»Wo ist man daheim?«
Ein Mozart-Konzert
Die Ouvertüre: Mozart kehrt nach Salzburg zurück
»Ich versichere sie«, schrieb Mozart seinem Vater aus Paris, »ohne reisen | wenigstens leüte von künsten und wissenschaften | ist man wohl ein armseeliges geschöpf!« Und in diesem leicht belehrenden, leicht theatralischen Ton ging es fort: »Ein Mensch von mittelmässigen Talent bleibt immer mittelmässig, er mag reisen oder nicht – aber ein Mensch von superieuren Talent | welches ich mir selbst, ohne gottlos zu seyn, nicht absprechen kan | wird – schlecht, wenn er immer in den nemlichen ort bleibt.« Zumal wenn der nämliche Ort Salzburg hieß. Aber schließlich musste Wolfgang Amadé Mozart doch in seine Heimatstadt zurückkehren, im Januar 1779, unglücklich und widerwillig, wie geschlagen nach dem Scheitern aller Hoffnungen und Bewerbungen auf der großen Paris-Reise. Als neuer Hoforganist an alter Wirkungsstätte wurde er vom Salzburger Fürsterzbischof in Gnaden wieder eingestellt, immerhin mit einer Gehaltsverdreifachung – nicht gerade ein Zeichen der Geringschätzung.
Zu Mozarts Pflichten als Organist gehörte es, dass er »den Hof, und die Kirche nach Möglichkeit mit neüen von Ihme verfertigten Kompositionen bedienne«. Wenige Tage nachdem er für den Ostersonntag im Salzburger Dom die Missa C-Dur KV 317 geschrieben hatte (die legendenumrankte Krönungsmesse), »bediente« Mozart den Hof im April 1779 mit der G-Dur-Symphonie KV 318, einem Werk, das er ohne Titel, ohne Gattungsbezeichnung ließ. Von fremder Hand ist auf dem Autograf »Sinfonia« vermerkt; später wurde sie wahlweise auch als »Ouvertüre« oder »Ouvertüre im italienischen Stil« publiziert, nicht von ungefähr, denn das dreiteilige Stück könnte umstandslos auf dem Theater gespielt werden. Es könnte nicht nur – es konnte, und zwar mit Mozarts ausdrücklicher Zustimmung, 1785 bei einer Wiener Einstudierung der Opera buffa La villanella rapita des Italieners Francesco Bianchi, zu der Mozart obendrein je ein neues Terzett und Quartett beigesteuert hatte. Solche »Einlagen« waren seinerzeit gang und gäbe, die Bühnenpraxis siegte über die Integrität des Werks, das grundsätzlich ein »Gelegenheitswerk« blieb, ein work in progress.
Für eine Akademie in Wien hatte Mozart zuvor bereits die Partitur der »Sinfonia« um zwei Trompeten ergänzt. Im Akkord mit den vier Hörnern scheint der Bläserapparat fast schon überdimensioniert und akustisch hochgerüstet. Aber Mozart hatte auf seiner Reise am Mannheimer Hof des kunstsinnigen Kurfürsten Carl Theodor und im Pariser Concert spirituel erlebt, wie sich die traditionellen »Kapellen« in moderne Orchester verwandelten und die vormaligen Ensembles der »Cammermusici« zu einem brillanten, in großen Sälen auftrumpfenden Klangkörper trainiert wurden, spezialisiert auf Effekte, die ganz aus dem Timing, der Präzision, der Besetzungsstärke, der geballten instrumentalen Energie des vielköpfigen Orchesters resultierten. Mozarts G-Dur-Symphonie KV 318 ist überreich an solchen Tuttischlägen, auffahrenden und niedersausenden Skalen, »Schleifern«, Crescendo-»Walzen«, wirbelnden Tremoli, Trommelbässen, Pedaltönen, fliegenden Wechseln, dynamischen Kontrasten, an Beispielen einer zeitgenössischen Orchesterkultur, die eher demonstrativ als diskursiv ausgerichtet war. Aber unter Mozarts Händen gewinnt diese Art von Musik eine fiebrige Spannung, eine vibrierende Nervosität, einen expansiven Drang ins Weite, ins Offene, dem jeder Raum und jeder Rahmen zu eng wurde. Jedenfalls der Raum zwischen Salzburger Dom und erzbischöflicher Residenz und der Rahmen der (nach Mozarts hitzigem Urteil) »groben, lumpenhaften und liederlichen Hof-Musique« im verhassten Salzburg.
