Ein operngeschichtlicher Glücksfall
Giuseppe Verdis und Arrigos Boitos Otello
Wohl kaum ein Brief dürfte Arrigio Boito so erfreut und erleichtert haben, wie jene Zeilen, die er im November 1884 von Giuseppe Verdi erhielt: »Es kommt mir unmöglich vor, aber es ist trotzdem wahr!!! Tatsächlich!!!! Ich bin bei der Arbeit und schreibe!! Ich schreibe … weil ich schreibe, ohne Ziel, ohne Besorgnisse, ohne an das Nachher zu denken … Sogar mit entschiedener Abneigung gegen das Nachher.«
Was Verdi – unter Einsatz von gleich neun Ausrufezeichen – verkündete, war nicht nur für die Außenwelt, sondern auch für das engste Umfeld des mittlerweile 71-jährigen Komponisten eine Überraschung. Seit der spektakulären Uraufführung von Aida 1871 hatte der berühmteste lebende Repräsentant der italienischen Oper keine Musik mehr für ein neues Bühnenwerk geschrieben. Finanziell bis an sein Lebensende abgesichert und von den Zwängen des Opernbetriebs ermüdet, lehnte er acht Jahre lang alle Vorschläge und Angebote kategorisch ab. Und auch als es Boito durch Vermittlung von Verdis umtriebigen Verleger, Giulio Ricordi, im Sommer 1879 gelang, den Komponisten für das Projekt einer Otello-Oper zu begeistern, ließ dieser keine Gelegenheit aus, um zu betonen, er wolle sich zu »absolut nichts verpflichten«. »Vom perfiden Jago wird vorläufig nicht gesprochen«, berichtet er ein Jahr nach Beginn der Zusammenarbeit einem engen Freund: »Boito hat mir das Buch geschrieben, ich habe es gekauft, aber ich habe nicht eine Note dazu geschrieben.« Und noch im April 1884, als ein bedeutender Teil des Librettos (teilweise bereits mehrfach) diskutiert und überarbeitet worden war und Verdi schon erste Skizzen angefertigt hatte, ließ er seinen Librettisten – nach einer Verstimmung – wissen: »Zuviel Zeit ist vergangen! […] Die Leute sollen mir nicht zu deutlich sagen müssen ›Genug‹!«
Doch Boito behielt kühlen Kopf und lies nicht locker. Statt auf die versteckten Drohungen einzugehen, schickte er einen Entwurf des »Credo des Jago« (Zweiter Akt), der Verdi begeisterte und vermutlich mit dazu beitrug, dass dieser ein halbes Jahr später seinem Librettisten endlich den Beginn der kompositorischen Arbeit verkündete. Im Oktober des darauffolgenden Jahres war das Werk vollständig entworfen. Am 1. November 1886 konnte Verdi die Vollendung der Partitur verkünden und am 5. Februar 1887 fand die umjubelte Uraufführung des Otello in der bis auf den letzten Platz gefüllten Mailänder Scala statt. Im Publikum saßen viele der einflussreichsten Opernintendanten und Musikkritiker Europas und im Orchestergraben spielte in der Cellogruppe der 19-jährige Arturo Toscanini, der schon bald zu einem der bedeutendsten Verdi-Dirigenten aufsteigen sollte. Über die Begeisterungsstürme, denen sich der Komponist nach Vorstellungsende ausgesetzt sah, berichtet eine amerikanische Premierenbesucherin: »Verdis Kutsche wurde von Menschen bis zum Hotel gezogen. […] bis fünf Uhr morgens konnte ich kein Auge zudrücken, weil die Menge immer noch ›Viva Verdi, viva Verdi!‹ sang und schrie.«
Bereits in den folgenden Monaten begann die internationale Verbreitung von Verdis erstaunlichem Alterswerk. Auf Rom, Venedig, Brescia und Parma folgten noch 1887 Budapest, Mexico City und St. Petersburg. 1888 wurde Otello u. a. in Hamburg, Wien, Prag, Amsterdam, New York, Buenos Aires und Konstantinopel gegeben. Und im Februar 1890 hatte schließlich auch das Berliner Publikum die Gelegenheit, das Werk am Königlichen Opernhaus unter den Linden zu erleben.
