überliefert – mit zwei Ausnahmen. Diese sind einer musikpublizistischen Strategie zu verdanken, mit der Berg, wie man damals sagte, »Reklame« oder »Propaganda« für seine neue Oper machen wollte: einer Auswahl, die vorab in Konzerten das Publikum mit der Klangwelt des Werks vertraut machen sollte. So war er bereits erfolgreich mit Wozzeck verfahren (Drei Bruchstücke aus der Oper Wozzeck), und seine Nachfolger wie Bernd Alois Zimmermann (Vokalsymphonie aus Die Soldaten) bis hin zu Hans Abrahamsen (Drei Märchenbilder aus der Schneekönigin)hielten und halten es ähnlich. Die fünf Symphonischen Stücke aus der Oper Lulu, ursprünglich schlicht Lulu-Suite genannt, enthalten neben drei Auszügen aus dem zweiten Akt auch zwei Abschnitte des dritten. Sie bildeten viele Jahre später den Ausgangspunkt für Friedrich Cerhas Fertigstellung der Oper in der Gestalt, in der sie heute meistens gespielt wird.
Eigentlich eine Symphonie
Das Rondo, der umfangreichste Satz, kompiliert die orchestralen Teile der Szene von Lulu und Alwa im zweiten Akt, kulminierend in Alwas »Hymne« auf die Ehefrau seines Vaters. Das Ostinato steht genau in der Mitte in der Oper und fungiert dort als Begleitmusik zu einer Stummfilmszene, in der Lulus Verhaftung und ihre Befreiung aus dem Gefängnis dargestellt werden sollen. Spiegelbildlich angelegt, läuft das Stück wie ein Palindrom von der Mitte an notengetreu zurück, wobei sich erst in der Spiegelung (also auf der Handlungsebene: bei Lulus Befreiung) von früher vertraute Wendungen wie das Lulu-Thema erkennen lassen.
In ihrem Lied singt Lulu, im »Tempo des Pulsschlages«, über sich selbst: »Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat; und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen, als was ich bin«. Sie verändert sich, je nachdem, wer sie betrachtet, ist durchlässig für alle Projektionen. Die Variationen fungieren als Zwischenspiel im dritten Akt, ihr Thema »ist das Lautenlied Konfession von Frank Wedekind, das zunächst in pomphaft rauschender Instrumentation gebracht wird, um dann im weiteren Verlauf immer mehr seines ›Beiwerks‹ entkleidet zu werden. Mit dieser instrumentalen Zurücknahme zeichnet Berg den Übergang von der falschen Pracht des Paris-Bilds zum wirklichen Elend in der Londoner Dachkammer nach.« (Thomas Ertelt) Das abschließende Adagio bildet auch den Schluss der Oper; es enthält den zwölftönigen, als »Todesschrei« bezeichneten Akkord und die letzten Sätze der Gräfin Geschwitz. »Diese Schlussworte sollen womöglich von der Sängerin des Lieds der Lulu auch gesungen werden«, erbittet eine Fußnote der Partitur. Damit ergibt sich eine reizvolle Distanzierung, eine Trennung von Darstellerin und dargestellter Figur: Die Sängerin erweist sich nicht als Verkörperung der Lulu, sondern als Kommentatorin ihres Schicksals.
Seit der am 30. November 1934 von Erich Kleiber in Berlin dirigierten Uraufführung wurden die Symphonischen Stücke auch als Symphonie interpretiert, von Bergs Schüler Willi Reich ebenso wie von Theodor W. Adorno: »Nirgends ist die Beziehung zum späten Mahler deutlicher als hier. Fünf Sätze: die außen stehenden, durchaus symphonischer Art wie etwa in Mahlers Neunter, schließen drei kurze Mittelsätze von bestimmten ›Charakteren‹ – vielleicht ähnlich der Siebenten – zusammen.« Die Verknüpfung von instrumentaler und vokaler Sphäre ist ein weiteres Merkmal, das beide verbindet, und es ist nur zu offenbar, worauf diese Idee zurückgeht: auf das Vorbild Beethoven und seine Neunte Symphonie.
