»Harmonisches Spiel der Töne«
Anmerkungen zu Werken von Mozart, Berlioz und Fauré
»über hals und kopf«: Wolfgang Amadeus Mozarts Linzer Symphonie KV 425
In der Regel bezeichnen die Datierungen Mozarts – zum Beispiel in seinem handschriftlichen Verzeichnüss aller meiner Werke, das er vom Februar 1784 an führte – das Ende einer Komposition. Auch wenn man weiß, wie schnell er für gewöhnlich arbeitete, gingen diesem Datum wohl doch zumeist mehrere Tage oder Wochen voraus, in denen die Musik heranreifte, zumal wenn es sich um ein groß besetztes, mehrsätziges Werk wie ein Konzert oder eine Symphonie handelte. Andererseits gibt es so viele einschlägige Anekdoten über Partituren, die – wie die Ouvertüre zum Don Giovanni – in letzter oder allerletzter Minute fertig wurden, dass auch die von Mozart selbst berichtete Entstehung der Symphonie C-Dur KV 425 durchaus glaubwürdig scheint. Nach einigen Wochen, die er mit seiner Frau Constanze bei seinem Vater und seiner Schwester in Salzburg verbracht hatte, war er auf der Rückreise nach Wien (über Vöcklabruck, Lambach und Ebersberg) am 30. Oktober 1783 in Linz eingetroffen. In Ebersberg »kam gleich der Junge graf thun |: bruder zu dem thun in Wien :| zu mir, und sagte mir daß sein hς: Vater schon 14 tage auf mich wartete, und ich möchte nur gleich beÿ ihm anfahren, den ich müsste beÿ ihm Logiren. – Ich sagte ich würde schon in einem Wirthshause absteigen. – als wir den andern tage zu Linz beÿm thor waren, war schon ein bedienter da, um uns zum alten grafen thun zu führen, alwo wir nun auch Logiren. – Ich kan ihn nicht genug sagen wie sehr man uns in diesem Hause mit höflichkeit überschüttet. – Dienstag als den 4:tn Novembr werde ich hier im theater academie geben. – und weil ich keine einzige Simphonie beÿ mir habe, so schreibe ich über hals und kopf an einer Neuen, welche bis dahin fertig seÿn muß. – Nun muß ich schlüssen, weil ich nothwendiger=weise arbeiten muß. – «
Vier Sätze mit insgesamt 863 Takten Musik in voller Orchesterbesetzung (mit Pauken und Trompeten) in vier oder fünf Tagen, wobei ja noch die Zeit für das Aussetzen und Kopieren der Stimmen hinzukam – und damit nicht genug: Möglicherweise schaffte es Mozart auch noch, zum Kopfsatz einer G-Dur-Symphonie seines Freundes Michael Haydn, die er aus Salzburg mitgebracht hatte, eine Adagio-maestoso-Einleitung (KV 444 / 425a) zu komponieren und das ganze Werk mit auf das Programm der Akademie zu setzen! Leider sind die Autografe beider Werke verschollen; ob man ihnen wohl die Eile angesehen hätte, in der sie aufs Papier geworfen wurden …?
Der Musik jedenfalls ist nicht im geringsten anzumerken, dass sie »über hals und kopf« entstand – im Gegenteil: Knapp anderthalb Jahre nach Mozarts bis dahin letzter Symphonie (der im Juli 1782 komponierten Haffner-Symphonie in D-Dur KV 385) beginnt mit der Linzer in C-Dur die Reihe seiner fünf ultimativen Beiträge zu dieser Gattung, in der nur noch die Prager (D-Dur KV 504) und die Trias in Es-Dur, g-Moll und C-Dur (KV 543, 550 und 551) folgen sollten. Mit den drei Dutzend zumeist »galanten« und italienisch geprägten Werken, die Mozart auf seinen frühen Reisen und in seinen Salzburger Jahren zu der Gattung beigesteuert hatte, verbindet die Linzer nicht mehr viel; das belegt schon der doppelt punktierte »heroische Beginn« (Alfred Einstein) der Adagio-Einleitung zum ersten Satz mit seinem Sprung über mehr als zwei Oktaven (vom kleinen h zum zweigestrichenen d) – ein Novum, zu dem Mozart wohl durch die Symphonien Joseph Haydns inspiriert worden war. Hier geht es nicht mehr darum, ein Publikum gefällig zu unterhalten, sondern um ein Manifest künstlerischer Autonomie und Größe, wie es Constantin von Wurzbach 1868 in seinem Mozart-Buch definiert hat: »Die Symphonie als Tonstück [ist] zunächst geeignet, den Beweis zu liefern, wie ein Tonwerk an und für sich, ohne anderes Beiwerk, sondern eben nur als harmonisches Spiel der Töne, sich zum Kunstwerk im eigentlichen Sinne des Wortes zu erheben vermag.« Nur Mozart konnte wohl diesen Beweis in so kurzer Zeit liefern.