Mozart folgt mit seiner G-Dur-Symphonie der Form einer italienischen Opernsinfonia – zwei rasche Sätze umschließen einen Binnenteil von moderatem Tempo – und schreibt doch genau genommen nur einen einzigen Satz, der unmittelbar vor der Reprise ziemlich abrupt von einem lyrischen Andante unterbrochen und nach dessen Ende einfach fortgesetzt wird. Nicht ganz einfach allerdings, da Mozart die Reihenfolge der »Themen« umkehrt und damit der überwölbenden Bogenform (Allegro spiritoso – Andante – Primo Tempo) eine leicht verschobene Symmetrie einprägt: Die Symphonie oder Sinfonia oder Ouvertüre endet, wie sie beginnt, sie spiegelt sich in sich selbst.
Sanfte und feurige Liebhaber: Mozart in der Unterwelt
»Wo ist man daheim? Wo man geboren wurde oder wo man zu sterben wünscht?«, fragt Carl Zuckmayer am Beginn seiner Lebenserinnerungen. Ob Mozart in Wien zu sterben wünschte, wäre eine ziemlich hypothetische Überlegung für einen Mann von Mitte Dreißig. Zweifellos aber wollte er dort leben, in der habsburgischen Metropole: »Für mein Metier der beste ort von der Welt«, wie Mozart überzeugt war, nachdem er 1781 den Schritt in die Unabhängigkeit von Vater und Fürst gewagt hatte, in die Existenz eines »freien Künstlers«: den Umzug nach Wien. Salzburg hingegen, wo er geboren wurde, sich aber nicht daheim fühlte, konnte er zuletzt kaum noch ertragen: »Kein ort für mein Talent!« Und warum? »Erstens sind die leüte von der Musick in keinen ansehen, und zweytens hört man nichts; es ist kein Theater da, keine opera!« Doch Salzburg holte ihn immer wieder ein, rief sich in Erinnerung, mit manch vergiftetem Gruß aus der Vergangenheit. Als Mozart 1783 die große Tenorarie KV 431 schuf, nicht für das Theater, sondern (vermutlich) für die weihnachtlichen Wohltätigkeitskonzerte der Wiener Tonkünstler-Sozietät, stammte der vertonte Text aus der Oper L’isola capricciosa des Römers Giacomo Rust, und der war just im Jahr 1777 als Hofkapellmeister in den Dienst des Salzburger Fürsterzbischofs berufen worden, wenige Wochen vor Mozarts Abreise gen Frankreich. Besagter Rust blieb freilich nur für kurze Zeit in Salzburg, weil der Aufenthalt seiner mediterranen Natur zuwiderlief und seine fragile Gesundheit untergrub: das Klima! das Wetter! der Regen!