Ludwig van Beethovens Neunte Symphonie – Musik in diesen wüsten Zeiten
Ludwig van Beethoven hat an seiner letzten Symphonie ähnlich lang gearbeitet wie Berg an seinem letzten Werk; zwölf Jahre reichen erste Vorstudien, Skizzen, Notizen zurück, sieben Jahre lang beschäftigte er sich konkret mit dem Stück: Der Auftrag der London Philharmonic Society, gleich zwei neue Gattungsbeiträge für sie zu schreiben, erreichte ihn im Jahr 1817. Auch für einen Beethoven war aller Anfang schwer: »Es graut mir vor’m Anfange so großer Werke. Bin ich drin: Da geht’s wohl«, gestand er Friedrich Rochlitz 1822, als er sich langsam, endlich über Verlauf und Struktur der Symphonie – es blieb bei dieser einen – klar wurde. Dabei verwob er verschiedene, zunächst unabhängig voneinander existierende Kompositionspläne: eine neue Symphonie in einer Molltonart (schon auf den Skizzen zur Siebten und Achten findet sich ein solcher Vermerk), außerdem eine weitere, »wo alsdann im letzten Stück [i. e. Satz] oder schon im Adagio die Singstimmen eintreten«, als ältestes Vorhaben eine Vertonung von An die Freude, jenem »Lied des unsterblichen Schillers« (Beethoven) – dessen Melodie er auf einen anderen Text schon 1808 in seiner Chorfantasie op. 80 vorweggenommen hatte –, und schließlicheine Oper mit dem Titel Bacchus, in deren Zusammenhang er 1817 ein musikalisches Motiv notiert hat, der zum Hauptthema des zweiten Satzes von Opus 125 werden sollte.
Zu dieser Oper formulierte Beethoven einen Gedanken, der nicht nur auf seine geistige Verfassung in jenen Jahren ein Schlaglicht wirft, sondern auch auf seine Vorstellung davon, wie Ideen in eine ästhetische Erscheinung übersetzt werden können; und er weist voraus auf die Symphonie und ihr konzeptionelles Aufeinanderprallen von Schönem und Hässlichem: »Dissonanzen vielleicht in der ganzen Oper nicht aufgelöst oder ganz anders, da sich in diesen wüsten Zeiten unsere verfeinerte Musik nicht denken lässt.« In diesen wüsten Zeiten: Das ist ein Hinweis auf die Auswirkungen des Wiener Kongresses und Metternichs Reformen, die angestrebte Wiederherstellung vorrevolutionärer Verhältnisse, auf Polizeistaat und Spitzelwesen, Gängelung und Zensur – nach Napoleon die zweite »große politische Enttäuschung im Leben Beethovens« (Harry Goldschmidt). Die Frustration saß tief: »Was mich anbelangt, so ist geraume Zeit meine Gesundheit erschüttert, wozu auch unser Staatszustand nicht wenig beiträgt, wovon bisher noch keine Verbesserung zu erwarten, wohl aber sich täglich Verschlechterung desselben ereignet«, vertraute Beethoven 1817 Frankfurter Freunden an, und einem Prager Korrespondenten schrieb er im selben Jahr: »Leben Sie wohl. – Übrigens macht einen alles um uns nahe her ganz verstummen.«
Der Komponist verstummte nicht, aber das Schaffen wurde zunehmend schwieriger. Mag die Entwicklung von Stimmung und Tonart in der d-Moll- auch ähnlich wie in der früheren c-Moll-Symphonie sein, der Weg durch Nacht zum Licht ist beschwerlicher geworden, und sein Erfolg erfordert ungeahnte Anstrengungen und Mittel. Es ging Beethoven weniger um die Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit, sondern um eine Anfechtung der Verhältnisse, einen Angriff auf den reaktionären Zeitgeist. Sein Credo galt der Bewegung, nicht dem Stillstand: »Allein Freiheit, Weitergehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen Schöpfung, Zweck.« (an Erzherzog Rudolf, 29. Juli 1819)
Auch in der Verirrung – groß
