Immer Schwierigkeiten mit den Populisten
Haydn und Schostakowitsch wurden lange Zeit sträflich unterschätzt
Das Rokoko war keine friedliche Epoche, genausowenig wie die darauf folgende Romantik. Wer meint, mithilfe der Musik oder Literatur etwas von der guten alten Zeit erhaschen zu können, unterliegt einer schweren Täuschung. Die Gesetze des musikalischen Wohlklangs waren zwar noch in Kraft, bevor die Frühromantik sie ins Wanken brachte, aber dieser Harmonie in der Tonkunst entsprach weder eine gesellschaftliche noch politische. Auch Joseph Haydn, wegen seiner weiß gepuderten Perücke gern belächelt und in einer vermeintlich konfliktfreien Vergangenheit verortet, kam teilweise sogar hautnah mit der brutalen Realität in Berührung. Während seiner langen Lebenszeit führte das Heimatland das Komponisten zahlreiche Kriege: den Russisch-Österreichischen Türkenkrieg, den Österreichischen Erbfolgekrieg mit dem fatalen Nachspiel des Siebenjährigen Kriegs, den Bayerischen Erbfolgekrieg und drei Koalitionskriege gegen das revolutionäre Frankreich, die in den katastrophalen Niederlagen bei Marengo und Austerlitz endeten. 1805 waren die französischen Armeen noch kampflos in Wien einzogen, doch 1809 ließ Napoleon die Stadt beschießen. Joseph Haydn starb während des Bombardements am 31. Mai an »Entkräftung«.
Vielen seiner Kompositionen ist der Geist jener unseligen Zeit unschwer zu entnehmen. DieNelsonmesse,die Missa in tempore belli und die Militär-Symphonie geben ihn schon im Titel zu erkennen, die Symphonie mit dem Paukenwirbel schon im ersten Takt. Dieser durchaus »realpolitische« Bezug wurde von der Rezeption getilgt; sofern sie Haydn überhaupt ernst nahm, konzentrierte man sich im 19. Jahrhundert auf religiös-idealistisch entrückte Stücke wie Die Schöpfung oder Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze. Von einer angemessenen Würdigung seiner künstlerischen Individualität kann kaum die Rede sein. Er galt als der Spaßvogel unter den Großmeistern; man sprach von einfallslosen »quadratischen Symphonien« und einem veralteten Zopfstil. Das Wissen über ihn war gering, die Zuordnung seiner Werke chaotisch oder völlig unmöglich.
Joseph Haydns Konzert für Violoncello und Orchester D-Dur
Daran war auch der Umstand schuld, dass sich der alte Haydn selbst nicht mehr in der Lage sah, die enorme Fülle seiner Publikation zu katalogisieren. Zudem ließen geschäftstüchtige Verleger viele Stücke unter seinem prominenten Namen drucken, was letztlich auch zu Misstrauen gegenüber den Originalen führte. Fälschungen und Irrtümer bestimmten die Rezeptionsgeschichte; Handschriften waren selten, Abschriften und Drucke aber ergaben kein zuverlässiges Bild. Was war ein echter Haydn, was nicht – diese Frage beschäftigte die Wissenschaft bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Nicht einmal dem Konzert für Violoncello und Orchester D-Dur blieb der Betrugsverdacht erspart. Es wurde dem böhmischen Solisten der Uraufführung Anton Kraft zugeschrieben, seines Zeichens Kompositionsschüler von Haydn und langjähriger Erster Cellist in dessen Hoforchester beim Fürsten Esterházy. Man verkannte die enge tägliche Zusammenarbeit Haydns mit seinen Musikern, denen er seine Konzerte in die Finger schrieb, und begnügte sich mit dem Vorurteil, dass ein Nicht-Cellist wie Haydn kein derart meisterliches, spieltechnisch extrem forderndes Stück hervorbringen könne. Dass seit 1804 die gedruckte Erstausgabe vorlag, vermochte naturgemäß dieses Vorurteil nicht zu erschüttern, ebensowenig fiel die Tatsache ins Gewicht, dass Haydn das Konzert in ein von ihm 1805 veranlasstes, aber keineswegs fehlerfreies Werkverzeichnis aufnehmen ließ. Eindeutige Klarheit herrscht erst seit 1954, als das Autograf aufgefunden wurde.
Der Popularität dieses Werks taten die stets gehegten Zweifel keinen Abbruch. Es scheint allen landläufigen Klischees zu entsprechen, wobei der enorme Schwierigkeitsgrad selten Beachtung findet. Trotz seiner von Mozart beeinflussten sanften, kantablen Melodik zeigt es eine Virtuosität, die zu Haydns Zeit vielleicht nur Anton Kraft bewältigen konnte. Noch heute bedeutet das D-Dur-Konzert eine maximale Herausforderung für jeden Solisten: die beständige Interaktion mit dem Orchester, die ebenso brillanten wie filigranen Figurationen, die irrwitzigen Tempoläufe, die großen Intervallsprünge, die schnellen Doppelgriff-Passagen. Und das alles oft in derart hohen Tonlagen, dass der übliche Bassschlüssel zur Notation gar nicht mehr ausreicht, sondern der Violinschlüssel benutzt werden muss – eigentlich ein konzertanter Albtraum, wäre das Resultat nicht auch für den Solisten so außerordentlich beglückend.
