Meditationen über die Zivilisation
Musikalische Abenteuer mit Edgard Varèse und Richard Strauss
Ungeahnte Entdeckungen: Mit Edgard Varèse in neue Welten
Ende 1915 beschloss der 32-jährige Edgard Varèse, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Gerade erst hatte er eine doppelseitige Lungenentzündung überstanden, der er es immerhin verdankte, seinen Kriegsdienst in der französischen Armee quittieren zu dürfen. Vor allem aber musste er eine berufliche Katastrophe verkraften. 1908 war er aus seiner Heimatstadt Paris, wo er bei Vincent d’Indy, Albert Roussel und Charles-Marie Widor studiert hatte, nach Berlin gezogen. Dort trat er mit Ferruccio Busoni in Kontakt, dem »Zukunftsmusiker« und maßgeblichen Theoretiker seiner Zeit, stand in enger Tuchfühlung mit Richard Strauss und Arnold Schönberg, konnte sich als Lehrer einen guten Namen machen. Auch mit ersten Kompositionen verzeichnete der Franzose Erfolge, etwa mit seiner großen Tondichtung Bourgogne, die das Berliner Blüthner-Orchester zur Uraufführung brachte. Und eine Ödipus-Oper nach Hugo von Hofmannsthal war schon weit gediehen. Doch dann brach der Weltkrieg aus und Varèse wurde in Frankreich zum Militär eingezogen; seine Manuskripte ließ er allesamt in Berlin zurück – er würde ja wiederkommen, glaubte er. Doch in seinem Berliner Wohnhaus brach bald darauf ein Feuer aus und vernichtete alles, war er bis dahin geschaffen hatte. Mit einem Schlag war er ein Komponist ohne Œuvre.
Edgard Varèse trat die Flucht nach vorn an und übersiedelte in die Vereinigten Staaten, nach New York, wo er am 29. Dezember 1915 eintraf. Nur 80 Dollar hatte er in der Tasche, aber da er aus seiner Berliner Zeit etliche amerikanische Musiker kannte, fiel es ihm nicht schwer, berufliche Kontakte zu knüpfen. Zunächst übernahm er Instrumentierungen für Broadway-Shows und erstellte Arrangements fürs Kino, doch bald reüssierte er auch als Dirigent und konnte 1919 sogar sein eigenes Orchester gründen, das New Symphony Orchestra. Nicht zuletzt aber suchte er nach einem neuen kompositorischen Konzept, mit dem er die Tonkunst aus ihren bisherigen Fesseln befreien wollte. Und da brachte ihn seine neue Umgebung auf eine bahnbrechende Idee.
In seiner Wohnung am Hudson River in Manhattan bekam Varèse nämlich eine Klangwelt zu hören, die ihn zunehmend fesselte – und zu einem Orchesterwerk in gigantischer Besetzung inspirierte, zu seinen Amériques, die zwischen 1918 und 1921 entstanden. »Als ich Amériques schrieb, befand ich mich noch in der Phase meiner ersten Eindrücke von New York – nicht des sicht-, sondern des hörbaren New York«, erklärte Varèse. »Zunächst hörte ich einen Klang, der mich an meine Träume als kleiner Junge erinnerte: ein hohes pfeifendes Cis. Ich hörte es, als ich in meinem West Side Apartment arbeitete, wo ich alle Geräusche des Flusses vernahm – die einsamen Nebelhörner, die schrillen, energischen Pfeifen, die ganze wundervolle Fluss-Symphonie, die mich mehr bewegte als irgendetwas jemals zuvor.« Diese Klangkulisse griff er in seiner einsätzigen Tondichtung auf, die einerseits als Hommage an das Land zu verstehen ist, das ihn aufgenommen hatte. Doch andererseits ging es Varèse nicht um Geografie oder ein musikalisches Abbild des Hudson, sondern um etwas Visionäres, um den Inbegriff von Aufbruch. Weshalb er sein Werk auch nicht »L’Amérique« nannte – er wählte vielmehr die Pluralform Amériques, »Die Ameriken« also. Denn das zweite Amerika, um das es ihm ging, war die Terra incognita, die er musikalisch erobern wollte: das tönende Neuland.
