Mit ihrem Education-Programm möchten die Berliner Philharmoniker ihre Arbeit und ihre Musik einem breiten Publikum zugänglich machen. Ermöglicht wird diese Initiative von der Deutschen Bank.
»LIFE« – ein Education-Chorprojekt mit den Vokalhelden und Gastchören aus Deutschland, Italien, Spanien und England
Songs ausFriday Afternoons von Nico Muhly und das moderne Oratorium There Was a Child von Jonathan Dove
Friday Afternoons – Freitagnachmittags
Freitags, am Nachmittag ist traditionell die Zeit, in der an britischen Schulen gemeinsam gesungen wird. Dieser Brauch veranlasste 1933 den damals 19-jährigen Komponisten Benjamin Britten, in den folgenden zwei Jahren zwölf Lieder für Kinder und Jugendliche zu schreiben. Diese Sammlung mit dem Titel Friday Afternoons wiederum inspirierte 2013 – im Rahmen der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Brittens – die gleichnamige Sing-Initiative »Friday Afternoons«. Den Initiatoren von Aldeburgh Music, einer von Britten und dessen Lebensgefährten Peter Pears gegründeten gemeinnützigen Vereinigung, ging es darum, das gemeinsame Singen zu fördern. Am 22. November 2013 sangen 70.000 junge Menschen aus der ganzen Welt zusammen Brittens Lieder. Inzwischen organisiert »Friday Afternoons« solche Großgesangsprojekte jährlich. Daneben unterstützt das Projekt über seine Website Gesangslehrerinnen und -lehrer und stellt dort Notenmaterial, Audio-Dateien und sogar Texte in Blindenschrift sowie Youtube-Videos in Gebärdensprache zur Verfügung, um möglichst vielen Gesangsbegeisterten zu ermöglichen »Friday Afternoons«-Stücke zu singen. Dass diese Sammlung stetig wächst, ist auch den Kompositionsaufträgen zu verdanken, die durch die Initiative regelmäßig vergeben werden, so auch an den Amerikaner Nico Muhly. 2015 komponierte und arrangierte er acht ein- und zweistimmige Lieder für Chor und Klavier auf Gedichte von Robert Louis Stevenson, Charles Kingsley und Mark Twain. Die von Muhly ausgewählten Verse nehmen Bezug auf Britten, dessen Textzusammenstellung eine große Bandbreite an Stimmungen abdeckt. Neben heiteren, humorvollen und die Natur thematisierenden Texten werden auch sehr ernste Themen wie der Tod nicht ausgespart. Hieran knüpft der Amerikaner unmittelbar an: »In diesen Liedern findet sich eine gewisse Melancholie und Einsamkeit unter einer Oberfläche, die im ersten Moment wie ein schlichter Text über die Natur anmuten mag«, erklärt der Komponist, »die Eule in The BirdSong zum Beispiel sagt: ›Here I sit on a frozen stake / which causes my poor heart to ache‹ (Hier sitze ich auf einem eisigen Pfahl,/ und das tut meinem armen Herzen weh.) und From a Railway Carriage berichtet von ›a child who clambers and scrambles / all by himself and gathering brambles‹. (Da hinten ein Kind, das klettert und schüttelt, / im Apfelbaum sitzt und an Zweigen rüttelt) Ich habe bewusst einige ganz offensichtlich düstere Inhalte mit aufgenommen, so wie in Young and Old von Charles Kingsley, wo es um das Altern, um Leben, Tod und Erinnerung geht.« Während in den Texten der einzelne Mensch angesprochen wird, steht beim Singen das Verbindende im Vordergrund. Muhlys Vertonungen leben von ihren eingängigen und leicht lernbaren Melodien, die durch stimmungsvolle, originelle, aber niemals unnötig komplizierte Instrumentalbegleitungen umspielt werden. »Ich glaube, weil ich selbst als Kind gesungen habe«, so Muhly, »fällt es mir nicht schwer, heute für junge Menschen zu komponieren. Mir ist bewusst, dass jede Stimme ihre Stärken und Schwächen hat, deshalb war es mir wichtig, dass dieser Liederzyklus für alle geeignet ist: für junge, unerfahrene Sängerinnen und Sänger, aber ebenso für diejenigen, die schon weiter sind und nach neuen Herausforderungen suchen. Dabei denke ich oft daran zurück, welche Art von Musik mich selbst beeindruckt hat, als ich elf oder zwölf Jahre alt war: Tatsächlich gehört besonderes die geistliche Musik von Benjamin Britten dazu, aber auch die einfacheren Motetten von William Byrd. Das hat sicher meinen Stil beeinflusst.« Eigens für das Konzert in der Berliner Philharmonie hat Muhly die Klavierbegleitungen von Friday Afternoons für Orchester arrangiert.