Das 1783 kurz vor den Pariser Symphonien komponierte Konzert steht am Beginn der letzten und wichtigsten Schaffensphase Haydns. Es ist ein durch und durch klassisches Stück: äußerst anspruchsvoll für die Ausführenden, leicht verständlich für die Zuhörer. Der immerhin viertelstündige Kopfsatz Allegro moderato folgt der auch für Symphonien maßgeblichen Sonatenform und bürgt allein deswegen für leichte Fasslichkeit. Umso kürzer ist das Adagio geraten, doch verblüfft es durch seine Anlage als Rondo. Gewöhnlich haben die Wiener Klassiker für langsame Sätze die Variations- oder dreiteilige Liedform gewählt. Das mit haarsträubenden Schwierigkeiten gespickte finale Allegro bietet dann den heiteren Kehraus, wie er gerade von Haydn erwartet wurde und wird, kennt aber auch Ausweichungen in dramatische, symphonische und irritierende harmonische Sphären.
Da Mozart und Beethoven dieses Feld nicht betreten haben, erlangte Haydns D-Dur-Cellokonzert einen singulären Nimbus. Im späten 19. Jahrhundert konnte nur Antonín Dvořáks Gattungsbeitrag eine vergleichbare Beliebtheit erringen, im 20. Jahrhundert erreichten Edward Elgar, Bohuslav Martinů, Sergej Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch dieselbe künstlerische Höhe.
Dmitri Schostakowitschs Siebte Symphonie
Anders als Haydn lief Schostakowitsch nie Gefahr, für übertrieben humorvoll gehalten zu werden. Die Operette Moskau, Tscherjomuschki und die beiden Suiten für Jazzorchester gehören nicht gerade zu seinen genialsten Hervorbringungen, und die Suite für Varietéorchester glänzt nur durch ihren weltberühmten Walzer. Schostakowitsch ist – teils aufgrund seines Charakters, teils aufgrund der furchtbaren Lebensumstände – der Mann fürs Tragische, fürs pompöse Pathos, fürs abgrundtief Pessimistische. Sobald er sich freundlicher gibt, droht sein Witz unverzüglich in Sarkasmus umzuschlagen. Seine Musik ist bei aller Äußerlichkeit durchaus komplex und doppelbödig, was die Deutung der Werke erschwert und zugleich so anziehend macht. Man kann sie naiv nehmen, man kann sie aber auch als mehr oder weniger subtilen Protest verstehen.
Die Komposition der Leningrader Symphonie reicht bis in die Vorkriegszeit zurück. Der Beginn des eröffnenden Allegretto wurde häufig als Schilderung einer friedlichen sowjetischen Idylle interpretiert. Das ist allerdings nach Schostakowitschs Erfahrungen mit dem Regime anzuzweifeln. Er verlor viele Freunde durch den stalinistischen Terror der 1930er-Jahre und fürchtete selbst um sein Leben. Das Glück auf der Kolchose müsste jedenfalls anders klingen als das protzige und schräge erste Thema. Schon bald jedoch wagt sich ein sangliches zweites Motiv in idyllische Gefilde vor, die dann durch das berüchtigte Invasionsthema zerstört werden. In stumpfsinnigen, permanent gesteigerten Variationen und begleitet von Stuka-Sirenen marschiert es brutal vorwärts wie die deutschen Armeen nach dem Überfall. Indes, so einfach, wie es die roten Parteisoldaten gern gehabt hätten, liegen die Dinge nicht mit diesem gerade aufgrund seiner Primitivität recht eindrucksvollen Thema. Schostakowitsch verwendete einen sehr ähnlichen Gedanken bereits in seiner von der Zensur 1936 verbotenen Oper Lady Macbeth von Mzensk; er wollte seine Siebte Symphonie nicht als reines antifaschistisches Propagandastück betrachtet wissen, sondern als ein Requiem auf die Opfer von Gewaltherrschaft schlechthin. Logischerweise findet daher das Invasionsthema auf dem Höhepunkt der monotonen Entwicklung, wo ein Umschwung angedeutet und die Gegenwehr der Roten Armee dargestellt werden soll, fast ungebrochen seine Fortsetzung: Faschisten und Bolschewisten nehmen sich auch musikalisch nicht viel! Diese Affinität diente nach dem Krieg dazu, die Symphonie zu diskreditieren. Andrej Schdanow war nicht zufällig Chefankläger der Partei: Er erkannte instinktiv die Doppeldeutigkeit eines Werks, dass über weite Strecken blanken Sowjetkitsch vorführt, um ihn bloßzustellen. Schostakowitsch hatte, als er im belagerten Leningrad an der Siebten arbeitete, längst alle Illusionen über die Diktatur des Proletariats verloren.
