Nobel, verführerisch, rhythmisch expressiv und transatlantisch
Zehn Jahre Bolero Berlin
Wer als Orchestermitglied und klassisch geschulter Kontrabassist, Bratscher, Schlagzeuger oder Klarinettist jahraus, jahrein mit den weihrauchdampfenden Karawanen philharmonischer Schlachtrösser durch die Musikwelt zieht, erwacht hin und wieder mit dem rätselhaften Bedürfnis, sich Abwechslung vom Wahren, Guten, Schönen zu verschaffen. Insofern verwundert es, dass das einzige veritable Crossover-Ensemble der Berliner Philharmoniker erst zehn Jahre besteht, während der Wunsch nach weniger erhabenen Klängen, als der philharmonische Dienstplan größtenteils vorsieht, bei unseren feiernswerten Jubilaren – und nicht nur diesen – doch schon früher erwacht sein dürfte.
Die genaueren Umstände, die zur Gründung von Bolero Berlin führten, waren trotz eingehender Recherche nicht mehr zu ermitteln. Vielleicht hatte ja auch ein gediegener Zufall seine Hände im Spiel. Fest steht, dass die von außerhalb der philharmonischen Beschäftigungslandschaft hinzu getretenen Instrumentalisten – der Gitarrist Helmut Nieberle und der Perkussionist Topo Gioia – das Spektrum des angestrebten Repertoires auf staunens- und bewundernswerte Weise bereicherten.
Um dem Geheimnis des Bolero Berlin auf die Spur zu kommen, habe ich mich einige ersprießliche Stunden lang mit den Originalen hinter den fürs heutige Programm auserwählten Musiktiteln beschäftigt und kann nun nachvollziehen, warum sich derart geschmackssichere Musiker – vermöge ihrer immer noch anwachsenden kreativen Neugier auf stilübergreifende Entfaltungsgebiete – die Gelegenheit nicht entgehen ließen, die heute Abend angebotenen Kostbarkeiten auf geweihtem Bühnenboden vorzustellen.
Becirct von Consuelo Velázquez: »Besame mucho«
In der Absicht, Ihnen den Übergang zum ersten Titel, dem legendären »Besame mucho«, atmosphärisch zu erleichtern, möchte ich mit dem folgenden Ansagetext beginnen:
Als ich das erste Mal an ihrem windschiefen Pueblo vorbeiritt, schaute sie mich an, als mache sie mich für das Abschmelzen der Polkappen verantwortlich. Aber irgendetwas in ihrem Blick ermunterte mich, sie anzusprechen. Noch Monate später machte sie sich über diesen auf Spanisch vorgebrachten Annäherungsversuch lustig. »Willst du mein Nebenarm werden, süße Zimtbaracke?«, muss ich gesagt haben – dabei war ich mir meiner Aussprache so sicher gewesen. Ihre Antwort war ein Gelächter, dem keine Zahnspange standgehalten hätte. Aber ich hatte das Eis auf der Oberfläche ihrer gefrorenen Seele angetaut ...
Consuelo Velázquez war eine Dichterin von höchstem Rang, obwohl sie bis zu ihrem 20. Lebensjahr außer Texten auf Erdnussdosen kaum etwas zu lesen bekommen hatte. Gleich ihr erstes Liebeslied an mich endete denn auch mit den Zeilen:
Ich bin für dich, mein Freund,
ziehst du mich in Erwägung,
mindestens haltbar bis:
(siehe Deckelprägung).
Ihr zweites Lied war ein weltentiefer Schrei nach Zärtlichkeit und Liebe, und mit den darin besungenen Küssen bedeckte sie alles, was damals noch von mir übrig war: »Besame mucho!«
Eine solche, völlig informationslose Prosaszene soll dafür sorgen, dass sich das Publikum während der Lektüre auf das nächste Musikstück freut und umgekehrt. Ähnlich verhält es sich auch mit allen folgenden Texten, von denen allerdings mangels geeigneter oder verfügbarer Informationsquellen nicht nur sachdienliche Erkenntnisse zu erwarten sind.
Es muss nicht immer Bizet sein – Lionel Belascos Carmencita
Diese charmante Mischung aus Walzer und Calypso zeichnet in Notenschrift das abenteuerliche Künstlerleben Lionel Belascos nach, der als Spross einer afro-karibischen Mutter und eines sephardisch-jüdischen Vaters zwischen seiner westindischen Heimat Trinidad und der Tonabnehmer-Metropole New York fluchtartig hin und her pendelte, weil er eine seiner Klavierschülerinnen, Tochter des britischen Gouverneurs, auch in andere Geheimnisse als die des Klavierspiels einweihte. Mit dem afro-disiakischen Feuer der Karibik durchglühte er die kühle Eleganz europäischer Liebeslieder und widmete das Ergebnis noch anderen unbescholtenen Damen wie der hier vertonten Carmencita, die er dadurch – an seiner Seite – in die Unsterblichkeit entließ.