Rezitativ und Arie »Misero! O sogno« – »Aura, che intorno spiri« KV 431
Ein Lamento nicht bloß meteorologischer, nein, geradezu metaphysischer Art hatte Mozart in Töne zu bannen, als er Rezitativ und Arie »Misero! O sogno« – »Aura, che intorno spiri« KV 431 (425b) komponierte. Aus dem Zusammenhang des Librettos gerissen, provoziert der Text die Fantasie der Hörer (und Musikhistoriker), denn wo befindet sich unser beklagenswerter Held: als Gefangener in einem Verlies, von den Furien gejagt auf einer wüsten Insel – oder gar im Hades? Dann handelte es sich um eine Ombra-Szene in der Tradition der barocken Opera seria, um einen Abstieg zu den »Schatten« der Unterwelt, für den die älteren Komponisten, nicht anders als Mozart in seiner Arie, die Tonart Es-Dur bevorzugten (»hat viel pathetisches an sich; will mit nichts als ernsthafften und dabey plaintiven [klagenden] Sachen gerne zu thun haben«, hieß es in der Musikästhetik des Barock). Mozart steigert den Ernst ins Heroische, er facht das Pathos in unaufhaltsamen Temposchüben an und reflektiert die »plaintive« Seelennot im ausdrucksvollen Spiel der Bläser. Er erdachte diese Arie für den Tenor Valentin Adamberger, seinen ersten Belmonte in der Entführung aus dem Serail, einen internationalen Opernstar, der auch unter der italianisierten Namensvariante Valentino Adamonti auftrat. Ohnehin hatte er die »italiänische Schule des Gesanges« absolviert, »durch die man doch ganz allein erst zum wahren Sänger gebildet wird«, wie der gefeierte Tenor befand, der auf der Bühne vor allem die »jungen, sanften und feurigen Liebhaber« zu verkörpern wusste.
Arie »Per questa bella mano« KV 612
Einen solchen sollte man auch hinter der Arie »Per questa bella mano« KV 612 vermuten, aber diese ebenso sanften wie feurigen Liebesschwüre werden von einem Bassisten gesungen, aus tiefstem Herzen und in tiefsten Tönen. Mozart reizt die Grenzen des Stimmumfangs aus, ein Effekt, der für das Publikum komischer ist als für den Sänger – und nicht das einzige Beispiel, dass sich Mozart einen Spaß erlaubt auf Kosten seiner Interpreten. Überdies stellt er dem Sing- noch einen Streichbass zur Seite, zum edlen Wettstreit der profundesten Virtuosen. Möglicherweise war diese Doppelbassarie als »Einlage« zu einer Opera buffa bestimmt. Jedenfalls komponierte Mozart sie im März 1791 für Franz Xaver Gerl, einen österreichischen Sänger, Schauspieler und Gelegenheitskomponisten, der Emanuel Schikaneders Ensemble im Freihaustheater auf der Wieden angehörte und wenige Monate später den Sarastro in der Zauberflöte kreierte. Und auch er lenkte die Gedanken wieder zurück nach Salzburg: als Schüler Leopold Mozarts hatte Franz Xaver Gerl bei den fürsterzbischöflichen Sängerknaben mitgesungen, das dortige Gymnasium und die Universität besucht. Dort, wo Mozart geboren wurde, aber gewiss nicht zu sterben wünschte.
Die Unvollendete: Mozarts Abschied aus Salzburg
Im Wiener Stephansdom heiratete Mozart am 4. August 1782 Constanze Weber, die Tochter des drei Jahre zuvor verstorbenen Bassisten, Notenkopisten und Souffleurs Fridolin Weber: ein Schritt, den ihm sein Vater und einige seiner Biografen nie verziehen haben. So fehlte es nicht an maliziösen Kommentaren, die auf einen allerdings auffallenden Umstand hingewiesen haben: Nahezu alle Kompositionen, die Mozart seiner Frau Constanze zudachte, blieben fragmentarisch und unvollständig. Die Fugen, auf die sie eine Zeitlang ganz versessen war, fanden kaum je einen Abschluss; die Solfeggien KV 393, die Arie »In te spero, o sposo amato« KV 440 – Mozart ließ die unfertigen Manuskripte einfach liegen. Von einer »pour ma très chère Epouse« konzipierten Serie geplanter Violinsonaten beendete er nicht einmal die erste: Der letzte Satz bricht schon nach 20 Takten ab.