»Als ich ein Junge war, bedeutete das bloße Wort ›Amerika‹ so viel wie alle Entdeckungen, alle Abenteuer. Es war das Unbekannte«, schilderte Varèse den Hintergrund. In diesem Sinn nahm er in Amériques »neue Welten« ins Visier, »auf der Erde, am Himmel oder im menschlichen Geist«. Das Werk beginnt mit einer Flötenmelodie, die, fast manisch, gleich siebenmal wiederholt wird. Vielleicht denkt man dabei an das eröffnende Fagottsolo aus Strawinskys Le Sacre du printemps, selbst Debussy scheint noch mit hinein zu klingen, und doch beschreitet Varèse ganz eigene Wege. Das fängt schon mit der gigantischen Orchesterbesetzung an: Für die Urfassung, die im heutigen Konzert erklingt, sah er fast 150 Musiker vor, die Holzbläser fünffach besetzt, acht Hörner, sechs Trompeten, fünf Posaunen, zwei Tuben. Und natürlich ein riesiges Schlagzeugarsenal, mit Instrumenten, die teilweise noch nie auf dem Konzertpodium zu hören gewesen waren: darunter Pfeifen wie die Steamboat Whistle oder die Cyclone Whistle, dann das Lion’s Roar, also Löwengebrüll, aber auch Peitschen und Ratschen, Paradetrommeln und Schellen und – ganz wichtig – eine Sirene.
Dieses pneumatische Gerät darf in Amériques insgesamt 25 Mal aufheulen und symbolisiert mit seinem an- und abschwellenden Ton ein wesentliches Moment, das Varèse hier verwirklichen wollte: die Überwindung der fixierbaren Tonhöhe und damit auch der Tonalität. Stufenlos schießt die Sirene durch den Tonraum, wie eine Rakete nach oben in die Stratosphäre, um danach abzustürzen und auf den Grund zurückzukehren. Genau diesen Effekt verstärkt er im übrigen Instrumentarium durch etliche Glissandi, Triller oder auch Vierteltonexperimente. Hinzu kommen wirbelnde Rhythmen, eine explosive Dynamik, heftige Klangausbrüche – ein ständiger Wechsel der Gestalten, Geschwindigkeiten und Richtungen. Das volle Orchester setzt der Komponist dabei nur selten ein; stattdessen dominiert ein trennscharfer Klang, bei dem die einzelnen Instrumentengruppen sich abwechseln oder gegeneinander geführt werden.
Amériques gelangte erstmals am 9. April 1926 mit dem Philadelphia Orchestra unter Leopold Stokowski zu Gehör – es kam zu heftigen Tumulten im Publikum. Da ihr Schöpfer wusste, dass sein aufwändiges Werk für viele Orchester kaum zu realisieren war, legte er im Folgejahr alternativ eine revidierte Fassung vor, die mit einer kleineren Besetzung und kürzeren Spieldauer auskommt. Allen Kritikern, die ihm vorwarfen, bloß Alltagsgeräusche abgebildet zu haben, gab er Kontra – und den Exegeten einen wichtigen Schlüssel zur Deutung an die Hand: »Diese Komposition ist die Wiedergabe eines inneren Zustands«, schrieb Varèse. »Alles in allem ist der Inhalt eine Meditation und zwar über die Empfindung, die ein Fremder hat, wenn er sich über die außergewöhnlichen Möglichkeiten unserer heutigen Zivilisation freut.«
»Wieviel man unter sich fühlt!«: Mit Richard Strauss in die Alpen