Im Banne Shakespeares
»Man entkommt seiner eigenen Bestimmung nicht«, bemerkte Boito lapidar, als ihm Verdi in dem eingangs zitierten Brief berichtete, er habe endlich mit dem Komponieren begonnen: »nach dem Gesetz der geistigen Verwandtschaft ist diese Tragödie Shakespeares für Sie vorbestimmt.« Tatsächlich fühlte sich Verdi zu den Werken des englischen Dramatikers, der – wie er einmal formulierte – »die menschliche Seele so scharf analysiert und so tief in sie eindringt«, zeitlebens besonders hingezogen. Getrieben vom Verlangen, dem Musiktheater durch »kühne Stoffe« eine »ganz neue Richtung zu geben«, schrieb der Italiener Mitte der 1840er-Jahre mit Macbeth seine erste Shakespeare-Oper. Bereits zuvor hatte er erwogen, King Lear auf die Opernbühne zu bringen. Ein Plan, den er über einen Zeitraum von 15 Jahren mit unterschiedlichen Librettisten verfolgte. Dass er das ehrgeizige Vorhaben 1858 schließlich aufgab, hing wesentlich mit der Schwierigkeit zusammen, die komplexe Handlungsstruktur des Doppeldramas zu einem schlüssigen Opernbuch umzuformen. In einem Brief an den Librettisten Antonio Somma bemerkte er dazu: »Das einzige, was mich immer davon abgehalten hat, Shakespeare-Stoffe öfter abzuhandeln, ist die Notwendigkeit gewesen, alle Augenblicke die Szene zu wechseln. […] Die Franzosen […] arrangieren ihre Dramen so, dass sie nur eine Szene für jeden Akt brauchen. Die Handlung rollt somit rasch ab, ohne Störungen […]. Ich sehe wohl ein, dass es beim Lear unmöglich wäre, nur eine Szene pro Akt zu machen, aber wenn Ihr einen Weg fändet, irgendeine wegzulassen, dann wäre das eine wunderschöne Sache.«
Was Somma und anderen bei Lear nicht gelang, meisterte Boito bei Otello auf bravouröse Weise. Mit untrüglichem dramaturgischen Gespür verfasste er ein Libretto, das die Originalvorlage den Erfordernissen des Musiktheaters und Verdis Kunst anpasst, ohne dass der shakespearesche Geist dabei abhandenkam. Zum einen verknappte Boito die Handlung, indem er nicht nur die Textmenge drastisch reduzierte, sondern auch den ersten Akt der fünfaktigen Tragödie, der deren in Venedig spielende Vorgeschichte exponiert, komplett strich. Zum anderen scheute er nicht davor zurück, auch in die szenische »Architektur« des Dramas einzugreifen. Gemäß dem Wunsch des Komponisten nach einem möglichst ununterbrochenen Verlauf des Geschehens, straffte er die Handlung und verstärkte zugleich die szenischen Kontraste. Jeder der verbliebenen vier Abschnitte des Eifersuchtsdramas hat einen einheitlichen Schauplatz und eine klar umrissene dramaturgische Funktion. Der erste Akt führt uns unvermittelt in eine stürmische Nacht vor das Kastell des Befehlshabers der venezianischen Flotte in Zypern. Er präsentiert die drei Protagonisten der Oper – Otello, Desdemona und Jago – und legt zugleich den Grundstein für die folgende Tragödie. Die beiden mittleren Akte spielen tagsüber in zwei verschiedenen Sälen des Kastells und schildern den schrittweisen Verfall der Titelfigur. Erst gelingt es Jago, Otellos Eifersucht zu wecken und diese durch sein infames Spiel kontinuierlich zu steigern. Dann schreitet die moralische Vergiftung des Helden weiter voran und sein Abgleiten in die Irrationalität wird auch öffentlich sichtbar. Nachdem der Entschluss gefasst ist, Desdemona aufgrund ihrer vermeintlichen Untreue zu töten, stößt er sie vor den Augen des venezianischen Gesandten in unbändiger Wut zu Boden. Der letzte Akt ist in der in der intimen Räumlichkeit von Desdemonas Schlafgemach angesiedelt, wo sich in nächtlicher Dunkelheit die unausweichliche Katastrophe ereignet: Otello erwürgt seine Ehefrau, erkennt seine Verblendung und tötet sich daraufhin selbst.
