Rhythmische Entfesselung, Trommelfeuer der Klangfarben und getanzter Disput
Symphonische Musik von Igor Strawinsky, William Kraft und Leonard Bernstein
Ein Skandal der Erregung: Igor Strawinskys Sacre du printemps
Wenn sich fast 2000 Theaterbesucher von einer Aufführung derart an der Kehle gepackt fühlen, dass sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen, muss mehr im Spiel gewesen sein als eine simple Provokation. In den Berichten über die Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett Le Sacre du printemps – am 29. Mai 1913 im Pariser Théâtre du Champs-Élysées – ist von erdbebenähnlichen Erschütterungen zu lesen, von Schlägen, Schreien, Boxhieben, zornigen Beschimpfungen; es soll zu Kämpfen zwischen rivalisierenden Gruppen, zu einer veritablen Saalschlacht gekommen sein. Das Kriegsvokabular in diesen Schilderungen kulminiert in Arthur Honeggers berühmtem Vergleich, mit dem er das Werk bewundernd als »Atombombe der Neuen Musik« beschrieb: »Diese Bombe war von dem weisesten und willensstärksten aller Komponisten ersonnen und geworfen worden.«
Viele Faktoren mögen zu diesem wohl berühmtesten aller Ballettskandale beigetragen haben: eine (nicht zuletzt vom Komponisten) für unzureichend erachtete Choreografie, eine unvollkommene Aufführung, ein fragwürdiges Sujet. Aber wenn man bedenkt, dass die Partitur seither vor allem im Konzertsaal weitergewirkt hat und dort bis heute ihre aufrüttelnde Wirkung entfaltet, dann muss der entscheidende Punkt wohl in der Musik gelegen haben – und zwar durch einen Aspekt, der bis dahin in der westeuropäischen Kultur eine nur untergeordnete Rolle gespielt hatte: der Rhythmus, den der Komponist Olivier Messiaen als »das genialste Element der Partitur« hervorhob. Strawinsky hat wesentlich zur Erkenntnis beigetragen, dass der Rhythmus eine mindestens ebenso starke Kraft ist wie die von der herkömmlichen Musiklehre bevorzugten Elemente Melodie und Harmonie. In der Partitur des Sacre beherrscht er das Geschehen: Da gibt es hypnotische, unveränderliche Rhythmen in statischen Ostinati und höchst dynamische mit sich fortlaufend verschiebenden unerwarteten Akzenten, da wechselt ständig die Taktart, und Phrasen bilden asymmetrische Perioden. Außerdem beförderte Strawinsky das Schlagzeug erstmals zur gleichberechtigten Gruppe neben Streichern, Holz- und Blechbläsern, mit einer reichhaltigen, aber keineswegs hypertrophen Besetzung. Dadurch beeinflusst der Rhythmus wiederum den Klang und wirkt weiter hinein bis in die Spielweisen der traditionellen Instrumente: Das Akkord-Staccato der Streicher, ausdrücklich mit dem kraftvollen, schrofferen Abstrich zu spielen, gehört zu den signifikantesten Klangerfindungen der Partitur.
Dazu kam noch die Handlung des Balletts als zusätzliches Skandalon: »Die erste Szene sollte uns an den Fuß eines heiligen Hügels versetzen, in einer üppigen Ebene, wo slawische Stämme versammelt sind, um die Frühlingsfeierlichkeiten zu begehen. In dieser Szene erscheint eine alte Hexe, die die Zukunft voraussagt: Hier gibt es Entführung und Hochzeit; Reigentänze. Dann folgt der feierlichste Augenblick. Der weise Alte wird aus dem Dorf gebracht, um seinen heiligen Kuss der neublühenden Erde aufzudrücken; und während dieser feierlichen Handlung wird die Menge von einem mystischen Schauer ergriffen. Nach diesem Aufrauschen irdischer Freude führt uns die zweite Szene in ein himmlisches Mysterium. Jungfrauen tanzen im Kreise auf dem Hügel zwischen bezauberten Felsen, ehe sie das Opfer wählen, das sie darzubringen gedenken, und das sogleich seinen letzten Tanz vor den uralten, in Bärenfell gekleideten Männern tanzen wird. Dann weihen die Graubärte das Opfer dem Gott Jarilo.« So skizzierte der russische Maler und Mythenforscher Nicholas Roerich den gemeinsam mit Strawinsky erarbeiteten Plan in einem Brief an den Impresario der Ballets russes, Sergej Diaghilew, der das Ballett in Auftrag gegeben hatte. Schon Strawinskys Lehrer Nikolaj Rimsky-Korsakow hatte gut 20 Jahre vorher in seiner Oper Snegurotschkaeine Welt geschildert, deren Natur im Übergang von Winter zu Frühling aus dem Gleichgewicht geraten ist und zu deren Rettung ein junges Mädchen – die Titelfigur, das Mischwesen »Schneeflöckchen« – schmelzend sterben muss, woraufhin die Allgemeinheit frohgemut (im 11/4-Takt) ein Preislied zu Ehren des Sonnengottes Jarilo anstimmt. Diese Gottheit taucht – kaum zufällig – auch in der Sacre-Handlungwieder auf.
