Durch Licht zur Nacht
Streichquartett, Streichquintett: Felix Mendelssohn Bartholdy und Franz Schubert
Vernünftige Leute, glückliche Zeiten
Felix Mendelssohn Bartholdy lebte – tatkräftig und bewusst – in einer Epoche, die gewiss nicht die schlechteste war in der deutschen Geschichte. Und er selbst war ihr Idol und ihr Ideal. »Er ist der Mozart des 19ten Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt hat«, schrieb sein Zeitgenosse und Weggefährte Robert Schumann. Ein Ausdruck höchster Wertschätzung, der gleichwohl unweigerlich in die Irre führte, wenn er Vorstellungen von einem heiteren Lebenskünstler weckte, dem die Inspiration nur so zugeflogen wäre, leicht und mühelos. Gerade das Gegenteil war der Fall. In Mendelssohn Bartholdys von Grund auf bürgerlichem Leben regierte ein striktes Arbeitsethos, ein fast übermenschliches Verantwortungsbewusstsein für das eigene Werk, den Beruf, die Berufung. Als Komponist, Gewandhauskapellmeister und Gründer des Leipziger Konservatoriums verzehrte er sich in seinem Schaffen bis an den Rand der Selbstaufgabe. Zu den frei gewählten Pflichten gehörte für ihn die Sorge um die materiellen Lebensverhältnisse seiner Leipziger Musiker. Dem Freund Ignaz Moscheles erzählte er 1839 in einem Brief: »Mein Steckenpferd ist jetzt unser armes Orchester und seine Verbesserung. Ich habe ihnen mit unsäglicher Lauferei, Schreiberei und Quälerei eine Zulage von 500 Thalern ausgewirkt, und ehe ich von hier weggehe, müssen sie mehr als das Doppelte haben.« Dieser praktische Idealismus, der unschwer das goethesche Leitbild der vernunftgegründeten »Tätigkeit« erkennen lässt, verstärkte sich wechselseitig mit einem ausgesprochen preußischen Sinn und elitären Hang zu Führung und Verpflichtung: Wer, wenn nicht wir, soll es leisten? Mit Dankbarkeit war dabei nicht unbedingt zu rechnen. »Ich darf mich nicht einmal zurückziehen, sonst leidet die Sache, für die ich dastehe«, bekannte Mendelssohn Bartholdy seinem jüngeren Bruder Paul, »und doch möchte ich auch gerne sehen, daß sie nicht bloß meine Sache wäre, sondern die gute oder die allgemeine.«
Für Felix Mendelssohn Bartholdy besaß das Wort vom Arbeitseifer keinen sauren Beigeschmack. Als er der Schwester Fanny im Frühling 1837 einen Brief aus Freiburg im Breisgau schickte – von seiner Hochzeitsreise –, schwärmte er zwar ausgiebig von Stadt und Land (»etwas Schöneres ist mir nie vorgekommen, kann ich mir auch nicht erdenken«), um sogleich jedoch das unerwartete Geständnis anzufügen: »Ich habe vor sehr fleißig zu sein. Ich möchte gern mancherlei Neues zu Tage bringen u. ordentliche Fortschritte machen [...]. Mit einem Violin-Quartett bin ich fast fertig, u. will dann ein 2tes anfangen, es arbeitet sich jetzt gar zu schön u. lustig.« Dieses »2te«, das Es-Dur-Quartett, das schließlich als drittes unter der Opuszahl 44 erschien, hatte Mendelssohn Bartholdy im Juli bereits so gut wie vollständig »im Kopf«, aber erst am 6. Februar 1838 konnte er die Komposition tatsächlich und auf dem Papier vollenden – einen Tag vor der Geburt seines ersten Kindes.
Die hohe Kunst des Streichquartetts war lebendig wie eh und je und gleichwohl der Vergangenheit, einem historischen Zeitgeist verbunden: Die bloße Erwähnung entfachte nicht von ungefähr sofort einen unwiderstehlichen Sog rückwärts in die Epoche der Wiener Klassik: Durch die Eigenart seiner abgestuften, gewissermaßen systematischen, intimen und elitären Besetzung, den glasklaren, trennscharfen Satz, die hohe Individualisierung der Stimmen, die Analogie zur Gesprächsrunde passte das Quartettspiel exemplarisch zum vorherrschenden Konversationsideal der Musik im 18. Jahrhundert, im Siècle des Lumières, dem Zeitalter der Aufklärung. Goethes vielzitiertes Wort über das Streichquartett – »man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen« – definiert dessen Spielraum zwischen Geselligkeit und Gelehrtheit: den Gedankenaustausch unter Gleichberechtigten, die Entfaltung der Persönlichkeit in Rede und Widerrede (wobei selbst das Gebot der Nützlichkeit nicht vergessen wird).