Otello oder Jago
Die Zusammenarbeit zwischen Verdi und Boito, aus der später auch noch Falstaff hervorgehen sollte, gilt zu Recht als operngeschichtlicher Glücksfall. Dokumentiert wird sie im Falle von Otello in knapp 50 Briefen, die der Komponist und sein um drei Jahrzehnte jüngerer Librettist zwischen 1879 und 1887 wechselten. Diese geben nicht nur einen faszinierenden Einblick in die Entstehungsgeschichte, den Arbeitsprozess sowie das nicht immer spannungsfreie Verhältnis der beiden Künstler, sondern erörtern auch zentrale dramaturgische Fragen. So schreibt Verdi zehn Monate vor dem endgültigen Abschluss der Komposition an Boito: »Man spricht und man schreibt mir immer von Jago!!! Ich habe eine gute Antwort. ›Otello, und nicht Jago, ist noch nicht fertig!!‹ […] – Er ist zwar (das stimmt) der Dämon, der alles bewegt. Aber Otello ist es, der handelt: Er liebt, er ist eifersüchtig, und er bringt sich um. Mir selbst würde es wie Heuchelei vorkommen, die Oper nicht Otello zu nennen.«
Die Kontroverse um den treffenden Operntitel, bei der der Komponist und sein Librettist zeitweilig unterschiedliche Positionen vertraten, lenkt den Blick auf das spannungsreiche Verhältnis der beiden männlichen Hauptfiguren. Einig waren sich Verdi und Boito in der Bestimmung Jagos als Strippenzieher, Urheber und Regisseur des Dramas. Zugleich legten beide Wert darauf, ihn nicht als »Dämon in Menschengestalt« zu verstehen und darzustellen, sondern als – wie Boito formuliert – »Künstler der Hinterlist«. Jago vermag sein »Erscheinungsbild« je nach Situation zu verändern und seinen Zynismus und seine Ruchlosigkeit in Gesellschaft hinter seiner (auch äußerlichen) Anziehungskraft zu verstecken: Er ist »ungezwungen und jovial mit Cassio, mit Rodrigo spöttelnd. Bei Otello erscheint er gutherzig, respektvoll und ergeben, unterwürfig, bei Emilia brutal und drohend«. Sein wahres Gesicht zeigt er lediglich in jenem nihilistischen Credo zu Beginn des zweiten Akts (»Credo in un Dio crudel …« (Ich glaube an einen grausamen Gott …), dessen Text Verdi zu den wohl gewagtesten Klängen in seinem gesamten Œuvre inspirierte.
Während die dramatische Attraktivität der Gestalt des Jago in ihrer Vielgesichtigkeit und manipulativen Kraft liegt, ist Otello – wie Verdi in dem zitierten Brief betont – die Figur, die handelt und zugleich eine tiefgreifende Verwandlung erfährt. Beeindruckend ist dabei die Fallhöhe der Entwicklung. Zu Beginn der Oper erscheint der General der Republik Venedig als kraftvoller Held, vernunftgeleiteter Befehlshaber und großer Liebender. Von rasender Eifersucht erfasst, durchläuft er in den folgenden Akten einen Prozess des Wirklichkeitsverlusts und der Selbstentfremdung: »Er war bei Verstand, nun redet er irre, er war stark, nun ist er zerbrochen, er war rechtsbewusst und redlich, nun begeht er Verbrechen.« (Boito) Diesen enormen Entwicklungsprozess, den Verdi auf geniale Weise musikalisch in Szene setzt, und die damit verbundenen Affektwechsel stimmlich und schauspielerisch zu meistern, gehört zu den großen Herausforderungen der Partie.
