Das Ich und Nicht-Ich der Liebe
Vokale Kammermusik von Robert Schumann, Ryan Wigglesworth und Leoš Janáček
»Geschwärmt habʼ ich in diesen Gedichten« – Robert Schumanns Liederkreis op. 39
Wenn in Franz Schuberts Liederzyklus Winterreise das lyrische Ich im ersten Lied beginnt –»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus…« –, dann ist dies allem Anschein nach dasselbe lyrische Ich, das den Raben begegnet, sich träumend an den Lindenbaum zurückerinnert, die Nebensonnen schaut und schlussendlich dem Leiermann folgt: »…soll ich mit dir geh’n…«. So seelenwund und disparat das Ich der Winterreise in sich sein mag, es ist ein Kosmos: das Ich der verlorenen Liebe und der verlorenen Welt, mithin das romantische Ich. In sich zerrissen, ist es gleichwohl in einen Kokon eingesponnen, den es vom ersten bis zum letzten Lied in großer Mannigfaltigkeit ausbuchstabiert. Wie anders erscheint das Ich in Schumanns Liederkreis! Ist es noch ein einziges? Sind es gleich mehrere? Vagabundieren die Lieder nicht vielmehr zwischen lyrischem Ich, romantischem Allgemein-Ich, autobiografischem Ich und – womöglich – adressiertem Du?
Man könnte einwenden, dass die Textgrundlagen beider Liederzyklen nicht vergleichbar seien: Wilhelm Müllers Gedichte waren bereits als zusammenhängende Einheit – mit einem zentralen lyrischen Ich – konzipiert. Als Robert Schumann hingegen die Gedichte Joseph von Eichendorffs für seinen Liederkreis op. 39 zusammenstellte, griff er weder auf eine bereits vom Dichter als narrative Einheit konzipierte Textfolge zurück, noch schwebte ihm ein (wie auch immer geschlossener) Handlungskreis vor, vergleichbar etwa dem ebenfalls 1840 vertonten Liederzyklus Frauenliebe und Leben op. 42. Auffällig auch, dass der Liederkreis dennoch einen besonders geschlossenen Eindruck macht, er gerade von einer homogenen Klangsignatur geprägt, von einem »einmaligen, gleichermaßen diskreten wie intensiven Ton« durchzogen ist, wie der Musikologe Hansjörg Ewert schreibt. Wie aber passt eine solch hörbare Geschlossenheit mit der Beobachtung zusammen, dass verschiedene Ichs sich abwechseln?
Eine Antwort auf diese Frage gibt das Lied als Medium selbst. Lieder zu schaffen war für Robert Schumann immer auch Kommunikation: zwischen Text und Musik, zwischen sprechen und hören, zwischen schreiben und lesen, zwischen komponieren und aufführen, vor allem und gerade auch im »Liederjahr« 1840 zwischen ihm und seiner Verlobten Clara Wieck. Immer wieder erfüllen Lieder als Medium des vertrauten Austauschs zwischen den beiden eine wichtige Funktion: beide komponieren und motivieren sich dazu, senden sich die Lieder, spielen sie, sich an vergangene Begegnungen erinnernd und von künftigen träumend: »Hier als schüchterne Belohnung für Deine zwei letzten Briefe etwas. Die Lieder…« – »Denkst Du denn etwa, weil ich so viel componire, kannst Du müßig sein. Machʼ doch ein Lied einmal! Hast Du angefangen, so kannst Du nicht wieder los. Es ist gar zu verführerisch.« – »…willst Du mir denn nicht ein kleines Concert bereiten, ganz im Geheimen für Deinen Bräutigam? Ich möchte gern hören, die B-Dur-Sonate (die große), aber ganz, dann ein Lied von mir, das Du mir spielst und singst (auf deutlichen Text sehʼ ich am meisten)…« Die Briefe aus dem Jahr 1840 sind voll von Gesten der Lied-Kommunikation.