Nico Muhly
Nico Muhly wurde 1981 als Sohn einer Malerin und eines Filmemachers in den USA geboren und studierte Komposition an der renommierten Juilliard School in New York. Zu einem seiner Vorbilder wurde Philipp Glass, ein Komponist der Minimal Music, für den Muhly längere Zeit arbeitete, wobei er dessen Werke für den Druck vorbereitete und auch in Konzerten dirigierte. Doch die Musik war nie Muhlys einzige Leidenschaft: Nebenbei studierte er auch Englisch und Arabisch an der Columbia University. Die vielseitigen Interessen des Komponisten spiegeln sich auch in der Verschiedenheit seiner Werke wider: Er schrieb Opern, für die er von so berühmten Häusern wie der Metropolitan Opera Aufträge erhielt, er komponierte Orchesterstücke, Theater-, Musical- und Filmmusik, darunter den Soundtrack zum Oscar-prämierten Film Der Vorleser. Stilistisch will sich der schon als junger Mann erfolgreiche Komponist in keine Schublade stecken lassen. Seine Wurzeln sieht er selbst in der Musik der Renaissance, später beeinflussten ihn besonders Igor Strawinksy und Olivier Messiaen sowie Minimalisten wie Glass, Steve Reich und John Adams. Nico Muhly experimentiert gern mit verschiedenen Klängen, verbindet elektronische Musik mit Chorgesang und klassischen Kompositionstechniken. Dabei steht er dann auch mal mit Künstlern auf der Bühne, die man sonst außerhalb der Klassikwelt antrifft, nämlich Björk, Adele und die Indie Rock-Band Grizzly Bear.
There Was a Child – Es war einmal ein Kind
Es war einmal ein Kind, das jeden Tag seiner Wege ging, neugierig seine Umgebung und alle Dinge um es herum betrachtete, ertastete, roch, schmeckte und hörte. Mit jedem neuen Eindruck machte es sich die Welt mehr zu eigen. Es wuchs heran, wurde immer mutiger und abenteuerlustiger, kein aufgeschlagenes Knie, keine Beule, keine Verbrennung vermochte es auf seinen Erkundungen zu bremsen, es fühlte sich unendlich frei, furchtlos und unverwundbar. Es war ein ganz normales Kind, ein Kind wie Robert. Robert lebte 19 Jahre lang intensiv und voller Abenteuerlust – bis er am 21. Juni 1999 beim Schnorcheln in Thailand starb.
Um ihrer unendlichen Trauer Ausdruck zu verleihen, lag es für Roberts musikliebende Eltern nah, eine Komposition in Auftrag zu geben. »Schon seit meiner Jugend hatte Musik, besonders Chormusik, in meinem Leben große Bedeutung für mich«, erzählt Roberts Mutter Rosemary Pickering, »daher schien es mir das Naheliegendste, ein Werk in Auftrag zu geben, das das Leben meines Sohnes feiern sollte.« Ihr schwebte kein Requiem vor, keine Totenfeier, sondern ein Stück, das sich auf das Leben, mit all seinen Freuden und Schönheiten konzentriert. Obwohl er Robert nicht persönlich gekannt hat, bat sie den Komponisten Jonathan Dove, diese sehr individuelle und zugleich universelle »Feier des Lebens« in Töne zu fassen. »Als Rosemary Pickering mich bat, ein Werk zu komponieren, das das Leben ihres Sohnes feiern sollte«, so Dove, »war uns beiden sofort klar, dass es ein Stück mit Gesang sein musste. Mit anderen zusammen zu singen, ist eine der freudvollsten Aktivitäten, die ich kenne, also musste dies ein Chorwerk werden.« Als Textgrundlage für das Oratorium There Was a Child stellte Dove Gedichte verschiedener Autoren zusammen, darunter William Shakespeare, Emily Dickinson und Walt Whitman. Sie sollten in archetypischer Weise das junge Leben eines Menschen nachzeichnen und zugleich all das verkörpern, was Roberts Eltern ihm über den Charakter ihres Sohnes erzählt hatten. Dank der Beteiligung des Norfolk and Norwich Festivals und des City of Birmingham Symphony Orchestras, die sich an dem Auftrag beteiligten, konnte Dove mit There Was a Child ein rund 50-minütiges Werk zu Papier bringen, das am 2. Mai 2009 erstmals in der St. Andrew’s Hall in Norwich erklang.
