Das zweite Leben der Klaviermusik
Sonaten, Sätze, »Solos«: von Beethoven, Schumann und Prokofjew
»Schweres Herz hat leichten Sinn«
Der Züricher Verleger Hans Georg Nägeli rannte sperrangelweit offene Türen ein, als er Ludwig van Beethoven um »Clavier-Solos in grossem Styl, von grossem Umfang, in mannichfaltigen Abweichungen von der gewöhnlichen Sonaten-Form« bat. Beethoven komponierte für ihn 1802 die drei Klaviersonaten Opus 31. »allein Freyheit, und weiter gehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen schöpfung, zweck«, lautete sein kreatives Credo: ein Bekenntnis, das die Individualität des Werks verlangt und verteidigt, nicht dessen Klassizität und Allgemeingültigkeit. Beethoven erfand die Sonate, jede Sonate, neu, einzigartig und unwiederholbar.
Wenn wir Carl Czernys Zeugnis trauen dürfen, kam Beethoven das Thema zum Finale der d-Moll-Sonate op. 31 Nr. 2 in den Sinn, »als er einst einen Reiter an seinem Fenster vorbeigaloppieren sah. Viele seiner schönsten Werke entstanden durch ähnliche Zufälle. Bei ihm wurde jeder Schall, jede Bewegung Musik und Rhythmus.«Was aber, wenn Czerny sich getäuscht hätte? Wenn der Reiter an Beethovens Fenster vorbeigaloppiert wäre, als er bereits einen anderen Satz in Erwägung zog? Gelegentlich wird spekuliert, Czerny habe die Finali verwechselt und seine Anekdote passe eigentlich viel eher zum Presto con fuoco aus der Sonate Es-Dur op. 31 Nr. 3. Durchaus vorstellbar, obgleich es sich dann wohl um ein rasendes Ross mit peitschendem Eilboten handeln würde – oder am Ende gar um den Feuerreiter? »Alles muß von ungeheurer Leichtigkeit sein, und die Freude an der Beherrschung des Klaviers, an der eigenen Technik, darf mit dem Temperament und der rhythmischen Verve um die Wette reiten«, schrieb der Pianist Edwin Fischer. Andere hörten aus diesem letzten Satz Parforceritt und Hörnerschall heraus, Ludwigs wilde verwegene Jagd, weshalb die Es-Dur-Sonate in Frankreich auf den auch für Symphonien und Quartette beliebten Namen La Chasse getauft wurde.
Doch das Paradox der »ungeheuren Leichtigkeit« trifft es viel besser. Diese viersätzige Sonate mit Scherzo und Menuett (als müsse deren Mangel in den beiden »Schwesterwerken« des Opus 31 hier überkompensiert werden), die wie mit einem Fragezeichen beginnt, einer unausgesprochenen Frage, sie demonstriert die bewundernswerte Gabe, eine Stimmung bis zur Neige auszukosten, ernst, fast zu ernst, um im nächsten Augenblick das Ungeheure mit leichter Geste aufzuheben. Weshalb Hans von Bülow in dieser Sonate »das humoristische Element stets durch das pathetische durchblicken« sah. Und wahrlich – Beethoven spielt mit dem Feuer, nicht erst im Con-fuoco-Finale, sondern sogleich im einleitenden Allegro, dessen bitter-süßes Pathos sich vornehmlich aus einem Schwelgen in Dissonanzen speist. Nach gut 30 Takten wird, man höre und staune, sogar der »Tristan-Akkord« angeschlagen, ungeachtet der Tatsache, dass Richard Wagner ihn erst zwei Generationen später erfinden sollte (nachdem er zuvor von Chopin, Spohr und Liszt erfunden worden war, aber in der Geschichte passiert eben selten etwas zum ersten Mal). Die schwüle, herzbeklemmende Atmosphäre der modulierenden Überleitung wird allerdings bald verlassen wie ein Tropengewächshaus, zurück an die frische Luft. Mit dem Seitensatz hebt eine verspielte und vergnügliche Musik an: Das romantische Nachtstück weicht der Opera buffa. Und so geht es fort, Beethoven lockt den Hörer auf steilem Grat bis an den Abgrund, um jeden Anflug der Verzweiflung, jede seelische Komplikation prompt mit einem Scherz, mit Witz und Ironie abzuwenden.