Auch im Entstehungsprozess des Liederkreises op. 39 lässt sich dies nachvollziehen: Die Auswahl der eichendorffschen Gedichte war nicht nur eine ästhetische Entscheidung über einen gedruckten Text, vielmehr vertonte Schumann sie anhand der Abschriften, die seine Braut Clara Wieck für ihn anfertigte. In ihrer Schrift habe er sie gelesen und in Musik gesetzt: »Geschwärmt habʼ ich in diesen Gedichten – und nun auch Deine Schrift macht’s«, bekannte er ihr am 22. Mai 1840. Im Lesen der Handschrift der geliebten Frau fand Schumann einen besonderen Zugang zu den Versen Eichendorffs. Zudem sind ihre Stimme und ihr gesangliches Klavierspiel im Zyklus präsent. Er hatte sie Lieder singen hören und Clara spielte sich seine Lieder vor, wenn der Trennungsschmerz überbrückt werden musste. Ist es da verwunderlich, wenn sich auch ein weibliches lyrisches Ich im Zyklus verbirgt? Im Lied Die Stille (Nr. 4) etwa heißt es »Ach, wüsst es nur einer, nur einer, kein Mensch es sonst wissen solltʼ«, und auffallend eng werden hier Klavier- und Gesangspartie geführt, als fänden sich (Clara Wiecks) Singen und ihre Stimme als Pianistin in eins zusammen. Ein eher männliches Pendant ist im siebten Lied (Auf einer Burg) auszumachen: Der Beobachter verweilt alleine oben und schaut einsam ins Tal, während die »schöne Braut […] weinet.«
Im folgenden Lied ist es dann deutlicher: Ein Mann besingt im Irgendwo (»ich weiß nicht, wo ich bin«) den Trennungsschmerz. Doch wessen Stimme hören wir im zwölften Lied? »Sie ist deine, sie ist dein!«, verkünden die Nachtigallen, und es könnte als Liebesgeständnis wie als Liebesnachricht aufgefasst werden – eine Symbiose aus Ich und Du, die hier denk- und hörbar ist, ebenso wie in der Mondnacht, in der die Seele die Spannweite zwischen Himmel und Erde durchmisst, auch hier ein Bild des Allumfassens. Dass in einem Wechselspiel zwischen Ich, Du und Wir dennoch ein derart gemeinsamer Ton entsteht, gewährleistet Schumann durch die Komposition, die auf mannigfache Weise diese Grundidee aufgreift, Trennendes und Verbindendes zusammenführt, Gegensätze ausstellt und ihre Symbiose musikalisch feiert. In der Mondnacht, im Flug der Seele (»flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus«), etwa schwingt die Stimme über dem ruhig pulsierenden Klavierakkorden zunächst in die Höhe, um dann in gemessenen, aber stetig fallenden Schritten die Oktave zu durchschreiten.
Ernstes Spiel mit Klang und Nachklang – Ryan Wigglesworths Echo and Narcissus
Lied als Kommunikation zwischen den Liebenden Clara Wieck und Robert Schumann zeitigt im Liederkreis ein changierendes lyrisches Ich, das im Ich – Du – Wir zueinander findet. Anders stellt sich die Frage in der ovidschen Geschichte von Echo und Narziss: Die Liebe begegnet ihrem Gegenüber nicht im Du, sondern im (Nicht-)Ich. Die Nymphe Echo und der Jüngling Narziss finden nicht zueinander, Schuld daran ist ihre misslingende Kommunikation: Echo kann ihre Stimme nicht mehr selbst erheben, sondern nur noch wiederholen, was vor ihr gesprochen wurde – Narziss nimmt im selbstverliebten und damit auschließenden Blick das Ich des Gegenübers, die dargebotene Liebe Echos nicht wahr, sondern nur sich selbst. »So wie Narziss immer das andere sucht, aber nur sich selbst findet, so sucht Echo eigentlich sich selbst, ist aber stets auf das andere verwiesen.« (Antje Wessels). Vor Schmerz vergeht Echo, nur ihre Stimme bleibt (»vox manet«). Es ist der Schall, welcher der Nymphe Ewigkeit über den Tod hinaus verleiht (»sonus est, qui vivit in illa«). Unvermeidlich scheint, dass gerade diese Metamorphose des Ovid, in der das vergängliche Medium Klang zum Signum für Ewigkeit wird, Musiker zu allen Zeiten inspiriert hat. Auch der 1979 geborene englische Komponist und Dirigent Ryan Wigglesworth nahm dieses Sujet in der Nachdichtung von Ted Hughes zum Ausgangspunkt seiner 2013/2014 entstandenen und am 15. Juni 2014 uraufgeführten Kantate Echo and Narcissus. Wigglesworth war fasziniert von der Frage des (Nach)Klangs, aber auch von der Raumdisposition, die der Echo-Geschichte eigen ist: Das natürliche Echo bedarf eines besonderen Resonanzraums, und wesentlich für dieses akustische Phänomen ist die Entfernung, welche die Re-Sonanz ermöglicht. Liebe als metaphysischer Resonanzraum trifft hier auf geografische Resonanzräume, gefasst im Bild der gelingend-misslingenden Kommunikation, gefasst auch im Bild zweier Selbst, deren eines des Gegenübers essenziell bedarf (Echo) und deren anderes nur sich selbst im Gegenüber sieht (Narziss).