Auch für Richard Strauss mag die Umgebung eine wichtige Rolle gespielt haben, als er seine Alpensinfonie schuf: Er musste nur aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in Garmisch schauen – und schon hatte er das Zugspitzmassiv und das Wettersteingebirge im Blick. Doch diese spektakuläre Kulisse dürfte nicht der eigentliche Auslöser für seine großangelegte Tondichtung gewesen sein, die ihn gedanklich viele Jahre beschäftigte, ehe er sie zwischen 1911 und 1915 ausarbeitete. Das Initialerlebnis empfing er wohl bereits als 15-Jähriger, im August 1879, als er eine ganztägige Bergtour am Walchensee unternahm und dabei den 1800 Meter hohen Heimgarten bestieg. Mitten in der finsteren Nacht war er damals mit einigen Wanderfreunden aufgebrochen und hatte nach fünf Stunden den Gipfel erreicht, der ihm eine atemberaubende Aussicht über die Seenlandschaft und ins Isartal bot. Der Abstieg aber geriet beschwerlich: Die kleine Gruppe verirrte sich, musste in den heißesten Mittagsstunden nach dem richtigen Weg suchen, wurde dann von einem Gewittersturm überrascht und erreichte völlig durchnässt und erschöpft ihr Nachtquartier. An seinen Freund Ludwig Thuille schrieb er danach: »Am nächsten Tage habe ich die ganze Partie auf dem Klavier vorgestellt. Natürlich riesige Tonmalereien u. Schmarren (nach Wagner).«
Dass Strauss Jahrzehnte später noch etwas von diesen übermütigen Improvisationen am Klavier in seine Alpensinfonie übernommen haben könnte, ist äußerst unwahrscheinlich – er hatte seine Einfälle ja nicht schriftlich festgehalten und vermutlich längst wieder vergessen. Dennoch fällt auf, wie sehr das Programm des Werks an die wechselvolle Bergtour von 1879 erinnert. Über 22 Stationen, vom Aufstieg der Sonne bis zu ihrem Untergang, schickt uns der Komponist in die alpine Sommerfrische. Die musikalische Wanderung beginnt deshalb, ganz wie ihr reales Vorbild, noch in der Nacht, in der nebligen Dämmerung, die Strauss mit verschatteten Klängen illustriert und mit clusterartigen Tontrauben. Umso prachtvoller, in strahlendem, gleißendem A-Dur, kann anschließend die Sonne aufgehen.
Strauss geizt ohnehin nicht mit naturalistischen Effekten, um den Weg seiner Wanderer plastisch in Szene zu setzen: Wenn sie den Wald betreten, ertönt der Schall der Jagdhörner; wenn sie am Wasserfall vorbeikommen, spielen die Geigen mit Springbogen und sorgen zu rauschenden Harfenklängen für glitzernde Tropfen und Wasserschleier. Auf der Alm läuten die Herdenglocken, auf dem Gletscher lassen die Trompeten in höchster Lage den Firn flimmern, bei Gewitter- und Sturm kommen Donnerblech und Windmaschine zum Einsatz. Auch sinnbildliche Verfahren setzt Strauss ein, um seine Ideen plausibel zu realisieren: etwa wenn sich die Gruppe zu den Klängen einer verworrenen Fuge im Gestrüpp verirrt. Und natürlich greift er in seiner Partitur auf die Klangpalette eines gewaltigen Orchesterapparats zurück: 64 Streicher, jeweils vierfach besetzte Holzbläser, acht Hörner auf der Bühne und noch einmal zwölf als Fernorchester, dazu vier Trompeten, vier Posaunen, zwei Basstuben, idealiter vier Harfen und außerdem noch Orgel, Celesta und ein riesiges Schlagwerk sah Strauss für die Aufführung vor. Und mit diesem Equipment ließen sich dann gewaltige Steigerungskurven und Klangeruptionen ausführen.