»Clavier-Solos von grossem Umfang«? Drei lange Sätze umfasste die C-Dur-Sonate, die Beethoven ein Jahr später komponierte, die Waldstein-Sonate op. 53 – aber das schien den wohlmeinenden Zeitgenossen zu viel des Guten. »Ein Freund Beethoven’s äußerte ihm, die Sonate sei zu lang, worauf dieser von ihm fürchterlich hergenommen wurde«, berichtet Beethovens Schüler Ferdinand Ries. »Allein ruhigere Ueberlegung überzeugte meinen Lehrer bald von der Richtigkeit der Bemerkung. Er gab nun das große Andante in F dur, 3/8 Tact, allein heraus und componirte die interessante Introduction zum Rondo, die sich jetzt darin findet, später hinzu.« Der aufgeopferte Mittelsatz kam freilich auch als Solo zu enormer Prominenz – als Andante F-Dur WoO 57, das 1805 separat gedruckt, von Beethoven selbst häufig gespielt und »wegen seiner Beliebtheit« mit dem einprägsamen Beinamen Andante favori bedacht wurde. Der gemütvolle, leicht melancholische Satz erschließt sich formal als Rondo mit figuriertem Refrain, zwei Couplets und einer ausgiebigen, zur freien Fantasie tendierenden Coda. Graziös wie ein Menuett und innig wie ein Volkslied gibt sich dieses »Lieblingsandante«, aber mit jeder weiteren Umdrehung öffnet es sich neuen pianistischen Perspektiven, den sonoren und silbrigen Klangsphären des modernen Hammerklaviers, des zeitgenössischen Fortepianos. Schon im Refrain versteckt sich ein Moment von Fernweh und Lebewohl (im musikalischen Symbol der Hornquinten), etwas Unheimliches, ein kalter Hauch von Jenseits, ein Schatten, der sich aufs Gemüt legt, wie ohnehin der ganze lange, langsame, wehmütige Satz mit jedem Takt mehr vom Ende weiß, vom Abschiednehmen. Irgendwo zwischen Pastorale und Tombeau, zwischen Tag und Traum schwingt es sich ein, das Andante favori. »Freude singt, was Leid gelitten, / Schweres Herz hat leichten Sinn«, heißt es in einem Gedicht, das Clemens Brentano im selben Jahr 1803 schrieb.
Von eher leicht bis gar zu schwer
Wie stand es um die Klaviersonate nach Beethovens Tod? Sie habe, urteilte Robert Schumann, »ihren Lebenskreis durchlaufen, und dies ist ja in der Ordnung der Dinge, und wir sollen nicht jahrhundertelang dasselbe wiederholen und auch auf Neues bedacht sein«. Ein erstaunliches Resümee aus der Feder eines Komponisten, der gerade drei Klaviersonaten vollendet sowie weitere begonnen hatte, und der obendrein an seiner C-Dur-Fantasie op. 17 arbeitete, die er ursprünglich ebenfalls eine »Große Sonate« nennen wollte. Die besagten drei Sonaten waren von Schumann allesamt 1833 in Angriff genommen worden, doch zog sich der Entstehungsprozess zum Teil erheblich in die Länge. Mit der g-Moll-Sonate op. 22 kam er sogar erst 1838 zu einem druckreifen Abschluss – ein unverkennbares Zeichen für die unerbittliche Selbstkritik, mit der Schumann seine kompositorischen Anstrengungen überwachte. Namentlich mit dieser Klaviersonate konnte er partout »nicht fertig werden«. Überdies goss auch noch Clara Wieck Öl ins Feuer, als sie ihren Verlobten mit der Suggestivfrage konfrontierte: »Willst Du den letzten Satz ganz so lassen, wie er ehemals war? ändere ihn doch lieber etwas und erleichtere ihn, denn er ist doch gar zu schwer. Ich versteh ihn schon und spiele ihn auch zur Noth, doch die Leute, das Publikum, selbst die Kenner, für die man doch eigentlich schreibt, verstehen das nicht. Nicht wahr, Du nimmst mir das nicht übel?« Schumann freilich änderte und erleichterte das Finale nicht, sondern tauschte es aus gegen ein neues Rondo, das er »sehr simpel« fand.