Die Komposition Ryan Wigglesworths geht auf dieses Spiel mit Resonanzräumen, auf Klang und Nachklang in besonderem Maße ein: Schon bei der ersten Begegnung zwischen Echo und Narziss wird ein musikalisches Setting etabliert, das den Wirkungsraum Echos bestimmt: das Nachhallen. Obwohl Narziss noch nicht gesprochen hat, »schwingt« Echos Echo bereits: »Echo saw him« – und in eng versetzten, imitatorischen Einsätzen wiederholen die Echo-Stimmen den Moment der ersten Wahrnehmung. Mithin ist es zunächst nicht Narzissʼ Stimme, die Echo echoend wiederholen könnte, sondern seine schiere Präsenz lässt sie in Liebe schwingen: »Echo saw Narcissus. She was in love.« Doch wenig später beginnt auch das klingende Echo. Auf Narzissʼ »I’m here« antworten die drei Echostimmen in mehrfacher echo-hafter Verschachtelung, und durch die räumliche Distanz (die drei Frauenstimmen sind off-stage platziert) gewinnt der folgende, ineinander verschlungene Dialog eine klanglich-räumliche Dimension: »Come, come, come, co…« / »Stay there, stay there…« / »Let’s meet half way.« Doch die Erwartung der Begegnung in Liebe wird jäh unterbrochen: »I would sooner be dead than let you touch me.« Mit diesem Aufschrei von Narziss beginnt der Konflikt. Denn Echo kann nur die letzten Worte »touch me« replizieren und, den Tod des Geliebten fürchtend, in den Wald flüchten. Da sie nicht mit eigener Stimme sprechen kann, verliert sie den Geliebten, ihr Nicht-Ich kann das Ich des Geliebten nicht erreichen. Wigglesworth übrigens entwarf für diese Idee des Nicht-Ichs von Echo eine musikalisch faszinierende Präsenz: er spreizt die Echo-Stimme in mehrere Frauenstimmen auf. Dafür, so Wigglesworth in einem Interview, griff er auf eine Vorlage zurück: Zwar habe er im Text von Ted Hughes sofort die ideale Vorlage für eine Vokalkomposition entdeckt, aber um die Frage des Genres und der Besetzung gerungen. Eine Aufführung von Leoš Janáčeks Zápisník zmizelého (Tagebuch eines Verschollenen) ließ Wigglesworth die Lösung finden: zwei Solostimmen und ein variabel positionierter Frauenchor mit wenigen (Einzel)Stimmen erschienen ihm als die optimale Lösung.
Identität als pluraler Resonanzraum – Leoš Janáčeks Zápisník zmizelého
Auch in Janáčeks Tagebuch eines Verschollenen steht – kaum verwunderlich – die Frage im Zentrum, was Liebe mit dem Ich macht: Der junge Bauernsohn begegnet einem Mädchen, das nicht zu seinem Lebensumfeld gehört. Dessen Identität als »Zigeunerin« steht diametral zu seiner Identität als Bauernsohn, Sesshaftigkeit gegen Nomadentum, gesellschaftliche Verantwortung für Haus und Hof gegen individuelles Glück, Sicherheit gegen das Wagnis des Unbekannten. Was aber, so fragen Text und Musik im janáčekschen Liederzyklus, geschieht mit dem liebenden Ich, wenn es sich auf das ihm fremde und doch begehrte Du zubewegt? Wird es zum »Verschollenen«, wie es der Titel des Zyklus suggeriert? Janáček selbst ging übrigens davon aus, dass der Text tatsächlich von einem »Verschollenen« stamme, denn die Zeitung Lidové noviny hatte ihn 1916 mit dem Hinweis »aus der Feder eines Autodidakten« abgedruckt. Inzwischen aber ist die Anonymität des Dichters aufgehoben: der Schriftsteller Ozef Kalda hatte die Verse kunstvoll-volkstümlich gesetzt.
Janáček entwarf im Tagebuch eines Verschollenen mehrere Resonanzräume, die nebeneinander bestehen, aufeinander Einfluss gewinnen und sich zu einer Gesamtheit fügen: Aus Gegensätzen wird aber – für Janáček typisch – nicht eine Einheit geformt, sondern eine Vielheit: Identität als pluraler Resonanzraum, der in diesem Liederzyklus durch die unbedingte Liebe zum Anderen entsteht. Eine seiner Flächen präsentiert etwa das 13. »Lied«, das im Text ausschließlich aus Gedankenstrichen besteht und dessen Wortlosigkeit Janáček in reinen Klaviersatz umsetzt. Einen anderen entfaltet der Frauenchor, der – sirenenähnlich – die Verlockung der fremden Frau unterstreicht, und noch ein weiterer wird zum Ort für das Eigene, das nur noch in der Erinnerung existieren wird – im Abschied von der Heimat, im Verlassen des alten Ichs.
Janáčeks kompositorische Antwort auf die Frage, was mit dem liebenden Ich passiert, wenn es sich auf das ihm fremde Du zubewegt, verrät einen durch und durch modernen Standpunkt: Dem liebenden Subjekt gelingt es nicht, die antagonistischen Welten von Tradition und Individualität zu vereinen. Auch ein verschlungenes Wir, wie in Schumanns Liederkreis op. 39 gibt es für Janáček nicht mehr. Vielmehr ist es ein vielfaches Ich, das sich durch und in der Liebe aus vielen Facetten zusammensetzt: Aus der Heimat die als Erinnerungsort Teil seiner Identität bleibt, aus der Liebe zu seiner jungen Braut, die er – wie im Lied Nr. 20 – vibrierend erlebt, aber auch aus der Unruhe, die immer wieder, bis hin zum letzten Lied im Klavierpart, präsent bleibt.
Melanie Unseld