»Man schlägt sich halt so durch ...«
…lautet eine unter ›freien‹ Schlagzeugern beliebte Antwort auf die Frage »Wie geht’s denn immer?« – das ist sowohl fachspezifisch korrekt als auch der meist prekären sozialen Lage entsprechend. Solche Erfahrungen haben wohl die meisten (sogar der heute hochberühmten und mit philharmonischen Würden ausgestatteten) Schlagzeugerinnen und Schlagzeuger gemacht, die sich – noch studierend oder kurz nach der Ausbildung – von »Mucke« zu »Mukke« die Miete und mehr erspielten, zudem immer auch für den Transport der unterschiedlichsten Gerätschaften zuständig waren und sich dabei vorkamen wie die Nach-Fahren der vogelfreien spätmittelalterlichen »Fahrenden«. Besonders demütigend war das für die künftigen Solopauker, die doch in der Tradition der königlichen Paukerzunft zu den Privilegierten gehören sollten und sich mit den besonders sperrigen und schweren Maschinenpauken abmühen mussten: Reichte der alte Bulli für drei dieser Ungetüme?
Eine wichtige ästhetische Erfahrung dieser Existenz war die prinzipielle Offenheit gegenüber jeglicher Art von Musik. Ob Rock, Pop, das klassisch-romantische Repertoire, Musical, Jazz, Folk, Alte Musik, Minimal Music, Avantgarde, Weltmusik verschiedener Kulturen: Diese sehr unterschiedlichen Herausforderungen prägten und prägen nicht nur das stilistische Unterscheidungsvermögen, sondern gaben und geben ebenso Anregungen für mutige Grenzüberschreitungen, die zu sehr innovativen Klangkombinationen führen können. Klar, wenn etwa hemdsärmelige Hardrocker einen hochartifiziellen Perkussionisten oder gar eine Perkussionistin schlicht als ›Trommler‹ bezeichnen, darf man/frau nicht zu dünnhäutig reagieren – das ist nicht bös gemeint, eher im Gegenteil: Es ist eine hohe Form der Anerkennung. Und dass es sogar berühmten Solopaukern Spaß macht, sich wieder einmal ins Drumset zu zwängen, kann ich bezeugen.
Die Emanzipation all dieser perkussiven Idiofone und Membranofone, im Zeitalter der Digitalisierung noch ergänzt durch gemischt analog-elektroakustische Klänge, geschieht in den unterschiedlichsten Genres der Musik primär seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die primär dienenden, »färbend« unterstreichenden Funktionen der Schlaginstrumente bleiben zwar weiterhin als Möglichkeit erhalten, doch es entstehen mehr und mehr Kompositionen, in denen der gesamte Klangreichtum als ein für sich selbst stehendes Eigenständiges durchmessen wird, von der sanften Bezauberung über tänzerische Leichtigkeit und spirituelle Farbigkeit bis hin zur auch körperlich erschütternden Klanggewalt. Eine solche Vielfalt, dargeboten von zwei Solopaukern, vier Perkussionisten und drei weiteren Instrumentalist*innen, entfaltet in kammermusikalischen Ensembles unterschiedlichster Besetzung, zeichnet das heutige Programm aus.