Aber eines ist merkwürdig: Normalerweise dürfte man erwarten, dass der dynamische Höhepunkt beim Erreichen des Gipfels erfolgt – doch Strauss entscheidet sich für genau das Gegenteil. Ganz oben, über den Wolken, ist in der Alpensinfonie kein triumphierender Jubel zu vernehmen, keine Ekstase, sondern eine ganz verinnerlichte Musik. Warum hatte er ausgerechnet diese überraschende Volte gewählt? Bei der Antwort stößt man auf den philosophischen Überbau des Werks. Als Strauss 1899 und 1900 die ersten Ideen zu dem Projekt skizzierte, das er ursprünglich als viersätzige Symphonie geplant hatte, ließ er sich noch ganz von Friedrich Nietzsche leiten. Genauer gesagt, von Nietzsches später Schrift Der Antichrist, in dessen Vorwort es heißt: »Man muß geübt sein, auf Bergen zu leben – das erbärmliche Zeitgeschwätz von Politik und Völker-Selbstsucht unter sich zu sehn.« Nicht von ungefähr hatte Strauss den Titel Der Antichrist auch lange Zeit für sein alpines Tonpoem vorgesehen.
In einem anderen Werk Nietzsches, in Ecce homo, stieß er auf eine metaphorische Auslegung des Bergs bzw. des Gipfels. Darin bekannte der Philosoph, dass bereits sein Denken eine Art Gipfelerlebnis darstelle: »Wer die Luft meiner Schriften zu atmen weiß, weiß, daß es eine Luft der Höhe ist«, führt Nietzsche dort aus. »Die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Licht liegen! Wie frei man atmet: Wieviel man unter sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen […] alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann getan war.« Durch die christliche Moral, sollte man hier vielleicht noch ergänzen.
Richard Strauss übertrug diese Gedanken auf die konkrete Kulisse der Bergwelt und deutete die Gebirgswanderung als Symbol für das menschliche Streben nach oben: nach einer Überwindung von Hindernissen, nach Sinnerfüllung durch Leistung. Auf dem Gipfel verspürte er genau wie Nietzsche, »wieviel man unter sich fühlt«. Er glaubte sich vom Alltag enthoben, fühlte sich geläutert – und exakt diese Empfindungen spiegelt die Musik, die er im 13. Abschnitt seiner Alpensinfonie, auf dem geografischen Höhepunkt der Exkursion, zu Gehör bringt. »Mir ist absolut deutlich, dass die deutsche Nation nur durch den Abschied vom Christentum neue Tatkraft gewinnen kann«, notierte Strauss mit Bezug auf Nietzsche in seinem Schreibkalender. Und dann folgt der bemerkenswerte Satz: »Ich will meine Alpensinfonie: den Antichrist nennen, als da ist: sittliche Reinigung aus eigener Kraft, Befreiung durch die Arbeit, Anbetung der ewigen herrlichen Natur.«
Nun, man schrieb das Jahr 1911, als Strauss diese Worte, die nach den Erfahrungen der NS-Zeit furchtbare Assoziationen wecken, zu Papier brachte. Dass er die Herrlichkeiten der gewaltigen Natur als positiven Gegenentwurf zur christlich-bürgerlichen Gesellschaft mit ihren fragwürdigen moralischen Gesetzen sah, ist unstrittig. Noch 1915 bemerkte er in einem Brief an den Dichter Hugo von Hofmannsthal: »Ich habe trotz allem die Hoffnung an eine bessere Menschheit noch nicht aufgegeben, vielleicht wenn einmal das Christentum von der Erde verschwunden ist.« Was immer von all dem zu halten ist: Möglicherweise war Strauss doch gut beraten, dass er im letzten Moment den weltanschaulichen Aspekt aus dem Titel eliminierte und den neutraleren Namen Eine Alpensinfonie wählte. Denn so erlaubt er uns, sein prachtvolles Tongemälde einfach als solches zu hören, frei von allen Gesinnungsfragen. Und lässt uns in einer virtuosen Orchestermusik schwelgen, über die er noch 1948, ein Jahr vor seinem Tod, urteilte: »Sie klingt aber auch zu gut!«
Susanne Stähr