Beim Schildern des Kampfes um Freiheit, Friede und Freude – worunter man die Trias von Beethovens Hauptwerken Fidelio, Missa solemnis und Neunte Symphonie fassen könnte – musste dem Sieg des Guten die Herrschaft des Bösen vorangehen, die Freude aus der Freudlosigkeit erwachsen. So dienen die ersten drei Sätze als Beispiel für Zustände, in denen Humanität nicht gedeihen kann. Unterdrückung und Kampf herrschen im gewaltigen ersten: »Bis zum Äußersten wird der Musik ihre metaphorische Sprachgewalt abgerungen. Wo sie steigt, erscheint die Zuversicht, wo sie fällt, zeigt sie Zurückweichen und Unterliegen an. […] Man erinnere sich der Ereignishaftigkeit aller Repriseneintritte in Beethovens Symphonien. An diesem Wendepunkt wurde in den früheren Arbeiten regelmäßig der glückliche Ausgang, die ›Rettung‹ herbeigeführt; hier dient sie der Zerschmetterung.« (Harry Goldschmidt). Der zweite Satz – reißt er »nur Possen«, wie Beethoven selbst sagt? Er heißt nicht mehr Scherzo; denn den aus dem höfischen Menuett hervorgegangenen Satztypus überspannt er, ein Koloss von 954 Takten Länge, zum Zerreißen. Eher als um »Neckereyen«, wie es die zeitgenössische Kritik genannt hat, handelt es sich wohl um eine furchterregende, mühsam durch arkadische Einsprengsel gemilderte Dystopie, eben um ein Sinnbild der »wüsten Zeiten«. Und der dritte ist in des Komponisten Begriff »zu zärtlich«, um Bestand zu haben. Er vereint zwei unterschiedliche Teile in sich: ein Adagio molto e cantabile mit »dem Charakter eines Gebets und der Form eines Lieds« und ein Andante moderato, das im Anschluss daran in stillstehender Harmonie eine Stimmung verlängert ohne Entwicklungsimpuls, »die letzte, die deutlichste und ausdrucksvollste der vielen tönenden Leerstellen der Symphonie« (Wilhelm Seidel). Die Fanfaren, die in der Coda über dieses Adagio herfallen, deuten die Radikalität des nötigen Umbruchs an. »Nein diese … erinnern an unsre Verzweiflung«, lautete Beethovens zunächst notierter Text, mit dem die Reminiszenzen an die ersten drei Sätze als ungenügend zurückgewiesen werden.
Ob Bedrohung von außen oder innere Lethargie: alles bisher Gehörte ist zu überwinden. Und das geschieht letztlich durch eine »ästhetische Ungeheuerlichkeit« (Eduard Hanslick). Der populärste Satz war von Anfang an auch der umstrittenste: Das Finale wurde in der Allgemeinen musikalischen Zeitung 1825 als »der schwächere Teil des genialen Werks« bezeichnet; trotzdem könne »man von Beethoven sagen, was man von Händel gesagt hat: Auch in der Verirrung – groß!« Erst einmal ist es die Vision einer glücklicheren Zukunft, wie es der Komponist Aribert Reimann interpretiert: »Nach all dem politischen Wirrwarr und den Schrecknissen der Zeit, die auch Beethoven selbst erlebt hat, ist dieses Werk am Ende ein Appell, eine Sehnsucht nach Verbrüderung, nach Freude und Jubel, nach der Utopie eines Weltfriedens, nach einer Welt ohne Kriege und Zerstörung.« Aber selbst in dieser Utopie steckt eine Ambivalenz. Denn das Glück wird definiert auf Kosten von unterlegenen Gegnern, die vom Freudenfest ausgeschlossen sind. Schon im Fidelio-Schlusschor werden ja nur diejenigen ausdrücklich zum Jubeln aufgerufen, die »ein holdes Weib errungen« haben. In Schillers Ode – aus der Beethovens Librettistenteam diese Zeile wahrscheinlich entlehnt hat – wird den Unglücklichen, die weder Frau noch Freund gefunden haben, nahegelegt, sich davonzumachen und die sich Freuenden nicht mir ihrer Trauer zu behelligen. Beethoven verschärft die Gegnerschaft, indem er mit der Janitscharenmusik die Bedrohung aus der Fremde andeutet, die türkische Belagerung Wiens und den Kampf gegen das osmanische Reich ins Gedächtnis ruft und damit eine Gruppe von Anderen postuliert, die nicht dazugehören. Sind es Grenzen der Humanität, die sich hier zeigen? Oder eine Bewusstheit um die Notwendigkeit widerstreitender Kräfte, um das ewige Ausbalancieren von Richtig und Falsch? »›Das Moralische Gesetz in uns und der gestirnte Himmel über uns‹ Kant!!!« zitiert Beethoven 1820 frei den Königsberger Philosophen und stellt damit klar: Die Verantwortung liegt immer auch im einzelnen Menschen. Das bleibt, auch in der stärksten Gemeinschaft, die Verpflichtung, aus der sich niemand davonstehlen kann.
Malte Krasting