Nicht aber so sehr die Irritation eines auf offener Bühne vollzogenen tödlichen Rituals dürfte die Menschen seinerzeit so aufgebracht haben. Noch mehr als vor dem Tabu Tod schrecken die Menschen seit jeher vor dem Thematisieren jenes Vorgangs zurück, aus dem erst neues menschliches Leben entstehen kann. Mag der zweite Teil des Sacre im Todestanz enden, feiert der erste das »Aufrauschen irdischer Freude«, jene triebhafte »biologische Mechanik« (Günther Rühle), die trotz aller im gesellschaftlichen Zusammenleben angestrebten Sublimierung in jedem Menschen wirkt. Jacques Rivière hatte das in einer Besprechung von 1913 bemerkt: »Dies ist ein biologisches Ballett. […] Dies ist nicht der übliche, von Dichtern besungene Frühling […]. Hier ist nichts als der erbarmungslose Kampf des Wachsens, das panische Entsetzen vor den aufsteigenden Säften, die beängstigende Umgruppierung von Zellen. Frühling von innen gesehen, mit all seiner Heftigkeit, seinen Spasmen und Rissen.« Dieses zur Schau (bzw. zum Hören) gestellte Sexuelle hat – sicherlich auch in der Verknüpfung mit dem Tod eines Menschen, der nicht nur hingenommen, sondern als berechtigt und notwendig dargestellt ist – das Publikum damals so erregt, vor allem durch den roh insistierenden Rhythmus, der das unausweichliche Mechanische der Lust so unbarmherzig vor Augen und Ohren führt. Denn vor ihr ist niemand sicher: »Nicht vor Mord und nicht vor Gewalt fürchten auch Humanisten sich so sehr wie vor dem Sexus«, resümierte Ludwig Marcuse in seiner Studie über das Obszöne. Strawinskys Sacre erreicht diese Wirkung in der wortlosen Überhöhung, die einzig der Musik vorbehalten ist; mit ihrer rhythmischen Entfesselung ist es bis heute ein bann- und bahnbrechendes Werk, das die Welt verändert hat.
Ein Fest der Klangfarben: William Krafts Erstes Paukenkonzert
Mit der Macht des Rhythmus war der Komponist William Kraft, inzwischen 95 Jahre alt, schon immer vertraut, hat er seine musikalische Laufbahn doch als Schlagzeuger und Pauker begonnen; ein Vierteljahrhundert lang gehörte der dem Los Angeles Philharmonic an. Überdies hat er Strawinsky noch persönlich kennengelernt und 1961 als Schlagzeuger an der vom Komponisten geleiteten Einspielung von dessen Suite LʼHistoire du soldat mitgewirkt. Die Herausforderung, ein Konzert für ein Perkussionsinstrument zu schreiben, liegt natürlich nun gerade im Überwinden des rein Rhythmischen, im Erweitern der Möglichkeiten, die dem Schlagzeug landläufig zugesprochen werden. Die Pauke ist ein Schlaginstrument mit festgelegter Tonhöhe, so dass man mit mehreren von ihnen sogar Melodien spielen kann. Trotzdem sind die Paukenkonzerte an einer Hand abzuzählen; hierzulande das bekannteste ist wohl das von Werner Thärichen, dem langjährigen Solopauker der Berliner Philharmoniker.