Schlank und fast klassizistisch orchestriert: Les Nuits d’été von Hector Berlioz
Zu den ersten Werken, die Mozart nach seiner Rückkehr nach Wien im Dezember 1783 komponierte, zählten vermutlich Rezitativ und Rondo »Misero! O sogno!« – »Aura, che intorno spiri«(KV 431 / 425b) für den Tenor Valentin Adamberger – eine Opernszene, die als sogenannte Einlage- oder Konzertarie sowohl auf der Bühne als auch in einer Akademie dargeboten werden konnte. Anfang des 19. Jahrhunderts verschwand diese Gattung mehr und mehr; an die Stelle der (Konzert-)Arie trat das (Orchester-)Lied: Eine »einsätzige Gedichtvertonung für Solostimme und/oder Chor mit Begleitung eines Orchesters, durchkomponiert oder in Strophenform«, so die Definition des Österreichischen Musiklexikons. Wobei es nicht überrascht, dass es wieder einmal der Visionär Hector Berlioz war, der als »Erfinder« des Orchesterlieds gelten darf.
Schon im November und Dezember 1834 hatte er zwei seiner Klavierlieder – La Captive und Le jeune pâtre breton – für die Sopranistin Cornélie Falcon orchestriert; im Dezember 1842 folgte La belle voyageuse für die Mezzosopranistin Marie Recio, mit der er seit kurzem liiert war, und die er 1854 heiraten sollte. So lag es nahe, dass er auch seine Nuits d’été – den ersten Liederzyklus der französischen Musik – über kurz oder lang orchestrieren würde. Die ursprüngliche Fassung des sechsteiligen Zyklus nach Gedichten seines Freundes und Nachbarn Théophile Gautier entstand 1840/1841 für Mezzosopran oder Tenor mit Klavierbegleitung und wurde 1841 mit der Opuszahl 7 gedruckt. Widmungsträgerin war Louise Bertin, die Tochter des Zeitungsgründers des Journal des débats (für das Berlioz regelmäßig als Feuilletonist arbeitete), die als Komponistin fünf Jahre zuvor mit ihrer Oper La Esmeralda (nach Victor Hugos Notre-Dame de Paris) auf sich aufmerksam gemacht hatte. (Für die immer wieder kolportierte Angabe, Berlioz habe bereits 1834 mit der Vertonung begonnen, gibt es keinerlei Beweise.)
Das erste Lied des Zyklus, das orchestriert wurde, war (am 12. Februar 1843 in Dresden) Absence. Berlioz befand sich als Dirigent auf einer Konzertreise durch Deutschland, bei der ihn wieder Marie Recio begleitete, die dann auch am 23. Februar 1843 im Leipziger Gewandhaus die Uraufführung sang; offiziell widmete Berlioz das Lied allerdings Madeleine Kratochwill-Nottès, die damit unter seiner Leitung am 1. April 1854 in Hannover auftrat. Kurz nachdem der große Tenor Gilbert Duprez Absence am 19. November 1843 in Paris gesungen hatte, erschien die Orchesterfassung des Lieds bei Richault im Druck. Auch die Orchesterfassungen der fünf anderen Lieder der Nuits d’été entstanden in Deutschland, wo Berlioz und seine Musik ohnehin größere Beachtung und Anerkennung fanden als in Frankreich: Zunächst (Ende 1855 / Anfang 1856) Le Spectre de la rose für die Altistin Anna Bockholtz-Falconi, die es am 6. Februar 1856 in Gotha aus der Taufe hob. Im März 1856 folgten die vier restlichen Lieder für vier Sängerinnen und Sänger, die am 20. März 1852 bei der (von Franz Liszt initiierten) Weimarer Aufführung der Oper Benvenuto Cellini mitgewirkt hatten: Villanelle für Louise Wolf (Ascanio), Sur les Lagunes für Hans Feodor von Milde (Fieramosca), Au Cimetière für Friedrich Caspari (Cellini) und die Barcarole L’Île inconnue für Rosa von Milde (Teresa). Die Erstausgabe des kompletten Zyklus erschien kurz darauf bei Rieter-Biedermann in Winterthur und bei Richauld in Paris unter dem Titel Die Sommernächte, »ins Deutsche übertragen von P[eter] Cornelius«.