Von kaum zu überbietender dramatischer Kraft und interpretatorischer Schwierigkeit ist bereits der berühmte erste Auftritt des Titelhelden. Noch bevor der Sturm abgeebbt ist, mit dem die Oper ebenso überraschend wie wirkungsvoll beginnt, erscheint Otello, um in strahlendem E-Dur den Sieg über die Türken zu verkünden. Die »Gesangsphrase«, die Verdi gemäß seinem ästhetischen Leitsatz »brevità e fuocco« (Kürze und Prägnanz) in der Endphase der kompositorischen Arbeit nochmals verkürzte, liegt in problematischer Lage und erfordert vom Sänger eine makellose Technik und enorme Durchschlagkraft.
Entsetzen statt Verklärung
Kein anderer italienischer Opernkomponist des 19. Jahrhunderts hat sich in seinen Bühnenwerken so nachdrücklich und schonungslos mit dem Tod auseinandergesetzt wie Verdi. »Die Oper muss [das Publikum] zum Weinen, zum Entsetzen, zum Sterben durch den Gesang bringen«, erklärte er bereits zu Beginn seiner Karriere. Im vierten Akt von Otello ist ihm dies auf kaum zu überbietende Weise gelungen. Eine entscheidende Rolle übernimmt dabei das Orchester. So beginnt die den Holzbläsern anvertraute Einleitung des Akts mit einer schwermütigen Weise des Englischhorns. Diese versinnbildlicht Desdemonas Schmerz, Vereinsamung und Hoffnungslosigkeit. Darüber hinaus nimmt sie die Melodie jenes todtraurigen »Lieds von der Weide« (La canzon del salice) vorweg, das Desdemona einst von der Magd ihrer Mutter hörte und nach einem kurzen Dialog mit Emilia singt. Auch in diesem Fall nahm Verdi im Laufe des Schaffensprozesses tiefgreifende Veränderungen vor und schuf eine Gesangspartie, deren Ausführung höchste Ansprüche stellt. In einem Brief an Franco Faccio, den Dirigenten der Uraufführung, bemerkt der Komponist, die Sängerin »sollte, wie die Allerheiligste Dreifaltigkeit, mit drei Stimmen singen: mit einer für Desdemona, einer anderen für Barbara (die Magd) und einer dritten für das ›Salce, salce, salce‹.«
Lauscht man den melancholischen Klängen des Englischhorns zu Beginn des vierten Akts, liegt es nahe, an die traurige Hirtenweise zu denken, mit der jenes Instrument den drittens Aufzugs von Wagners Tristan und Isolde eröffnet. Ob es sich tatsächlich um eine bewusste Reminiszenz an Verdis deutschen Antipoden handelt, bleibt spekulativ. Interessant ist der Vergleich zwischen beiden Werken jedoch, weil er den Blick für die grundsätzlichen Unterschiede schärft. Wagner gestaltet Isoldes Tod als Prozess der Erlösung und Verklärung, der die ersehnte Vereinigung mit Tristan bringt. Verdi hingegen unterstreicht mit musikalischen Mitteln die in der literarischen Vorlage vorgezeichnete Unmöglichkeit der »Versöhnung«. Zwar greift Otello unmittelbar vor seinem Tod nochmals »mit halboffener, verschleierter Stimme« jenes Kuss-Motiv (»Un bacio… un bacio ancora…«) auf, das auf dem Höhepunkt des großen Liebesduetts des ersten Akts erklingt. Doch der Abbruch vor dem Erreichen des Schlusstons und die anschließenden düsteren Dur-Akkorde in tiefst möglicher Instrumentallage bringen unmissverständlich zum Ausdruck, dass der Tod dem gefallenen Helden keine Erlösung bringt, sondern seinen Niedergang endgültig besiegelt.
Tobias Bleek
Getrieben vom Verlangen, dem Musiktheater durch »kühne Stoffe« eine »ganz neue Richtung zu geben«, schrieb Verdi Mitte der 1840er-Jahre mit Macbeth seine erste Shakespeare-Oper.