Krafts erstes Konzert für sein eigenes Instrument wurde von einem Paukenkollegen aus Indianapolis, Thomas Akins, in Auftrag gegeben. Der Komponist zweifelte zunächst, »ob die Pauken für ein ausgewachsenes Solokonzert lange genug die musikalische Aufmerksamkeit erhalten könnten«, und schlug Akins eine Suite mit fünf Sätzen von kontrastierendem Charakter vor. »Als ich dann aber mit dem eigentlichen Komponieren begann, stellte ich fest, dass ich das Konzept, das Material und die Struktur gefunden hatte, aus denen ein großes dreisätziges Konzert erwachsen würde.« Gemeinsam entwickelten er und Akins differenzierte Varianten der Spielweise, die bezeichnenderweise sämtlich nicht etwa rhythmischen Finessen, sondern die Klangfarbe betreffen und dennoch direkt auf die Form des Stücks eingewirkt haben: Der allmähliche Übergang von weichen zu sehr harten Klängen »stellt einen wesentlichen Teil der Konstruktion des ersten Satzes dar; beginnend mit stoffbedeckten Fingern wechselt der Pauker zu Lederhandschuhen, dann zur ganzen Hand und schließlich zu Schlägeln mit steigendem Härtegrad, bis man beim unverkleideten Holz anlangt« (Kraft). Mit diesen Abstufungen ergibt sich bei schnellen Tonfolgen mal ein prasselndes Trommelfeuer, mal eine wolkige Tontraube; dreht der Spieler den Schlägel um und benutzt das »nackte« Holzende, kann er sogar das Rühren der Militärtrommel simulieren. Der Spieler ist dabei ständig in Bewegung und muss im schnellen Wechsel zwischen den fünf Pauken und den vielen Schlägeln geradezu artistische Beweglichkeit beweisen. »Nachdem die Pauken mit einer Kadenz begonnen haben, die sich selbst aus einer einzelnen Note entwickelt«, beschreibt der Komponist den Satz weiter, »treten nach und nach andere Instrumente in ein Wechselspiel mit dem Solisten ein, bis das ganze Orchester beteiligt ist.« Motive werden hin- und hergeworfen, eine kurze, mehrfache Tonwiederholung beispielsweise von der Pauke zu den Trompeten; die Streicher breiten dazu oft swinghaft pulsierende Klangflächen aus. Raffiniert ist die Tonhöhenverstellung moderner Pedalpauken eingesetzt: Während eines Tremolos auf zwei verschieden großen Pauken wird bei einer die Tonhöhe mittels Fußpedal stufenlos verändert.
Der zweite Satz trägt den Untertitel Poem für Pauken, zwei Streichorchester, Celesta und Schlagzeug. Kraft schreibt hier zwei Streichergruppen vor, die entweder rechts und links auf dem Podium oder auch hintereinander platziert sein können; die Musik basiert auf dem Glissando, einer der idiomatischen Spieltechniken der Pauken. Mit einem hintergründigen Glissando hatte schon der erste Satz aufgehört, nun bringt der zweite die für diesen Effekt prädestinierten Instrumentengruppen zusammen: Tutti- und Solostreicher – besonders wirkungsvoll beispielsweise mit Akkorden, in denen einige Stimmen mit Glissando die Noten wechseln, andere auf ihrem Ton liegenbleiben.
»Der dritte Satz«, erläutert Kraft, »ist auf einem Viernotenmotiv aufgebaut, das komplette Thema wird erstmals von den Pauken gespielt, um seinen idiomatischen Charakter zu etablieren, und ist dann auf verschiedene Arten für das Orchester gesetzt. […] Ohne eigentlich beabsichtigt gewesen zu sein, hat der dritte Satz eine Rondoform angenommen, die ihren Höhepunkt in einer knappen Paukenkadenz kurz vor Schluss findet.« Auf dem Weg dahin prägt sich ein aufsteigendes Fanfarenthema der Blechbläser ein, das später mehrmals wiederkehrt. Quasi auf der Zielgeraden setzt das Stück den Solisten noch mit dem auch sonst vielbeschäftigten übrigen Schlagzeug gemeinsam in den Fokus und inszeniert eine ausgedehnte Passage nur mit den Perkussionisten.