Über Mozarts Motive ist selbstverständlich ausgiebig spekuliert worden: Biografische Neugierde war dabei ebenso im Spiel wie moralisierendes Vorurteil. Wie auch immer – es passt zu der Regel dieser Fragmente für Constanze, dass die unvollendete c-Moll-Messe KV 427 (417a) an ein Versprechen geknüpft war, eine nicht näher bestimmbare Zusage, die Mozart vor der Ehe gegenüber seiner Braut aussprach. »Ich habe es in meinem herzen wirklich versprochen, und hoffe es auch wirklich zu halten«, beteuert Mozart seinem Vater in einem Brief vom 4. Januar 1783. »Meine frau war als ich es versprach, noch ledig – da ich aber fest entschlossen war sie bald nach ihrer genesung zu heyrathen, so konnte ich es leicht versprechen – zeit und umstände aber vereitelten unsere Reise, wie sie selbst wissen; – zum beweis aber der wirklichkeit meines versprechens kann die spart von der hälfte einer Messe dienen, welche noch in der besten hoffnung da liegt.«
Bestandteil des vorehelichen Gelöbnisses war außer der Messe offenbar auch eine Reise zum Vater, der die Heirat reserviert und skeptisch aufgenommen hatte. Mit Verzögerung trat das Ehepaar Mozart Ende Juli 1783 die Fahrt nach Salzburg an (Mozarts letzter Besuch in seiner Heimatstadt), und im Gepäck verstaute es Teile der Partitur und Entwürfe zur c-Moll-Messe, die dann – höchstwahrscheinlich – am Vortag ihrer Rückreise, am 26. Oktober 1783, uraufgeführt wurde: in der Kirche des Benediktinerstiftes St. Peter, die nicht dem Fürsterzbischof Colloredo unterstand, dem »hochmüthigen, eingebildeten Pfaffen«, aus dessen Diensten sich Mozart zwei Jahre zuvor endlich und endgültig befreit hatte. Die Wiedergabe am 26. Oktober wäre Mozart entgegengekommen, da an diesem Tag ein Heiligenfest (das Fest des heiligen Amandus, Bischof von Maastricht, des zweiten Patrons des Klosters) zelebriert wurde und deshalb das Credo der Messe entfallen konnte: Denn die Arbeit am Credo gelangte über das »Et incarnatus est« nicht hinaus, er hätte es andernfalls aus früheren Werken ergänzen müssen. Auch das Sanctus ist in der autografen Partitur nur lückenhaft verzeichnet, das Benedictus fehlt sogar völlig. Beide Teile sind in einer Abschrift aus mittlerweile verschollenen Stimmen der Salzburger Aufführung erhalten. Ein Agnus Dei hat Mozart für diese Messe nie geschrieben.
Das Ereignis sollte lokal- und musikgeschichtliche Berühmtheit erlangen: Die Kirchenmusik von St. Peter – etwa zehn Sänger (Knaben und Männer) und eine Schar von Instrumentalisten –, durch Freunde der Familie Mozart aus der Hofmusik verstärkt, probte und präsentierte die neue Messe. Constanze Mozart soll eine der Sopranpartien gesungen haben, ein Solfeggio zu ihrer Übung (KV 393 Nr. 2) enthält jedenfalls ein Frühstadium des »Christe eleison«; die endgültige Version in der Messe ist rücksichtsvoll um einen Ton gesenkt, und für die Aufführung selbst veranlasste Mozart, vermutlich erneut zu Constanzes Entlastung, eine Transposition der Messe insgesamt um einen Ganzton nach unten. So erklang sie zum ersten Mal, am letzten Tag, den er in Salzburg verbrachte. Mozart verabschiedete sich mit einer niemals, auch später in Wien nicht mehr vollendeten Messe, einer Musik, die in aller Metaphysik und Monumentalität das menschliche Maß sucht, die der anonymen Strenge der Liturgie eine zutiefst persönliche Weltsicht entgegenstellt. Einer Musik, die nicht niederschmettern und überwältigen, sondern trösten und erfreuen will: die ein menschenfreundliches Credo bekennt, zwanglos schön und arglos wahr.
Wolfgang Stähr