Wer bei Berlioz a priori an hypertrophe und übergroß besetzte Monumental-Partituren denkt, wird über die schlanke, fast klassizistische Orchestration der Nuits d’été mehr als verwundert sein. Au Cimetière verlangt nur zwei Flöten, zwei Klarinetten und Streicher; Flöte und Fagott sind oft einzeln besetzt, in Sur les Lagunes gibt es keine Oboe, in Villanelle und Au Cimetière keine Hörner, lediglich in Le Spectre de la rose kommt noch eine Harfe dazu. Die ganz nach innen gewandte, lyrische Innigkeit der sechs Lieder und ihre unspektakuläre Zurückhaltung waren vielleicht auch der Grund dafür, dass Berlioz in seinen Mémoires über die Nuits d’été kein Wort verliert und für ihre Entstehungszeit schreibt, es habe in in dieser Phase seines Lebens »kein musikalisches Ereignis gegeben, das es verdient hätte, erwähnt zu werden«.
Eine Pioniertat: Gabriel Faurés Bühnenmusik zu Pelléas et Mélisande
Das subtile clair-obscur der Gedichte Théophile Gautiers enthält bereits viele Elemente, die ein halbes Jahrhundert später im Symbolismus zu voller Blüte aufgehen – nicht nur in der Lyrik, sondern auch im Theater. Vor allem der Belgier Maurice Maeterlinck feierte mit seinen Dramen große Erfolge, zum Beispiel mit dem Fünfakter Pelléas et Mélisande, der in der Inszenierung von Aurélien Lugné-Poe am 17. Mai 1893 am Théâtre des Bouffes-Parisiens uraufgeführt wurde. Dass dieses Schlüsselwerk des Fin-de-siècle-Theaters heute kaum mehr gespielt wird, dürfte tatsächlich Claude Debussys Oper von 1902 geschuldet sein, deren Erfolg die französische Literaturwissenschaft dem Komponisten nie verziehen hat.»Die Art, wie Maeterlinck von Debussy um sein Meisterwerk Pelléas et Mélisande gebracht worden ist, stellt einen einzigartigen Fall in der Geschichte der dramatischen Literatur dar«, konstatiert etwa Pierre-Aimé Touchard voller Verbitterung. »Vergleichbar nicht einmal der Fall des Barbiers von Sevilla, denn wenn die bezaubernde Komödie von Beaumarchais wegen der Anziehungskraft von Rossinis Opera buffa einen Teil ihrer Zuschauer einbüßt, so ist es doch nicht um ihre Laufbahn geschehen, während Pelléas nicht mehr ohne die Untermalung der musikalischen Partitur gespielt wird; ja, es würde vielen als ein Frevel erscheinen, diese aufzuopfern.«
Dabei war Debussys Vertonung von Maeterlincks Drama weder die erste noch die letzte. Nach ihm folgten die Symphonische Dichtung op. 5 von Arnold Schönberg (1903) sowie die Bühnenmusik von Jean Sibelius (1905), und bereits 1898 hatte Gabriel Fauré für die englische Erstaufführung des Stücks eine 18-sätzige Bühnenmusik komponiert, deren Premiere er selbst am 21. Juni 1898 am Londoner Prince-of-Wales-Theatre dirigierte. Nun war Fauré durchaus kein »eingefleischter« Musikdramatiker, und entsprechend schwer hatte er sich mit dem Auftrag getan – übrigens ohne zu ahnen, dass Béatrice Stella Tanner, die Darstellerin der Mélisande, vom Opernprojekt Debussys erfahren und bei diesem angefragt hatte, ob er nicht aus dem Material seiner Oper eine »symphonische Suite« zusammenstellen könne … Auch wenn Fauré mit der Arbeit relativ zügig vorankam, hatte er schließlich keine Zeit – oder keine Lust? – mehr, alles zu orchestrieren; auf Grundlage eines auf drei bis vier Systemen notierten Particells übernahm sein Schüler Charles Koechlin die Aufgabe. Auf dessen Instrumentation beruht auch die viersätzige Orchestersuite, die Fauré 1901 aus seiner Schauspielmusik zusammenstellte und der Fürstin Edmond de Polignac widmete, einer alten Freundin und Mäzenin. Der ohrenfälligste Satz dieser Suite ist – als eines der berühmtesten Stücke Faurés –die Sicilienne, die 1893 ursprünglich als Teil einer Bühnenmusik für Molières Bourgeois gentilhomme entstanden war, dann (als Opus 78) für Violoncello und Klavier bearbeitet und schließlich in Pelléas et Mélisande übernommen wurde.
Die Bühnenmusik fand einige Beachtung und »trug wesentlich zu unserem Entzücken bei«, wie der Kritiker des Athenaeum anmerkte. Koechlin, der ebenso nach London gereist war wie Maeterlinck, der Komponist Reynaldo Hahn und die Fürstin de Polignac, notierte in seinem Tagebuch, »die geschmeidige und etwas unbestimmte Musik Faurés passte hervorragend zur [von John William Mackail] ins Englische übertragenen Dichtung Maeterlincks«. Erwähnt sei noch, dass La Fileuse (Die Spinnerin) zu einer Szene des dritten Akts gehört, die Debussy in seiner Oper gestrichen hat.
Michael Stegemann