Stilistische Grenzüberschreitungen: Mauricio Kagels Auftakte sechshändig
Die Auftakte sechshändig für Klavier und zwei Schlagzeuger entstanden 1996. Mauricio Kagel, der in Deutschland lebende Argentinier, war ein Meister der verblüffenden stilistischen Grenzüberschreitungen. Der von Hans Werner Henze geprägte Begriff der »Musica impura«, einer »unreinen« heterogenen Musik, ließ verschiedenste musikalische Materialien und theatralische Elemente aufeinander prallen. Mit solchen – schon bei Strawinsky, Schostakowitsch, Eisler eingesetzten – Verfremdungstechniken wurden noch in den Zeiten der Post-Postmoderne politische und soziale Phänomene kritisch und oft auch ironisch gebrochen reflektiert. Einfachste Skalen werden schief ineinander geschoben, Geräusche und feste, stationäre Tonhöhen kommentieren sich wechselseitig. Anders als andere Avantgardisten hat Kagel nicht die berühmte »Angst vor dem Dreiklang«, sondern er verleiht den Drei- und anderen vertrauten Klängen durch veränderte Umgebungen eine überraschende Neuigkeit. Verschiedene gestische »Stationen« wechseln sich ab und liefern eine nachvollziehbare Dramaturgie. Auch die im Titel versprochenen »Auftakte« sind dergestalt erlebbar: Vorbereitungsphase auf einen Schwerpunkt hin (im Normalfall die »Eins« eines Takts) – Schwerpunkt – Ausschwingen. Das alles kann mit unterschiedlichsten klanglichen und figurativen Elementen geschehen und auch in den einzelnen Momenten unterschiedlich lang sein (ein metaphorischer »Auftakt« zu einem festlichen Ereignis etwa vermag durchaus einen ganzen Tag in Anspruch zu nehmen). Die sechs Hände der drei Ausführenden können zusammen agieren, aber auch getrennte Wege gehen: Akustisch wie szenisch bleibt das spannend.
Ein frühes Beispiel musikalischer Collagetechnik: John Cages Credo in Us
Mit Credo in Us für zwei Schlagzeuger, Klavier und DJ schrieb der große Zertrümmerer und Experimentator John Cage, der ein lieber und sanfter Mensch war, 1942 ein sehr frühes Beispiel musikalischer Collagetechnik. Ein DJ schaltet jeweils zu genau bestimmten Zeitpunkten eine klassisch-romantische Komposition ein (später noch andere Zufallszitate), die Perkussionisten und der Pianist reagieren mit Patterns aus lateinamerikanischer Rhythmik mit repetierten Loops kleinster Notenwerte; sie werden sehr überraschenden kollektiven Stops und Abbrüchen unterworfen, die offensichtlich szenische Äquivalenzen haben. Diese frühe Vorform der Minimal Music hat ebenso komplexe wie äußerst simple Phasen, etwa eine Kinderlied-Allusion im Klavierpart mit partiell abgedämpften (linke Hand!) Saiten, oder auch Jazz- und Boogie-Fragmente. Cage selbst sprach von einer »Suite mit einem satirischen Charakter«, die er für Merce Cunninghams Tanztheater schuf. Nach der Uraufführung bekam das Stück noch den Untertitel A Suburban Idyll. Der Haupttitel Credo in Us wurde häufig, aber fälschlich auf die damalige politische Situation in den USA (Pearl Harbor, Kriegseintritt) gemünzt, bezieht sich aber sicherlich ironisch auf die szenische gruppendynamische Situation der Ausführenden.
Organisch gewachsen: Sofia Gubaidulinas Im Anfang war der Rhythmus
In eine völlig andere musikalische Welt gelangen wir mit Sofia Gubaidulinas 1984 vollendeten, in Tallinn 1986 uraufgeführten Werk Im Anfang war der Rhythmus für sieben Schlagzeuger. Die Komponistin aus dem tatarischen Tschistopol, die seit 1992 in Deutschland lebt, schrieb in einem autobiografischen Essay: »Es gibt Komponisten, die ihre Werke sehr bewusst bauen, ich zähle mich dagegen zu denen, die ihre Werke eher ›züchten‹. Und darum bildet die gesamte von mir aufgenommene Welt gleichsam die Wurzeln eines Baumes und das daraus gewachsene Werk seine Zweige und Blätter. Man kann sie zwar als neu bezeichnen, aber es sind eben dennoch Blätter, und unter diesem Gesichtspunkt sind sie immer traditionell, alt.« Instrumente gelten Sofia Gubaidulina metaphorisch als »lebende Wesen«. Wir hören drei korrespondierende, miteinander kommunizierende Paukisten (Maschinenpauken mit per Fußpedal modifizierbaren Tonhöhen); sie setzen verschiedene Schlägel ein, spielen aber auch mit den Fingern, den Handkanten, den Handballen. Allmählich werden die anderen Instrumente ins Geschehen integriert; fest komponierte Partien wechseln ab mit improvisierten, die aber gestische Vorgaben haben. »Ätherische« Metallofone entfalten ihre Klangwolken gegen die Dominanz heischenden Pauken; Woodblocks und Marimbafon greifen sehr selten ein, haben aber »das letzte Wort«. Das Bild eines organischen, gleichsam vegetativischen Wachsens, wie es Sofia Gubaidulina von ihrem Schaffen entworfen hat, ist in diesem Stück gut nachvollziehbar.
