Irdische Qual, himmlische Freuden
Gustav Mahlers Vierte Symphonie und eine Auswahl aus seinen Wunderhorn-Liedern
Dieses Gedicht ist mehr als nur Gedicht. Es ist Poésie pure und Glaubensbekenntnis, zeitlos, über alle religiösen Grenzen hinweg:
»O Röschen rot,
Der Mensch liegt in größter Not,
Der Mensch liegt in größter Pein,
Je lieber möchte ich im Himmel sein.
Da kam ich auf einen breiten Weg,
Da kam ein Engel und wollt mich abweisen,
Ach nein, ich ließ mich nicht abweisen.
Ich bin von Gott, ich will wieder zu Gott,
Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben,
Wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben.«
Kaum je zuvor (und auch kaum je danach) sahen sich menschliche Verzweiflung und zugleich Hoffnung triftiger, schlicht-wahrer in Worte gefasst als in diesen Versen aus dem zweiten Band der Volkslied-Sammlung Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano mit dem Titel Urlicht. Weil sie die ganze menschliche Tragik zeigen (die des Einzelnen wie die der Spezies), diesen schier unaushaltbaren Kampf zwischen Exzess und Balance, und weil sie offenbaren, was der Mensch mit sich macht, mit sich machen lässt, was er sich antut, und wie er immer zum Tode hinschielt, obwohl doch das Leben neben ihm geht.
Wegweisend: Die Volkslied-Sammlung Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano
Es darf nicht verwundern, dass Gustav Mahler ausgerechnet dieses »Lied« aus der zwischen 1806 und 1808 publizierten und viele Wege weisenden Anthologie Brentanos und von Arnims für jenes unglaublich zart-fragile Altsolo verwendete, das im vierten Satz seiner Auferstehungs-Symphonie die Welt zum Atemstillstand zwingt. Und ebenso wenig kann es überraschen, dass den Weltenerforscher Mahler die Wunderhorn-Sphäre ganz generell inspirierte, mit ihren mal liebreizend-naiven, mal übermütig-ausgelassenen, mal andächtig-sittsamen, mal romantisch-gemütvollen und dabei doch immer auch ein wenig wunderlichen Weisen.
Doch ist das Wunderhorn mehr als Ausdruck persönlicher Befindlichkeit. Die Sammlung darf in ihren Verästelungen durchaus als eine Reaktion auf die Bedrohung Europas durch Napoleon Bonaparte verstanden werden. Kaum zufällig fällt in die Zeit zwischen der Schlacht von Marengo (1800) und dem verwegenen Russlandfeldzug Napoleons (1812) eine Reihe von Dichtungen, die sämtlich dem imperialen Gebaren die Stirn boten und sich dabei in einer Hinwendung zum Verträumt-Nationalen (und national Verträumten) übten. Novalis schrieb in dieser Zeit an seinem Heinrich von Ofterdingen, Schiller wandte sich der Wilhelm-Tell-Legende zu, Tieck edierte das Volksbuch vom Leben und Tod der heiligen Genoveva, die Zeitschrift Phöbus brachte Kleists Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe heraus, und die Brüder Grimm legten ihre bald schon legendären Kinder- und Hausmärchen vor – sämtlich Schöpfungen aus dem Geist der von Herder postulierten Parole vom »Volksgeist« und von der »Volksdichtung«.
Auch Brentano und Arnim folgten mit dem Wunderhorn diesem ästhetisch-sozialen Appell der romantisch verfügten Rückbesinnung auf Traditionen. »Wir wollen«, heißt es, etwas altfränkisch aufgeschäumt, in dem von Arnim verfassten und als Wunderhorn-Kommentar gemeinten Aufsatz Von Volksliedern, »allen alles wiedergeben, was im vieljährigen Fortrollen seine Demantfestigkeit bewährt, nicht abgestumpft, nur farbespielend geglättet, alle Fugen und Ausschnitte hat zu dem allgemeinen Denkmahle des größten neueren Volkes, der Deutschen, das Grabmahl der Vorzeit, das frohe Mahl der Gegenwart, der Zukunft ein Merkmal in der Rennbahn des Lebens. Wir wollen wenigstens die Grundstücke legen, was über unsre Kräfte andeuten, im festen Vertrauen, daß die nicht fehlen werden, welche den Bau zum Höchsten fortführen, und Der, welcher die Spitze aufsetzt allem Unternehmen. Was da lebt und wird, und worin das Leben haftet, das ist doch weder von heute noch von gestern, es war und wird und wird seyn; verlieren kann es sich nie, denn es ist, aber entfallen kann es für lange Zeit [...]«
Das eigentliche Wunder am Wunderhorn bestand jedoch darin, dass es in jede Schicht der Gesellschaft eindrang. Was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass es keinerlei tiefer reichenden Bildung bedurfte, um sich in die Verse hineinzufühlen. Einer, der das zu würdigen wusste, war der Weimarer Dichterfürst. (Was ihm selbstredend auch gar so schwer nicht fiel, schließlich war die Sammlung »Sr. Exzellenz des Herrn Geheimerat von Goethe« zugeeignet.) In seiner Besprechung des ersten Wunderhorn-Bands in der Jenaischen Allgemeinen Zeitung heißt es: »Von Rechts wegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- oder Kochbücher zu liegen pflegen, zu finden seyn, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblick der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch allenfalls das Blatt ein paarmal umschlagen müßte.«