Man hört es auch diesem Gattungsbeitrag an: In Mendelssohn Bartholdys Es-Dur-Streichquartett op. 44 Nr. 3 unterhalten sich die vier vernünftigen und überaus kultivierten Leute – gewiss feinsinnige Besucher eines Leipziger Salons – blendend und geraten dabei in die allerbeste Laune. Heitere Kunst, schwerelos bei allen kontrapunktischen und kombinatorischen Verwicklungen, beflügelt von der Freude am Spiel um seiner selbst willen, am geistvollen Diskurs, an der klanglichen Schönheit, am köstlichen Detail, das mit auffallender Neigung zum Wiederholen und Nochmalsagen ins rechte Licht gerückt wird – darin zeigt sich Mendelssohn Bartholdys unverwechselbare Meisterschaft. Und seine »tief originelle Persönlichkeit«, wie der Kulturhistoriker Egon Friedell sie einfühlsam charakterisierte: »kapriziös und grazil, sentimental und heiter, ja fast witzig, sehr, für einen Musiker beinahe zu sehr gebildet und von einer reinen und echten, weder verknöcherten noch angekünstelten Frömmigkeit«. Ob Felix Mendelssohn Bartholdy ein glücklicher Mensch war – wer kann es wissen? Aber zweifellos war es eine glückliche Epoche des deutschen Musiklebens, die ihn zum Zeitgenossen hatte. Doch nur für wenige Jahre: Mendelssohn Bartholdy starb schon 1847, mit gerade einmal 38 Jahren.
Letzte Tage, verletzte Seelen
»Wissen Sie aber, wie ich es mir denke? – Der Mensch muß wieder ruiniert werden!«, sprach Goethe zu Eckermann im März 1828. »Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas anderem.« Goethe nannte drei früh Verstorbene und Vollendete beim Namen, zum Beweis und Exempel: Raffael, Mozart und Byron. »Alle aber hatten ihre Mission auf das vollkommenste erfüllt, und es war wohl Zeit, daß sie gingen, damit auch anderen Leuten in dieser auf eine lange Dauer berechneten Welt noch etwas zu tun übrig bliebe.«
War es für Franz Schubert Zeit zu gehen, als er im selben Jahr 1828 das Streichquintett komponierte, sein erstes und letztes (sieht man von einer Quintett-Ouvertüre ab, die er als Sängerknabe geschrieben hatte)? Todesahnungen, ja Todessehnsucht, Weltschmerz und Erlösungsfantasien finden sich schon in den früheren Werken des jungen Franz Schubert. Mit der Diagnose einer venerischen Krankheit jedoch und den Schrecken der unheilvollen Heilverfahren, mit Spital und Quecksilberkur senkte sich die Finsternis auf Schuberts Musik, die schwärzeste Verzweiflung, aus der es kein Entkommen mehr gab, nur die Flucht in eine fiebrig überhitzte Produktivität oder den Traumpfad hinaus auf die andere Seite der Wirklichkeit. »Damit Dich diese Zeilen nicht vielleicht verführen, zu glauben, ich sey nicht wohl, oder nicht heiteren Gemüthes, so beeile ich mich, Dich des Gegentheils zu versichern«, hatte Franz Schubert 1824 an seinen Bruder Ferdinand geschrieben. »Freylich ists nicht mehr jene glückliche Zeit, in der uns jeder Gegenstand mit einer jugendlichen Glorie umgeben scheint, sondern jenes fatale Erkennen einer miserablen Wirklichkeit, die ich mir durch meine Phantasie (Gott sey’s gedankt) so viel als möglich zu verschönern suche.«
Die erstaunliche Tatkraft aber, die Franz Schubert in seinen letzten Lebensmonaten an den Tag legte, hat immer wieder Anlass zu Spekulationen gegeben. War es ein Wettlauf mit der verheerenden Krankheit, deren physische Bedrohung seine schwindenden Tage überschattete? Hatte er den Tod Beethovens, des übermächtigen Giganten, als Befreiung von einem lastenden Albdruck empfunden? Fühlte er sein künstlerisches Selbstbewusstsein gestärkt, nachdem er das ehrgeizige Projekt der »großen Symphonie« verwirklicht und ihm mit der Winterreise ein Zyklus gelungen war, dessen Lieder ihm »mehr als alle« gefielen? Spielten vielleicht äußere Erfolge eine Rolle: das ausschließlich seinem Schaffen gewidmete Konzert am 26. März 1828 in Wien und das unverhoffte Interesse deutscher Verleger, Schott und Probst, an seinen Werken?