Echos einer heilen Welt? – Die Cinq Danses dogoriennes von Etienne Perruchon
In die Gefilde eines Wahnsinns, einer Manie führt uns Etienne Perruchon: in die von ihm selbst erfundene und so genannte Dogoramania. Perruchons Musik ist voll der süßen Fantasy-Klischees der Film- und Musicalmusik, und er entwickelte sogar die »dogorische« Kunstsprache, auf die in Frankreich offensichtlich nicht nur die Kinder »voll abfahren«. Die heile Welt einer vermeintlich »guten alten Zeit« (Tonalität, Melodik, Formaufbau, rhythmische Patterns) will eine Gegenwelt zur kalten Gegenwart aufbauen. Das Publikum (er)kennt die Gesten und die Wendungen, die es schön findet, weil sie so vertraut sind und gleichzeitig in den Sounds »aufgepeppt« werden. Die Funktion »funktioniert«, und das ist ein Zeichen funktionaler Könnerschaft. Und es ist – das sage ich etwas wehmütig – handwerklich wirklich gut gemacht. Die Cinq Danses dogoriennes für fünf Pauken, drei Tempelblocks und Violoncello (letzteres in unserer Aufführung durch einen Kontrabass ersetzt) waren 2005 Pflichtstück bei einem Pauken-Wettbewerb in Paris. Phrasiert der Tanz Nr. 1 seine 6/4- und 3/4-Takte in charakteristischen Patterns von Latin-Rhythmen, so ruft die Nr. 2 ruft mit dem asymmetrisch geteilten Fünfer-Takt Paul Desmonds für Dave Brubeck geschriebenes Take Five in Erinnerung. Danach sorgt der dritte Tanz in gemäßigtem Tempo für liedhafte und lyrische Kantabilität, bevor uns der vierte mit expressiven Blue notes auch in den Pauken in die Nähe zum Blues führt. Den virtuosen Schlusspunkt setzt die Nr. 5 mit Ragtime-Assoziationen.
Größtmögliche instrumentale Naturnähe: George Crumbs An Idyll for the Misbegotten
Der US- Amerikaner Komponist Crumb ist für seine polystilistischen Experimente berühmt, die gut gefüllt sind mit Zitaten aus der Musikgeschichte; sie verweisen auf über- und außermusikalische Bedeutungen mit gesellschaftlich-politischem Hintergrund. Als er 1986An Idyll for the Misbegotten für elektrisch verstärkte Flöte und drei Schlagzeuger komponierte, führte ihn das erlebte Missverhältnis zwischen Homo sapiens und Natur zu einer melancholischen musikalischen Reflexion über die verlorene Bedeutung einer »Bruderschaft mit allen Lebensformen«, wie sie bei Franz von Assisi beschrieben wurde. Als »Monarchen einer sterbenden Welt« sind wir einem »moralischen Imperativ« der Natur gegenüber verpflichtet. Flöte und Schlaginstrumente stehen bei Crumb symbolisch für größtmögliche instrumentale Naturnähe, und die Flöte zitiert das solistische Stück Syrinx von Claude Debussy. Da wird auf die antike Panflöte verwiesen und auf die Metamorphose, die Verwandlung der von Pan verfolgten Nymphe Syrinx in dieses »natürlichste« Schilfrohr-Instrument. Als »wörtliche« sind Crumbs Zitate gut unmittelbar verständlich, gleichzeitig aber erleben auch sie – strukturelle –Metamorphosen. Sanfte Melancholie, »kreatürliche« Schmerzlaute und harte Klänge des Aufbegehrens sind die Extrempunkte der Komposition. Das Idyll, so der Komponist, sollte »aus der Ferne, über einen See, in einer Mondnacht im August« gehört werden.