Zum Klingen gebracht: Mahlers Wunderhorn-Lieder
In dem Leipziger Haus, in dem Gustav Mahler acht Dezennien später Quartier bezog, wurde diesem hehren Wunsch Rechnung getragen. Nach eigenem Bekunden hat der Komponist die Sammlung dortselbst im Jahr 1887 kennengelernt. Fortan ließ ihn Des Knaben Wunderhorn nicht mehr los. Bis zum Sopransolo der Vierten Symphonie, sprich: bis zu jenen finalen und doppeldeutigen Zeilen »Wir genießen die himmlischen Freuden«, mit denen das ursprünglich auch als Der Himmel hängt voller Geigen betitelte Wunderhornlied anhebt, bewegt sich Mahler in dieser Sphäre. Sie bestimmt nicht nur seine ästhetischen Empfindungen, sondern es drückt sich darin eine Form von Weltanschauung aus, die nicht selten – und das mit bittersüßer Ironie – die Travestien des irdischen Lebens beschreibt. Und damit eben auch Mahlers lebenslange Seelenlage, die schier unaushaltbare Spannung zwischen den Extremen: hier das himmelhoch Jauchzende, dort das zu Tode Betrübte. Wie hatte er bereits am 17. Juni 1879 an Josef Steiner geschrieben: »Die höchste Glut der freudigsten Lebenskraft und die verzehrendste Todessehnsucht: beide thronen abwechselnd in meinem Herzen.«
In den Wunderhorn-Liedern findet er dafür hinreichende Entsprechungen. Doch etwas Wesentliches tritt hinzu, bricht sich in allen ersten vier Symphonien und in den Liedern Bahn: Es ist Mahlers beinahe erotisch verzückte, poetisch gesteuerte und gleichsam polytheistische Naturvergötterung, von der im erwähnten Brief die Rede ist: »Und ich muß sie lieben, diese Welt mit ihrem Trug und Leichtsinn und mit dem ewigen Lachen. O, daß ein Gott den Schleier risse von meinen Augen, daß mein klarer Blick bis an das Mark der Erde dringen könnte! O, ich möchte sie schauen, diese Erde, in ihrer Nacktheit, ohne Schmuck, ohne Zierde, wie sie vor ihrem Schöpfer daliegt.«
Polyfonie nicht nur der Weltanschauung, sondern mehr noch – der Gefühle: Gerade in seinen vier Wunderhorn-Symphonien und den Wunderhorn-Liedern bringt Mahler diese weithin mäandernde Vielstimmigkeit im Menscheninnern gleichsam zum Klingen. Hier kann man hören, wie die Welt tönend bewegte Form ist (nicht aber, was sie im Innersten zusammenhält). Und nicht das abstrakte Gebilde ist gemeint, sondern die Welt in all ihren unverstellten Konkretionen, in ihrem Durch- und Miteinander aus Holdem und Dreistem, Keckem und Scheuem, aus Liebeslied und Totenklage, aus Tanz und Lärm und Gefühlsüberschwang, ja und auch aus Stille und Einkehr. Oder wie Theodor W. Adorno es in typischer Diktion zum Ausdruck gebracht hat: Mahlers Symphonik »hascht nach unreglementierten Stimmen des Lebendigen bis zum Abschiedsgesang des Lieds von der Erde, den es ins Amorphe zieht«.
Alle Fäden laufen zusammen: die Symphonie Nr. 4 G-Dur
Was den Tonschöpfer dabei besonders fasziniert, ist das Gleichzeitige der Entäußerungen. So auch in der G-Dur-Symphonie, an deren Ende bereits erwähntes Wunderhorn-Lied steht und für die eine Sentenz des Musikologen Paul Bekker gelten darf, welche dieser mit Blick auf Mahlers symphonisches Œuvre formuliert hat: »Lied und Monumentaltrieb streben bei Mahler zueinander. Das Lied wird aus der Enge subjektiven Gefühlsausdrucks hinaufgehoben in die weithin leuchtende, klingende Sphäre des sinfonischen Stiles. Dieser wiederum bereichert seine nach außen drängende Kraft an der Intimität persönlichsten Empfindens. Dies erscheint paradox, und doch liegt in solcher Vereinigung der Gegensätze eine Erklärung für das seltsame, Innen- und Außenwelt umspannende, Persönliches und Fernstes in seinen Ausdrucksbereich einbeziehende Wesen Gustav Mahlers.«
In der Vierten wird das evident. Wie ebenfalls die Tatsache, dass Mahler mit dieser seiner letzten Wunderhorn-Symphonie eine Humoreske komponieren wollte, und das in sechs Teilen. Der frühe Entwurf verrät eine dramaturgisch definierte Struktur; jeder von dessen einzelnen Sätzen erhielt eine Art Programm. Die Welt als ewige Jetztzeit war der erste in G-Dur gesetzte überschrieben; es schlossen sich die Abschnitte Das irdische Leben in es-Moll, ein Caritas-Adagio in H-Dur und die Morgenglocken (F-Dur) an, gefolgt von dem D-Dur-Scherzo mit dem Titel Die Welt ohne Schwere sowie, gleichsam als klingende Utopie, Das himmlische Leben, wieder in G-Dur. Mahler behielt diesen Plan jedoch nicht bei. Die Symphonie geronn zum viersätzigen Werk, die mit der Ursprungsidee lediglich die Haupttonart, mit großer Wahrscheinlichkeit den Kopfsatz sowie das Finale gemeinsam hat.