Zu welchem Schluss man auch gelangt, der musikalische Ertrag weist Schuberts letztes Jahr zugleich als eines seiner fruchtbarsten aus: Denn 1828 schrieb der 31-jährige Komponist das B-Dur-Klaviertrio, die drei letzten Klaviersonaten, die Es-Dur-Messe, die Rellstab- und Heine-Lieder, das Streichquintett, er war mit Entwürfen zu einer D-Dur-Symphonie befasst, und bis zuletzt umkreisten seine Gedanken das Vorhaben einer Oper Der Graf von Gleichen. Die Aufzählung fügt sich zu einem überraschend vollständigen, beinah repräsentativen Tableau der Gattungen, mit denen Schubert sich sein Leben lang auseinandergesetzt hat. Aus den Erinnerungen seines Freundes Josef von Spaun wissen wir überdies, dass er sich seit der Arbeit an der Winterreise in einen tranceartigen Schaffensrausch gesteigert hatte: »Wer ihn nur einmal an einem Vormittag mit Komponieren beschäftigt gesehen hat, glühend und mit leuchtenden Augen, ja selbst mit anderer Sprache, einer Somnambule ähnlich, wird den Eindruck nie vergessen.« Schubert befand sich, daran lässt Spauns Schilderung keinen Zweifel, in einem Ausnahmezustand, unter kreativem Hochdruck, und die Arbeitsexzesse, die er sich zumutete, waren verhängnisvoll geeignet, seine ohnehin zerrüttete Gesundheit endgültig zu zerstören.
Die Arbeit am C-Dur-Streichquintett D 956, in der von Luigi Boccherini etablierten Besetzung mit einer Bratsche und zwei Celli, hat Schubert möglicherweise schon im Juni 1828 begonnen und vermutlich im September vollendet. Nach Alfred Brendels Urteil erleben wir Schuberts Musik »nicht als Herrin der Situation, sondern eher als deren Opfer«. Mit seiner denkbar unorthodoxen Exposition vermag gerade der Kopfsatz des Quintetts diese Aussage zu bestätigen. Aus einer dynamisch entfalteten Akkordfolge löst sich eine kurze Phrase der ersten Violine: Der Hörer bleibt völlig im Unklaren, ob er eine langsame Introduktion vernimmt oder bereits das Hauptthema. Ein rhythmischer Impuls der Bratsche treibt das Geschehen voran, ehe die Oberstimmen nacheinander mit einer sprunghaften Achtelfiguration einsetzen: Ist die Einleitung vorüber, das Hauptthema erreicht? Doch die Ereignisse fangen an sich zu überstürzen, in einem Verkürzungs- und Beschleunigungsprozess rast die Musik auf einen Höhepunkt zu und es beginnt – das Seitenthema: eine endlose, in sich kreisende und selbstvergessene Melodie, in locker verschlungenen Linien zuerst von den beiden Celli, dann von den Geigen angestimmt. »Im Vergleich zu Beethoven, dem Architekten, komponierte Schubert wie ein Schlafwandler«, sagt Alfred Brendel.
Werden im ersten Satz Erwartungen an das Sonatenschema unterlaufen und in die Irre geführt, so ereilt den Hörer, das »Opfer«, im nachfolgenden Adagio ein beispielloses Schockerlebnis, wenn die entrückte E-Dur-Seligkeit mit einem Unisono-Triller der fünf Streicher abstürzt in eine musikalische »Welt der Schmerzen« und, durchkreuzt von schroffen Synkopen und zuckenden Sechzehnteltriolen, erste Violine und erstes Cello sich in einer Melodie von qualvoller Gespanntheit aufreiben: ein grauenhafter Einbruch der »miserablen Wirklichkeit«, wie sie Schubert in seinen Briefen der letzten Jahre beklagte. Eher unheimlich wirkt dagegen der Kontrast, mit dem das Trio die jugendlich-überschwängliche Vitalität des Scherzos durchbricht. Man müsste rein gar nichts wissen von Schuberts »ruiniertem« Leben, seinen abgezählten Tagen, um diese abgründigen, schattenhaften Takte als ein Memento mori aufzufassen, einen Abstieg in die Unterwelt: »Bedenke, dass du sterblich bist.« Sollte man das abschließende Allegretto im konventionellen Sinne eines lieto fine interpretieren: Ende gut, alles gut? Alfred Brendel hat die »Fröhlichkeit« dieses Finales als »zähneknirschend« charakterisiert, und tatsächlich lässt namentlich ein »Kehraus« wie die grimmige »più presto«-Coda nur höchst zwiespältige Empfindungen zu. »Noch das letzte Unisono-C wird von dem Vorschlag Des aus gewonnen, – ein fast dämonisch anmutender Schluss!«, schreibt der Musikhistoriker Walter Riezler.
Ein paar Wochen blieben ihm noch, dann wurde er von der Vorsehung abberufen, dieser außerordentliche Mensch, damit auch anderen Leuten noch etwas zu tun übrig bliebe. Da ist man geneigt, mit Robert Schumann zu entgegnen: »Die Zeit, so zahllos und Schönes sie gebiert, einen Schubert bringt sie so bald nicht wieder.«
Wolfgang Stähr