Außerparlamentarischer Dialog: Yngve Slettholms Introduksjon og toccata
Der Norweger Yngve Slettholm ist in seiner Heimat (Kultur-)Politiker; er hatte zuvor allerdings eine kompositorische Ausbildung in seiner Heimat und in den USA absolviert, wo er auch promovierte. Als Associate Professor lehrte er Musiktheorie und Komposition; er war Vorsitzender der norwegischen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik; sein Engagement für die Heilsarmee führte zu zahlreichen Kompositionen für deren Ensembles. Das Werk Introduksjon og toccata von 1981 für Pauke und Altsaxofon brachte es gerade wegen der ungewöhnlichen Duo-Kombination zu einiger Beliebtheit bei den Interpreten. Die formale Zweiteilung beginnt mit einer eher improvisatorischen Introduktion in getragenem Tempo, oft meditativ, aber das Saxofon wird dann von Einwürfen der Pauke zumindest zu einem lyrischen Erzähltonfall animiert. Die sich anschließende Toccata ist fest gefügt und hat die seit dem frühen Barock charakteristische durchgehend rasche Bewegung im Tempo giusto. Genutzt werden die symmetrischen »Skalen mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit« Olivier Messiaens ebenso wie partielle zwölftönige Ordnungen – in allen Fällen aber derart, dass immer auch tonale Schwerpunkte gesetzt werden.
Wörtlich genommen: Thierry De Meys Musique de tables
Thierry De Mey ist ein belgischer Instrumentalist, Komponist und Filmemacher. Seine Musique de tables für drei Schlagzeuger von 1987 erweist ihn als virtuos zwischen diesen Künsten changierenden Grenzüberschreiter. Erfahrungen mit elektroakustischer Musik und digitalen Verfahren am IRCAM in Paris hinterließen ihre Spuren auch in De Meys »analogen« Kompositionen. Der Begriff »Tafelmusik« im Titel ist hübsch mehrdeutig: Subsummierte man in der Barockzeit darunter Begleitmusik zu Festgelagen, so muss man es hier sehr wörtlich nehmen: Jeder der drei Schlagzeuger bearbeitet eine vor ihm liegende Tafel (in der Regel gut resonierendes Holz), und zwar mit den eigenen Händen als Schlägeln. Das können die Fingerkuppen sein, die Knöchel, die Fingernägel als Schrapinstrument, die Handballen, die Handkanten, die flache Hand etc. – lassen Sie sich überraschen! Und da sind sie, selbstverständlich, die Vorbilder aus der Fluxus-Bewegung vom späten Cage, von Dieter Schnebel und vielen anderen. Der Filmemacher De Mey setzt auf spektakuläre szenisch-performative Elemente, auf Einheit und Gegenläufigkeit von Gesten, Bewegungen, Aktions-Reaktionsmustern, auf Chaotisches und Vereinheitlichendes (samt Abirren in die trügerische Einigkeit). Als gefilmtes Kunstwerk hat die Komposition eine ebenso unmittelbare Wirkung wie als live erlebte.
Auch pädagogisch wertvoll: Eckhard Kopetzkis Le Chant du serpent
Eckhard Kopetzki schrieb Le Chant du serpent (Der Gesang der Schlange) für vier Schlagzeuger im Jahr 1998. Der Perkussionist und Komponist Kopetzki setzt damit pro domo den virtuosen Schlusspunkt des Programms. Dass er auch studierter Schulmusiker, also Pädagoge ist, zeigt sich durchaus daran, dass er die Kolleg*innen oft liebevoll am Händchen durch diverse Komplikationen führt; auch seine instrumentalpädagogischen Facherfahrungen machen sich – bisweilen selbstironisch – bemerkbar. Dass hochartifizielle performative Künste durchaus den Drive von Latin-Rhythmen vertragen, die sonst nur im Jazz oder im Art-Pop zu hören sind, macht die Sache noch animierender und vergnüglicher. Und: Das ist »unserer eigenen Hände Arbeit« – sie wird mit den bloßen Händen erledigt. All das aber ergänzen die Vier durch das »Maulwerk« mit beherzten und rhythmisch hochkomplexen »Ha!«-Rufen.
Hartmut Fladt