Ich bin das Lied, vom Vogel gesungen
Die Tonsprache in There was a Child ist eindringlich, unmittelbar und häufig symbolisch. Mit großer Lebhaftigkeit beginnt das Stück, es ist die Natur mit all ihren Farben und Formen, in deren Mitte, als ein Teil ihrer selbst, sich die Geburt vollzieht. »I am the song that sings the bird«, singt der Chor, eingebettet in die Orchesterbegleitung, sinnbildlich Teil des Ganzen. Wenn vom Mond die Rede ist, funkeln dank des Glockenspiels hörbar die Sterne und das Strahlen der Blechbläser begleitet effektvoll den Aufgang der Sonne. Die Sopransolistin verkörpert für Dove die Stimme der Mutter, sie schildert die Entstehung neuen Lebens aus dem Schoß der Natur. Die Musik nimmt hier geradezu magischen Charakter an – die Geburt wird als wahres Wunder vertont. Im folgenden Abschnitt Childhood wird zunächst der feierliche Charakter, das Staunen über das junge Leben, fortgesetzt. Nun tritt auch der zweite Solist hinzu, ein Tenor, der aus der Perspektive des Sohnes singt und von den Freuden eines Fünfjährigen erzählt, der an Sommertagen in einem kleinen Bach badete, über Felder sprang oder einfach nackt unter dem Sternenhimmel stand. So frei wie sich das Kind in der Natur fühlte, so frei und weit ausschwingend gestaltet Dove den Gesang des Erzählenden. Die Chöre stellen mehrmals in langen Akkorden das »tiefe« Schlafen (Sleep) in der Nacht und den hellen, »hohen« Tag (Day) einander gegenüber.
Im dritten Teil berichten die Kinderstimmen in kecker Manier von den Abenteuern des »unartigen Jungen« (»There was a naughty Boy«), begleitet von ebenso frechen Bläsereinwürfen aus dem Orchester. Daran anschließend handelt From all the Jails the Boys and Girls von der sinnbildlichen Befreiung der Mädchen und Jungen, die losstürmen, um die Welt zu erobern. Musikalisch unterlegt Dove den Text mit einer vorandrängenden pulsierenden Begleitung, es brodelt und rumort!
Neugierig blicken die Kinder im fünften Abschnitt über den Zaun auf die köstlich reifen Erdbeeren – auf- und absteigende Melodien versinnbildlichen wie sie über den Zaun klettern, um die süßen Früchte zu erreichen. Tänzerisch beginnt die Musik, die in folgenden ein Verfolgungsspiel auf Schlittschuhen unter dem Abendhimmel beschreibt. Die Klarinettenfiguren erinnern an Pirouetten, das heitere Jagen wird von pochenden Trommelschlägen angetrieben, doch als die Spielenden den leuchtenden Sternenhimmel entdecken, halten sie inne, um ihn zu bestaunen.