Der erste letzte Satz aber kam schließlich doch noch ans Licht der Öffentlichkeit, zehn Jahre nach Schumanns Tod, herausgegeben von Johannes Brahms. Dieses so akkurat wie aberwitzig erdachte Presto passionato im zugespitzten 6/16-Takt flieht in wenigen Minuten vorüber, ein Perpetuum mobile mit eingelagerten Gegenrhythmen, springenden Akzenten und doppelt bis dreifach geschichteten Metren, ein schwindelerregendes Rondo, eine haltlos überdrehte Giga mit Schleudertrauma – ein Finale, das sich unversehens selbst zu schreddern beginnt. Was ist das? Der Geschwindigkeitsrausch eines Komponisten, dem die einst angestrebte Virtuosenkarriere verwehrt geblieben war – wegen einer lähmenden Schwäche der rechten Hand und zermürbender Auftrittsängste? Die sadistische Rache an allen Pianisten, denen es vergönnt war, vor Publikum zu glänzen? Wie auch immer – diese Tollheit besitzt Methode. Und setzt Schumanns Lobpreis auf die »immer fortschreitende Mechanik des Klavierspiels« in die rasante Praxis um: bis uns Hören und Sehen vergehen.
Robert Schumann hob alles auf, nicht nur das Presto passionato, ja er mokierte sich über skrupulöse Künstlerkollegen, die ihre Komponierstube mit alten Manuskripten beheizten: »Die Redensart: ›Ich hab’s in den Ofen gesteckt‹ birgt im Grund eine recht unverschämte Bescheidenheit; eines schlechten Werkes wegen wird die Welt noch nicht unglücklich, und dann bleibt es auch immer nur bei der Redensart; man müßte sich ja wahrhaftig schämen. Kann die Menschen nicht leiden, die ihre Kompositionen in den Ofen stecken.« Zur Weihnachtszeit 1850, mittlerweile als städtischer Musikdirektor in Düsseldorf ansässig, gab Schumann dem Drängen der Verlage nach und bereitete eine Sammlung vor, die mit Blick auf Hausmusik und Klavierpädagogik eine Auswahl älterer Einzelstücke bot, mehr oder minder nach dem Schwierigkeitsgrad gestaffelt, von eher leicht bis ziemlich schwer. Die insgesamt 14 Sätze gehörten zum Teil in die Zeit und den Umkreis des Carnaval, der Kinderszenen und der Noveletten, doch hatte Schumann jene Stücke damals vor der Publikation aussortiert (aber immerhin nicht »in den Ofen gesteckt«). Jetzt bekamen sie ihre zweite Chance, ebenso wie drei »Notturnis«, die er Clara Wieck geschenkt hatte, ein Albumblatt für die Sängerin Pauline Garcia, ein Präludium, dessen Fuge nicht gelingen wollte, ein Scherzo, das eigentlich inmitten einer nie vollendeten Symphonie erklingen sollte, oder ein Geschwindmarsch, der 1849 im Sog der Dresdner Barrikadenkämpfe geschrieben worden war. Ursprünglich plante Schumann, diese nachträgliche Auslese ungedruckter Werke unter dem Titel Spreu zu veröffentlichen, aber sein Verleger, Friedrich Wilhelm Arnold aus Elberfeld, konnte ihm den wenig werbewirksamen Namen ausreden, der abträgliche Assoziationen an zweite Wahl, Makulatur und mindere Qualität wachgerufen hätte. Schumann schlug stattdessen Bunte Blätter vor, und obgleich auch der Gedanke an Herbstlaub auf die Stimmung drücken könnte, wurde der Sammelband mit der Opuszahl 99 ein voller Erfolg und verkaufte sich seinerzeit sogar besser als der »Weizen« – Schumanns frühere, heute ungleich berühmtere Klavierzyklen.