Der zweite Satz akzentuiert diese Botschaft mit anderen Mitteln. Der Komponist selbst sprach von Humor, doch treffen Bezeichnungen wie Groteske oder Parodie den Ausdrucksgehalt dieses Moderato wohl besser. Die todtraurigen Melodien der beiden Außenteile haben nichts Idyllisches an sich, sie beschwören Erinnerungen an ein Glück, das es niemals gegeben hat. In der Mitte steht ein greller Militärwalzer, der unmöglich auf die deutsche Invasion zu beziehen ist. Das folgende Adagio, wie das Moderato noch im Leningrader Kessel entstanden, zeigt dieselbe dreiteilige Form. Den Rahmen bildet ein Glocken- und Orgelklänge evozierender Choral, also eine Reminiszenz an den sowjetischen Staatsfeind Nummer zwei, die Kirche. Das Trio streut wüste Zirkus-Szenen ein. Wer hier einen sarkastischen Angriff auf das Politbüro heraushört anstelle altrussischer Folklore, liegt gewiss nicht falsch. Erhebliche Probleme bereitete Schostakowitsch der Finalsatz. Es galt, den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg zu thematisieren, der aber zugleich die ungebremste Fortsetzung des stalinistischen Terrors bedeutete. Mit kolossalem Aufwand wird ein martialisches Gemälde entworfen, beginnend mit dem sich langsam formierenden Widerstand bis hin zum unaufhaltsamen Triumph. Eine barocke Sarabande erinnert an die erbrachten Opfer, die gefallenen Soldaten und ermordeten Zivilisten – allein in Leningrad kamen während der deutschen Belagerung eine Million Menschen ums Leben. Zollte Schostakowitsch diesem Grauen sein Tribut, indem er dessen Ende, also den Erfolg der Roten Armee verherrlichte? Das C-Dur der in immer neuen Aufschwüngen wabernden Schlussapotheose wurde jedenfalls von den ersten Hörern spontan so verstanden, und das nicht nur in der Sowjetunion. Aufführungen in London und New York 1942 erwiesen sich als wichtige Bausteine der ideologischen Kriegsführung. Die unmittelbare Wirkung des Werks überwand jeden künstlerischen Vorbehalt. Der Anti-Kommunist Igor Strawinsky pflegte im US-Exil jeden Sieg der russischen Waffenbrüder frenetisch zu feiern; er hörte sich sogar am Radio ergriffen die amerikanische Premiere der Leningrader an, obwohl er deren Autor in gleichem Maße ablehnte wie dieser ihn.
Schostakowitsch war 1941 nach einem Monat in der belagerten Stadt ausgeflogen worden. Er verbrachte die restlichen Kriegsjahre im südrussischen Samara, weit entfernt von der Front und auch außerhalb der ideologischen Schusslinie, die nach dem deutschen Überfall ohnehin nicht mehr besonders gefährlich war – Stalin hatte anderes zu tun, als sich um ästhetische Insubordination zu kümmern. Doch nach dem Krieg geriet Schostakowitsch sofort wieder ins Visier der Kontrollorgane. 1948 machte man ihm den Prozess. Das war kein Einzelschicksal, anderen Komponisten erging es genauso. Die Leningrader Symphonie ist auch kein Unikat, es entstand eine ganze Legion vergleichbarer Werke. Einige von ihnen gingen auf ähnliche Erfahrungen zurück, andere stellten eher propagandistische Versuche der Selbstrettung dar – oder beides. Den weitesten Verbreitungsgrad fand Aram Chatschaturjans beeindruckende Zweite, die so genannte Glocken-Symphonie von 1943. Zur gleichen Zeit schrieb Gawriil Popow seine Mutterland getaufte Zweite Symphonie. 1940 bereits hatte der aus Polen geflüchtete Mieczysław Weinberg seine Erste Symphonie komponiert. Weitere Beiträge zu diesem Genre lieferten Alexander Scherbatschow, Alexander Mossolow und Leonid Polowinkin. Auch Altmeister Nikolai Mjaskowski, als »Vater der sowjetischen Symphonik« verehrt, meldete sich mit gleich zwei Beiträgen zu Wort (Nr. 22 und Nr. 24). Diese Stücke wurden erst kürzlich wieder in Russland zur Diskussion gestellt. Der Westen nahm sie nie zur Kenntnis, wie auch Schostakowitschs Siebte lange Zeit unhörbar blieb. Die Berliner Philharmoniker bestritten im Dezember 1946 unter Sergiu Celibidache die deutsche Erstaufführung – danach verschwand die Leningrader für fast ein halbes Jahrhundert aus dem Repertoire des Orchesters.
Volker Tarnow