Voller Staunen und zugleich ein wenig furchterfüllt erzählt die Tenorstimme in Romance – zwischen den abenteuerlich klingenden Namen von Vulkanen – von der ersten Verliebtheit eines 13-Jährigern und dem Verwirrenden dieser ersten, unerwartet aufflammenden Liebe
Unüberhörbare Aufbruchstimmung herrscht zu Beginn von New Worlds; heroisch setzt die Tenorstimme ein und schwingt sich rauschhaft immer weiter hinauf. Voller Übermut beschreibt der Protagonist seinen Höhenflug, der ihn »das Gesicht Gottes berühren« ließ. Doch dann stürzt mit einem Mal die Dunkelheit über die Musik herein, abrupt bricht der Höhenrausch ab – es ist das plötzliche Ende eines Abenteuers. Die Trauer der Mutter drückt sich in einem berührenden Klagegesang der Sopranstimme aus.
Zuletzt schließt sich der Kreis: Die Melodie von There Was a Child greift die ersten Töne von I am the song auf, denn inhaltlich hängen beide Gedichte eng miteinander zusammen: Wurde zu Beginn das Kind aus der Natur heraus geboren, so wird hier beschrieben, wie die Natur in all ihren Formen und Farben im Laufe seines Lebens ein Teil von ihm wurde. Auch die Musik gewinnt die Lebhaftigkeit zurück, die sie im ersten Abschnitt hatte, tänzerisch leicht und beschwingt klingt sie hier, geschäftig und pulsierend dort, wo Alltagsszenen der Eltern beschrieben werden, die ebenfalls ein Teil des Kindes geworden sind. Zum Schluss vermischen sich alle Stimmen zu einem strahlenden Hymnus, doch die letzten Worte singt allein die Tenorstimme: »These became part of that child who went forth every day and who now goes, and will always go forth every day.« (All dies wurde ein Teil des Kindes, das jeden Tag seiner Wege ging, und jetzt geht, und für immer jeden Tag seiner Wege gehen wird.)
Jonathan Dove
Jonathan Dove, Jahrgang 1959, stammt aus London. Der Sohn eines Architektenpaares begann schon früh Klavier, Orgel und Bratsche zu spielen; sein Kompositionsstudium führte ihn später an die weltberühmte Cambridge University. Nach dem Abschluss seine Ausbildung arbeitete Dove als Liedbegleiter, Animateur und Arrangeur. Als er beim jährlich stattfindenden Opernfestival in Glyndebourne bei einem Projekt assistierte, wurde er »entdeckt« und erhielt seinen ersten Kompositionsauftrag. Dove sollte eine Oper mit Musik nicht nur für erfahrene Spezialisten, sondern für alle schreiben. Das Resultat, Hastings Spring, gelangte 1990 im Rahmen des Glyndebourne Education-Programms zur Aufführung. Auch Doves Durchbruch als Komponist im Jahr 1998 gelang ihm mit einer Oper: Die Flughafenkomödie Flight kommt ganz ohne den typischen Stoff aus Helden, Intrigen, Liebesqualen und –freuden aus und erzählt die Geschichte eines iranischen Flüchtlings, der acht Jahre lang im Ankunftsbereich des Pariser Flughafen »Charles de Gaulle« lebte. Seine Oper über die Abenteuer Pinocchios (Adventures of Pinocchio) begeisterte 2007 Menschen rund um den Globus und wurde dafür mit dem British Composer Award für Bühnenstücke ausgezeichnet. Die speziell für das Fernsehen komponierten Opern When She Died… (2002) über die Reaktionen auf den Tod Prinzessin Dianas, und Man on the Moon (2006) über Buzz Aldrin, den zweiten Menschen auf dem Mond, erreichten ein Millionenpublikum.
Dove ist viel daran gelegen, dass seine Werke für jedermann hörbar, unmittelbar verständlich und berührend sind. Mit sogenannten Community-Opern wie beispielsweise The Palace in the Sky (2000) bringt er Menschen unterschiedlicher Herkunft und Bildung zusammen, um gemeinsam ein musikalisches Projekt zu gestalten. Mittlerweile umfasst das Gesamtschaffen des erfolgreichen und mehrfach mit Preisen geehrten Komponisten über 20 Opern, zahlreiche Chorwerke, Instrumental- und Orchesterstücke.
Nach der Aufführung von The Monster in the Maze (Was lauert da im Labyrinth) im Jahr 2015 ist There Was a Child das zweite große Chorprojekt von Jonathan Dove, das in der Berliner Philharmonie zu erleben ist.