»Sinnbetörend«: Django Reinhardts Troublant Boléro
Wenn man sich – die Übersetzung von »troublant« mit »verwirrend, beunruhigend« im Kopf – dem Hörgenuss dieses ungewöhnlicherweise im Viervierteltakt voranschreitenden Bolero hingibt und sich ausmalt, es handele sich um die musikalische Unterlegung einer verfilmten Liebesszene, dann ahnt man schon, dass diese Geschichte einer partnerschaftlichen Zuwendung nicht ohne seelische Verwerfungen ausgehen dürfte. Als »ensorcelant« – also »verführerisch« oder »sinnbetörend« – bezeichnet auf YouTube der französische Radiosprecher dieses Stück des unerreichten Jazzgitarristen Django Reinhardt. Lehnen wir uns behaglich zurück – soweit im Kammermusiksaal möglich – und genießen die wehmutsvoll pulsierende Begleitmusik zu einem Seelendramolett, an dem man allenfalls im Traum gern selber beteiligt wäre.
Klagen und tanzen: zwei brasilianische Impressionen von Helmut Nieberle
»Klageliedchen nach Art des Hauses« könnte man das übersetzen, was Helmut Nieberle im vorliegenden Titel aus diesem brasilianischen Lamento gemacht hat. Belascos Carmencita vergleichbar, verbindet auch der Choro europäische Tänze wie Polka oder Walzer mit afroamerikanischen Fortbewegungsrhythmen und setzt sie der Fantasie hochmotivierter Improvisatoren aus, meist mit beglückenden Ergebnissen. Als Endverbraucher widmet man sich dem Choro am besten bei einer Karaffe Caipirinha im Kreise lieber Freunde, die man an Stränden wie der Praiade Jericoacoara um sich versammelt, damit jemand in der Nähe ist, der uns wieder auf die Beine hilft, wenn wir nach dem vierten Cocktail merken, dass in Schnaps getränkte Limonen nicht so gesund sind, wie sie sich beim ersten Schluck anhören. Der Choro lässt die grundlose Fröhlichkeit der Brasilianer am Beispiel ihrer Musik erahnen – vielleicht sollte man den Bundestag einfach öfter an der Copacabana tagen lassen!
Dem Äquator näher als der Donau dürfte auch Helmut Nieberles Choro Waltz sein, der sich zumindest dem Titel nach am Valsa Chôro des Brasilianers Heitor Villa-Lobos orientiert. Angetrieben werden beide Kompositionen vom rhythmisch befeuerten Bewegungsdrang ihrer Zielgruppe: Tanzen ist in Lateinamerika von lebensbestimmender Bedeutung, und in der Vereinigung von Choro und Walzer finden wir hörenswerte Beispiele dafür, dass Wehmut und Muskelkater den Tanzenden auf dem Fuß folgen.
Piazzolla polyfon: Fuga y Misterio
Wer schrieb die flottesten der Fugen,
die je den Tango bachwärts trugen?
Natürlich Meister Piazzolla,
der eine Sammlung wundervoller,
fein rhythmisierter Stücke schuf
und damit seinen guten Ruf
(Geniestreiche gibtʼs nie genug!)
im Tangoschritt durchs Leben trug.
Die Fuge als Mysterium:
genieße sie, o Publikum!
Gedankenkarussell – Michel Legrands Windmills of Your Mind
Round
Like a circle in a spiral
Like a wheel within a wheel
Never ending or beginning
On an ever spinning reel
Like a snowball down a mountain
Or a carnival balloon
Like a carousel thatʼs turning
Running rings around the moon
Like a clock whose hands are sweeping
Past the minutes of its face
And the world is like an apple
Whirling silently in space
Like the circles that you find
In the windmills of your mind
Das seit seiner Erstpräsentation im Jahre 1968 rotierende »Gedankenkarussell«, wie man den Originaltitel The Windmills of Your Mind übersetzen könnte, bringt unsere musikalischen Wunschträume in eine wohlig schlingernde Umlaufbahn und bestätigt überdies die Behauptung, dass es durchaus Schlager und Schlagertexte von hohem intellektuellen Niveau gibt. Melodiöse Windmühlen, die unsere geistigen Tätigkeiten anfachen, erzeugen angenehmere Geräusche als der Luftzug der Ventilatoren, die als »Flügel der Verblödung« in Ödön von Horvaths Roman Jugend ohne Gott kursieren und deren allgegenwärtiges Schwirrgeräusch so manchen Schlagerkonsumenten ein Leben lang umfächeln. Schlagerstar Vicky Leandros hat bei der Eindeutschung dieses Welterfolgs unverhofft eine Übersetzung benutzt, die dem Anspruch des Originals ebenso gerecht wird wie unserer Vermutung, dass in einem Kammermusiksaal tiefer empfunden werde als in einem Sportstadion.