Etwas schwer vielleicht
Eine undurchschaubare, unberechenbare, rätselhaft vieldeutige Komposition: Sergej Prokofjews Klaviersonate Nr. 8, deren Entstehungsgeschichte genau mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenfällt, jedenfalls nach dem Maßstab der äußeren Tatsachen und Jahreszahlen. 1939 hatte Prokofjew wie einst Schumann die Arbeit an gleich drei Sonaten auf einmal begonnen (Nr. 6 A-Dur op. 82, Nr. 7 B-Dur op. 83 und Nr. 8 B-Dur op. 84), aber mit dem Krieg brach für ihn eine unfreiwillige Wanderschaft an, ein Nomadendasein, das ihn kreuz und quer in den Kaukasus, nach Tiflis, durch endlose Wüsten bis nach Alma-Ata und zum Ural führte, eine ruhelose, gleichwohl schöpferisch ergiebige Epoche seiner Biografie. Als Komponist zählte Prokofjew zu den Privilegierten der sowjetischen Gesellschaft: Er wurde einem Evakuierungsplan unterstellt, der ausgewählte Künstler auf sicheres, kriegsverschontes Terrain geleitete. Prokofjew, von Natur aus »schrecklich egoistisch«, wie Mstislaw Rostropowitsch zu urteilen wusste, ließ seine Familie, seine Frau und die Söhne, in Moskau zurück und trat die lange, lebensrettende Reise gemeinsam mit der jungen Literaturstudentin Mira Mendelson an (die er später, nachdem seine erste, in Deutschland geschlossene Ehe annulliert worden war, auch heiratete): Ihr, einer Professorentochter aus Kiew, widmete er seine Achte Klaviersonate, als er diese in jeder Hinsicht anspruchsvolle Komposition am 29. Juni 1944 schließlich vollendet hatte.
Schiene es da nicht einleuchtend, die B-Dur-Sonate als tönende Autobiografie zu deuten, als heimliche Liebeserklärung gar? Eine höchst reizvolle Theorie, zumal Prokofjew im Kopfsatz, den er bezeichnenderweise auch noch mit »Andante dolce« überschreibt, zweier berühmter liebender Frauen gedenkt: Er zitiert (oder paraphrasiert) seine Filmmusik zu Pique Dame und seine Oper Krieg und Frieden, spielt beziehungsreich auf die Themen der leidenden, leidenschaftlichen Heldinnen an, Puschkins Lisa und Tolstojs Natascha. Im zweiten Satz hingegen, dem Andante sognando (einem »träumenden« Andante), bleibt alles in der Schwebe: Prokofjew ersinnt einen altväterlichen Tanz, eine Art Menuett, das eine Stimmung von Nostalgie und goldener Jugend verbreitet, um die aufsteigende Sentimentalität zugleich mit feinem Spott und schräger Eleganz zu durchkreuzen. Und auch im Finale treibt Prokofjew ein merkwürdiges, doppeldeutiges Spiel, beginnt mit mokanter, trockener Toccata- und Etüden-Virtuosität, stimmt dann jene sowjetisch-athletische Folklore an, die uns aus seinen propagandistischen Werken nur allzu bekannt ist, verbiegt aber den vaterländischen Optimismus bald wieder ins Groteske. Swjatoslaw Richter empfand diese Achte als die »reichste« aller Prokofjew-Sonaten: »Sie enthält ein ganzes Menschenleben mit all seinen Widersprüchlichkeiten. Mitunter erstarrt es in ihr, als lausche man auf den unerbittlichen Lauf der Zeit. Sie ist etwas schwer zu verstehen, aber durch ihren Reichtum wie ein Baum, dessen Zweige die Last der Früchte zu tragen haben.«
Wolfgang Stähr