Keim der Symphonie ist das Lied, alles erwächst aus dieser Kunstform. Entsprechend licht klingt die Vierte über weite Strecken, bei allen semantischen und idiomatischen Unterschieden zwischen den einzelnen Sätzen. Gedacht ist die Komposition, an der ihr Schöpfer bis kurz vor Lebensende immer wieder aufs Neue feilte, gleichsam von ihrem Ende her: Alle Fäden laufen im Finale nicht nur zusammen, sie sind hier wie von Geisterhand gesponnen. Und so fein, dass die Vierte nicht nur die hellste, sondern auch die unter allen symphonischen Werken Mahlers im höchsten Maße feinnervig instrumentierte ist. Das Blech besteht »nur« aus vier Hörnern und drei Trompeten, in den Holzbläsern dominiert (mit Ausnahme der Flöten) eine Dreifach-Besetzung. Auch was die Ausmaße der Symphonie angeht, war eine Reduktion gegenüber dem Vorgängerwerk intendiert: Mit kaum einer Stunde ist sie relativ überschaubar und vergleichsweise konventionell gegliedert: Auf einen Kopfsatz in der klassischen Sonatenhauptsatzform (mit dem zentral verankerten Schellenmotiv zu Beginn) folgen ein knappes Scherzo sowie ein ausgedehnter langsamer Variationssatz (»Ruhevoll«); nur das Liedfinale sprengt den traditionellen Rahmen ein wenig.
Auffällig in allen Sätzen ist die Abkehr von jedwedem romantischen Pathos. In den ersten beiden Sätzen schimmern mehr als deutlich die Vorbilder Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert hindurch. Das Riesenhaft-Überbordende der Symphonien 1 bis 3 weicht einer klassizistischen Einfachheit, wie man sie sonst bei Mahler nicht findet. Alles ist klarer gefügt: die Themen, die Überleitungen zwischen ihnen, die satzimmanenten Strukturen. Eine Symphonie wie ein Lied-Zyklus, ohne zerfurchte Introduktionen wie in der Dritten, ohne die religiöse Inbrunst der Zweiten, ohne titanische Momente wie in der Ersten. Und doch klingt, zumal im Kopfsatz, alles ein bisschen wie eine Referenz an das, was davor war.
Adorno hat darauf hingewiesen, dass jede mahlersche Symphonie die Frage in den Raum stellt, »wie aus den Trümmern der musikalischen Dingwelt lebendige Totalität werden kann«. Und er hat die Antwort gleich mitgeliefert: »Nicht trotz des Kitschs, zu dem sie sich neigt, ist Mahlers Musik groß, sondern indem ihre Konstruktion dem Kitsch die Zunge löst, die Sehnsucht entbindet, welche der Kommerz bloß ausbeutet, dem der Kitsch dient. Der Verlauf von Mahlers symphonischen Sätzen entwirft Rettung kraft der Entmenschlichung.« So ist es, allerdings dialektisch ins Positive gewendet, auch in der Vierten: Alles strebt zum Lichtfinale hin. Die eindrücklichste Beschreibung dieses Satzes, der die Idee (und Idealität) der gesamten Symphonie enthält, verdanken wir Paul Bekker: »Aus Kindheitsträumen steigt das Bild einer fernen, unsäglich friedvollen, unbeschwerten Welt auf. Eine herrlich einfältige Landschaft zeigt sich […] Anmutiger Reigen, Tanz und Gesang ist das ganze Dasein. Über alles hinweg aber tönt eine unsagbar zarte und liebliche Musik, wie sie nie auf Erden vernommen worden ist. Dieses Weltbild, unerreichbar jeder Trübung, heiter schwebend in wolkiger Ferne, wird für Mahler die Grundlage seines neuen Lebensbilds und weitet sich nun vom schmucklosen Lied zum großen, viergliedrigen sinfonischen Gebilde.« Worte, die mehr sind als Worte – Poésie pure.
Jürgen Otten