Und ich fühle, wie ein Augenblick
zur Ewigkeit gerinnt,
wenn das Spinnrad meiner Träume
längst zerissʼne Fäden spinnt
und sich leisʼ zu drehʼn beginnt,
wie sich Mühlen drehʼn im Wind.
Aber noch viel schöner klingt natürlich die Instrumentalfassung, die uns heute Abend die Sprache verschlagen wird.
Noble Damen und noble Walzer – Alfa Romeo und Maurice Ravel
Neugierig macht schon der wortspielerische Titel dieses Stückes, der uns nahelegen will, der Komponist des Rigoletto habe Alfa Romeo geheißen und die berühmte Klage des Herzogs von Mantua »Ach wie so adelig« beim Ölwechsel aufgeschrieben. Unsere Korrespondenten in Bad Kissingen lassen in einer Symbiose aus Gerücht und Andeutung auf Anfrage verlauten, dass es sich bei diesem Stück um die Umwandlung der herzoglichen Kanzone in einen Calypso aus dem australischen Regenwald handelt. Auszüge aus den Fiat-Werken oder dem kompositorischen Nachlass von Harley Davidson werden vermutlich nicht lange auf sich warten lassen.
Auf die noble Dame folgt ein nobler Walzer aus der Feder Maurice Ravels, der – das heimatliche Baskenland im Rücken – die Liebe zum Wiener Walzer gleich mehrfach in anbetungspflichtige Kompositionen verwandelte. Mit »Assez lent« (ziemlich langsam) ist der zweite von acht in der Klavierkomposition Valses nobles et sentimentales versammelten Walzern überschrieben, die Ravel später eigenhändig orchestrierte. »Avec une expression intense« (mit intensivem Ausdruck) fügte der Meister hinzu sowie »doux et expressif« (süß und ausdrucksvoll), »très expressif« oder »mystérieux« – wir sind gespannt, wie der Bolero-Experte Raphael Haeger diesen beschwörenden Forderungen in seiner Bearbeitung nachkommt.
Dem Wohlklang nicht abhold – Hermeto Pasqoal und Richard Wagner
Hermeto Pasqoal – der Erneuerer des Choro – ist ein mittlerweile 82-jähriger Brasilianer, der als Kind zum häuslichen Musizieren auf Papas Akkordeon gezwungen war, weil er als lichtempfindlicher Albino nicht wie alle übrigen Familienmitglieder Feldarbeit verrichten konnte. Welche traumatischen Erlebnisse den heute hochberühmten Welt(klasse)musiker mit dem Baby verbinden, das es beim Überqueren der Notenlinien bis zum Titelhelden [einer] der Jazzkomposition Bebê brachte, bleibt bis zum Ende des Stücks unklar.
Nicht erst seit Carl Merzʼ und Helmut Qualtingers Wagner-Parodie Siggy and Bess oder Der Swing des Nibelungen aus den 1960er-Jahren arbeiten sich Kabarettisten an den Werken Wagners ab, ohne mehr als ein paar Kratzer am ehernen Denkmal dieses weihevoll waltenden wonneschöpfenden Weltenwanderers zu hinterlassen.
Nehmt hin des Wolframs weisen Gruß:
O du mein holder Abend-Blues!
Die Wüste liebt: Caravan von Juan Tizol und Duke Ellington
Komponiert vom Posaunisten Juan Tizol (1900 – 1984) und verfeinert von Duke Ellington (1899 – 1974), wurde der legendäre Jazz-Standard Caravan aus dem Jahre 1936 von Irving Mills mit einem Text unterlegt, der es mit der Beliebtheit des instrumentalen Originals letztendlich nicht aufnehmen konnte. Immerhin erfahren wir aus diesen Versen, dass es hier um ein im Sande verlaufendes Paarungsidyll geht: Allmählich verblassende Sterne umfunkeln ein Liebespaar, das im Schutze der rastlosen Karawane Schulter an Schulter vom gemeinsamen Leben im Rampenlicht der Dünenaufbauten träumt. Ein großer Abend für das Sandmännchen also. Helmut Nieberle hat den swingenden orientalischen Ohrwurm in einem anspruchsvollen Trittmuster auf die Strecke geschickt. Um mitzukommen, müssen Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer, ein paar Minuten lang rasend schnell bis Sieben zählen... – und schon sind wir bei den Zugaben.
Klaus Wallendorf