Der Kampf der Tänze: Leonard Bernsteins Symphonic Dances
Dass Leonard BernsteinsWest Side Story zu einem solchen Füllhorn von Tanz und Rhythmus wurde, war nicht von vornherein abzusehen. Die erste Arbeitsphase zwischen dem Regisseur und Choreografen Jerome Robbins, der die Idee dazu gehabt hatte, Arthur Laurents, der das Buch schreiben sollte, und dem Komponisten wurde bald abgebrochen. Erst rund fünf Jahre später kam Bernstein und Laurents der erlösende Gedanke, statt (wie ursprünglich geplant) aus dem Konflikt zweier Konfessionen nun Amerikaner verschiedener Herkunft aufeinanderprallen zu lassen und statt in Religion den viel brisanteren Zündstoff in Migration zu finden: Die tragische Liebe zwischen Tony und Maria wird vor der Kulisse des Kampfs von rivalisierenden Jugendgangs erzählt, die einen mit europäischen Wurzeln, die anderen aus Puerto Rico eingewandert. Erst diese Neukonzeption machte es dem Komponisten möglich, Handlung und Musik aus ein und demselben Gedanken zu entwickeln und aus dem geografischen Unterschied musikalisch Funken zu schlagen, indem er die weißen »Jets« mit Jazz- und Swing-Stilrichtungen wie Bebop, Blues und Rock, die puerto-ricanischen »Sharks« hingegen mit Tanzformen wie Mambo, Huapango und Cha-Cha-Cha charakterisierte. Der Tanz rückte auch in der Handlungsführung in den Mittelpunkt – beispielsweise ist die szenische Eröffnung, der Prologue, wie ein Ballett angelegt und wird, ganz ohne Sprache oder Gesang, rein instrumental begleitet. Und der Streit zwischen den sozialen Gruppen hinterlässt Spuren bis in die kleinsten musikalischen Zellen, etwa den konkurrierenden Rhythmen im Wechsel von 6/8- und 3/4-Takt bei »I like to be in America«.
Die West Side Story , als »musical comedy« nach den Bedingungen des Broadway konzipiert und produziert, ist damit ein Gemeinschaftswerk; auch an Bernsteins Musik wirkten wie üblich mehrere Personen mit. Aus den Entwürfen des Komponisten erstellen professionelle Arrangeure (in diesem Fall Sid Ramin und Irwin Kostal) praktikable Partituren und Stimmsätze. Dabei ist ein Musicalorchester viel kleiner als ein Symphonieorchester – was unter anderem bedeutet, dass man beispielsweise mit den wenigen Musikern der Streichergruppe nur schwer einen vollen Orchesterklang erzeugen kann. Auch die Holzbläser umfassten oft nicht einmal ein halbes Dutzend Spieler, von denen jeder üblicherweise mindestens zwei verschiedene Instrumente zu spielen hatte, die dann nicht gleichzeitig erklingen konnten. Die größten Hits aus der West Side Story auch für symphonisches Orchester zu arrangieren, bot Ramin und Kostal 1960 die Chance, diese Begrenzungen zu überwinden und das musikalische Material klanglich noch einmal ganz neu zu beleuchten. Der quasi »symphonische« Gedanke, dass das ganze Werk durch eine Art Leitmotiv – den Tritonus, jenes symbolisch aufgeladene, konfliktträchtige Intervall, das die Oktave in zwei gleich große Hälften teilt – zusammengehalten wird, ist zwar eher ein Mythos (denn viele Nummern des Musicals wurden aus älteren Shows und Balletten von Bernstein in das neue Stück integriert), den Bernstein in seinem Bestreben, das Stück in die Nähe der »richtigen« Oper zu rücken, später gerne betont hat. In der Suite aber entfaltet er eine starke einende Kraft und macht das Potpourri zu wahrhaft symphonischen Tänzen.
Malte Krasting